Als wäre nichts geschehen. Walther von Hollander

Als wäre nichts geschehen - Walther von Hollander


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sie aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Sie knallte auch die Flurtür ins Schloß. Sie raste die Treppen hinunter. Ilse beugte sich aus dem Fenster und rief ihr nach. Aber Gerda winkte ärgerlich ab, lief hinter der gerade anfahrenden Straßenbahn her, schwang sich hinauf und war verschwunden.

      Seufzend ging Ilse ins Sprechzimmer. Sie griff nach dem Silberrahmen auf dem Schreibtisch und starrte die Fotografie Conrads an. Wie hatte Conrad gesagt? Ein netter junger Mann. Ganz falsch. Ein hübscher, ein sehr hübscher junger Mann war er gewesen. Aber nett? Ilses Mutter, die Pastorin Kempe, die so gar nicht pastörlich und salbaderisch dachte, hatte ihr gleich gesagt: „Er ist reizend. Aber du wirst viel Schmerzen um ihn haben.“ Ilse hatte sie gefragt: „Würdest du ihn heiraten, Mutter?“ Und die Pastorin lachend: „Es ist ungehörig, eine solche Frage an eine fünfundsechzigjährige Pastorin zu richten. Denn wenn ich ihn liebte, müßte ich ihn doch anstandshalber heiraten.“ Hierauf Ilse wieder „Das heißt also ... da ich keine fünfundsechzigjährige Pastorin bin: ich soll ihn lieben und nicht heiraten.“ Die Pastorin Kempe schlug mit einer Zeitung nach ihr: „Wie kannst du deiner Mutter solche Ratschläge zumuten?“ Ja ... das war die listige Art der Pastorin Kempe, ein Urteil abzugeben und gleichzeitig das Urteil abzulehnen. Aus dem Kempischen ins Deutsche übertragen, hieß der Ratschlag natürlich: Tu dich mit ihm zusammen. Aber heirate nicht.

      Ich sollte zu Mutter fahren, dachte Ilse, aber dann wußte sie schon, was die Mutter sagen würde: „Du hast doch gewußt, wen du heiratetest, und nun bist du verheiratet.“ „Man muß also dann alles ertragen?“ fragte Ilse über die Ferne weg. Und sie hörte die Antwort der heiteren, alten Frau: „Alles nicht. Aber wenn man das Gute eines Menschen nimmt ... ach, wir haben alle unsere Schattenseiten.“

      Ilse stellte endlich das Bild Conrads wieder weg. Sie liebte wohl ihre Mutter. Aber sie stimmte mit ihren Lebensanschauungen, mit dieser hemmungslosen Liberalität, mit diesem „Alleszumbestenkehren“ nicht überein. Mit dem Versuch, in ihrer Ehe alles zum Besten zu kehren, war sie, Ilse, ja elend gescheitert. Wieviel hatte sie immer wieder übersehen! Diese Schar der verehrenden Patientinnen, diese ewig himmelnden Frauenzimmer, diese stundenlangen psychologischen Beratungen über erotische Sonderbarkeiten. Ekelhaft! Nicht einen Augenblick hatte sie sich Conrads sicher gefühlt, nicht einen Augenblick durfte sie in seiner Liebe ausruhen. Immer war diese Luft einer parfümierten Begehrlichkeit um ihn. „Das gehört nun mal zu meinem Beruf“, hatte Conrad gesagt, und Ilse hatte geantwortet: „Und warum hast du kaum männliche Patienten, wenn ich fragen darf?“ Und Conrad spöttisch: „Aus Gründen der natürlichen Anziehung der verschiedenen Geschlechter.“ Und Ilse: „Dir ist dein Beruf eben nicht ernst. Immer diese Spielerei. Bis das Malheur da ist.“

      Und dieses war’s, was sie am meisten erschreckte, was sie hinderte, die Hand auszustrecken, in dem Augenblick, in dem es nötig war: das Spielerische, das Spöttische, das ihr so viel Kummer gemacht, das ihre Ehe so unglücklich gemacht hatte, das war aus seinem Wesen nicht ausgelöscht. Nicht durch alles Unglück, nicht durch alle Trennung verbrannt und verbannt. Und er wußte nicht einmal, was er ihr angetan hatte. Es war doch nicht nur dieser anbeterische Brief von Emmy. Es war, daß er sie nie verstanden, nie geliebt hatte. Und jetzt war sie gut genug, ihn wieder aufzunehmen. Ihn gesund zu pflegen, und alles würde so weiter gehen wie früher. Seine Zerstreutheit, seine Lieblosigkeit, seine Unaufmerksamkeit ... und die Scharen der flüsternden Damen mit den feuchten, begehrlichen Augen in seinem Sprechzimmer. Und dann plötzlich seine überströmende Herzlichkeit, seine Nettigkeit, wenn es ihm gerade einfiel und recht war. Nein, danke. Sie war kein Gegenstand, den man sich nahm und wieder wegstellte. Sie brauchte gleichmäßige Wärme, Sicherheit. Schrecklich, sich vorzustellen, daß die vier Ehejahre sich noch einmal wiederholen sollten, ins Unendliche verlängert.

      Es klingelte. Sie mußte zur Tür gehen und öffnen. Es waren sicher schon die ersten Patienten der Nachmittagssprechstunde. Sie lief hinaus. Aber nein ... Gerda war zurückgekehrt. In ihrem gutgeschnittenen, schneeweißen Kittel öffnete sie und ließ die Patientin eintreten. Gerda, die zuverlässige. Ilse lief auf sie zu. Sie umarmte die Widerstrebende. Sie sagte zärtlich: „Ja — auf dich kann man sich verlassen. Du bist da, wenn man dich braucht.“ Gerda lächelte wehmütig: „Die Verläßlichen werden eigentlich nie gebraucht. Unverläßlich muß man sein ... wie ein Mann.“

      Beide lachten. „Weißt du“, sagte Ilse eifrig, „es war nur im ersten Augenblick so merkwürdig. Er war so verändert. Du weißt ja, im Grunde ist er begabt und bedeutend, und ich dachte: Wenn man geliebt hat, kann man vielleicht wieder lieben.“

      „Liebe ist eine unheilbare Krankheit“, seufzte Gerda, „aber es nützt nichts, zu lieben. Man muß geliebt werden.“

      Merkwürdig, dachte Ilse, das habe ich auch immer gedacht. Aber ich glaube, so wie Gerda das sagt, ist es nicht richtig. Sie kann nur nicht lieben, die Arme. Und ich? Ich könnte wohl lieben, aber ich kann auch nicht. Es hat keinen Sinn. Sie sagte aber: „Du hast recht, Gerda, man darf nicht sentimental sein. Sonst wird man untergebuttert, und, nicht wahr, du bleibt bei mir? Oder willst du mir auch untreu werden?“

      Gerda sah ihre Freundin mit einem kalten, prüfenden Blick an. Sie sagte: „Sei nicht leichtsinnig. Überlege dir genau, was du sagst. Versprich nicht, was du nicht halten kannst. Wenigstens unter Frauen muß Verläßlichkeit herrschen.“

      „Nein, nein“, wiederholte Ilse, „ich weiß schon, was ich sage: Du sollst bei mir bleiben, das andere ist vorbei. Endgültig vorbei.“

      „Tut es dir leid?“ fragte Gerda. Ilse starrte vor sich hin. Ja, es tat ihr leid. Es tat ihr weh. Aber es war ja nicht zu ändern. Und darum schüttelte sie den Kopf und sagte: „Nein — es tut mir nicht leid. Es war nur aufregend. Das verstehst du doch?“

      „Ich verstehe alles“, sagte Gerda, „außer wenn Frauen den Männern nachlaufen. Das gehört sich nicht.“

      Ilse wollte noch etwas erwidern. Aber es klingelte gerade wieder. Eine neue Patientin kam, wurde herzlich begrüßt und ins Wartezimmer geführt, und Gerda sagte mahnend: „Na, los ... tun wir was. Das ist immer das Beste.“

      4

      Begegnung nach dem Kino

      Hilla Hohmann und Conrad kamen aus einem Kino. Es war schon Anfang Oktober. Vollmond. In dem silbrigen Schein leuchteten gedämpft die Herbstblätter der Alleebäume, der Linden, Platanen und Kastanien, die viel zu groß geworden waren für die kleinen Vorgärten, zu groß für die Häuser, die hinter den breiten Stämmen verschwunden waren. „War das wieder ein Blödsinn!“ seufzte Conrad, „anderthalb Stunden Augen verdrehen, seufzen, Tränen ... um was? Um gar nichts.“ Hilla hakte ihn vertraulich unter. Sie sagte: „Wirklich saublöd. Aber immerhin ging’s um das wichtigste Thema dieser Welt: um das Mißverständnis!“

      „Für euch ist es vielleicht noch wichtig“, brummelte Conrad, „ich hab’s hinter mir.“

      „Sicherlich“, sagte Hilla geduldig, „aber wir anderen armen Erdenbürger müssen zuweilen daran erinnert werden, daß die Hälfte alles Leides aus dem Mißverständnis kommt.“

      Conrad sah sie von der Seite an. Was für ein schönes, gradliniges Profil! Was für eine kluge, faltenlose Stirn! Und die ruhig glänzenden, großen, braunen Augen, die gewohnt waren, alles Schöne dieser Welt aufzunehmen und selbst daß Häßliche in Harmonie zu verwandeln.

      „Ein Schmarren ist ein Schmarren“, sagte er heftig, „und man kann daraus nicht tiefsinnige Gedanken ziehen.“

      „Warum eigentlich nicht?“

      „Warum nicht, warum nicht“, wütete Conrad, „ich kann es jedenfalls nicht. Ich sehe einfach rot. Ein vernünftiges Wort von einem der beiden zur rechten Zeit gesprochen ... und die Sache wäre in Ordnung, der Film zu Ende.“

      „Hm“, resignierte Hilla. Es hatte also nichts genützt, daß sie Conrad in diesen langweiligen Film geschleppt hatte. Er sah nicht, daß er ihn etwas anging. Daß er dieses eine Wort sprechen sollte, sprechen mußte, um seinen „Film des Mißverständnisses“ zu beenden. Höchst merkwürdig, daß die Menschen aus ähnlichen Fällen nichts lernen können! Bei ihnen liegt „ja alles


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