Als wäre nichts geschehen. Walther von Hollander

Als wäre nichts geschehen - Walther von Hollander


Скачать книгу
drehen und an blödsinnigen Buden leuchten.

      Nanu, woher kam denn plötzlich dieser Rummelplatz? Ilse liebte doch keine Rummelplätze. Sie fand es sinnlos, nach Tonpfeifen und ausgeblasenen Eiern zu schießen, sich Luftballons in das Knopfloch zu stecken (die Dahlie vorhin — ja .. sie sah aus wie ein Luftballon, daher wohl die Erinnerung). Schön sinnlos war es, Schmalzkuchen zu essen, obwohl man satt war, bärtige Frauen zu bestaunen oder auf lahmen Pferden im Hippodrom zu reiten. Nein ... das konnte man alles mit Ilse nicht. Also, was sollte der Rummelplatz jetzt? Er lächelte. Er war drei-, vier-, fünfmal hintereinander auf dem Rummel gewesen. Wie hieß sie? Herta. Wie sah sie aus? Keine Ahnung. Doch. Sie hatte eine lustige Stupsnase. Sie hatte ein hübsches Zimmer mitten in der Stadt. Die Tür lag gleich gegenüber der Eingangstür. Man brauchte die Schuhe nicht auszuziehen. Man kam, den Ballon im Knopfloch, das erschossene Lebkuchenherz am Hals. Man lachte viel. Aber man mußte leise lachen. Kichern. Es war sehr albern. Und Ilse hatte nichts gemerkt. Gut so. Alles, was man vergißt, hatte keinen Sinn. Aber manchmal braucht der Mensch das Sinnlose, wenn er verarbeitet und vergrübelt ist, wenn er nicht mehr weiterkommt mit den Problemen seiner Kunst, seines Berufes, seines Lebens. Er stand auf, er gähnte. Er reckte sich. Er ging: vier Schritt lang, drei Schritt breit.

      Es klopfte. Vor der Tür stand Christina Keller, mit einer Teetasse in der Hand. Sie hatte — jetzt erkannte er es — eine weiße Flauschjacke an, sehr geschickt aus einer alten Decke geschneidert, ein knallrotes Halstuch, hübsch geknüpft. Dazu trug sie flaschengrüne Manchesterhosen. Christina sagte schüchtern: „Ich habe mir einen Tee gekocht. Ich dachte, vielleicht frieren Sie auch.“

      „Nein“, sagte Conrad, „mir ist eigentlich immer zu heiß.“

      Christina wandte sich zum Gehen: „Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte Sie nicht stören.“

      „Bei mir gibt’s nichts zu stören“, lachte Conrad, „ich habe nicht das geringste zu tun.“

      Christina stellte die Tasse auf das birkene Tischchen. „Dann ist es ja gut“, seufzte sie erleichtert, „Sie können den Tee schon trinken. Teekochen ist das einzige, was ich meisterhaft beherrsche.“ Und schon im Abgehen setzte sie hinzu: „Verdammt eng haben Sie es hier. Im Anfang habe ich nämlich auch hier gewohnt. Man kriegt manchmal Erstickungsanfälle.“

      „Abends marschiere ich meist da draußen auf und ab“, sagte Conrad, „aber nun ...“

      „Wenn Sie herummarschieren wollen, bitte. Ich schau’ nicht hin, und schwätzen brauchen Sie auch nicht. Ich habe zu tun.“

      Sie ging hinaus. Die Tür ließ sie offen. Conrad probierte den Tee. Er war goldbraun, nicht zu stark, nicht zu schwach. In der Tat vorzüglich. Er starrte durch die Tür in das leere, dämmerige Atelier. War das Ganze eine einladende Anknüpfung, ein koketter Annäherungsversuch? Kaum. Sie hatte kein bißchen kokettiert. Sie hatte ihn auf eine merkwürdig gerade, eigentlich unweibliche Art angeschaut. Sie wollte sicherlich nichts von ihm. Und er? Nun — er wollte wahrhaftig nichts von ihr — oder doch? Ihr Schicksal interessierte ihn. Wie überwindet eine hübsche, junge Frau derlei Erlebnisse?

      Er nahm die leere Teetasse und ging hinein. „Wenn Sie mir noch eine Tasse Tee schenken würden“, sagte Conrad ein bißchen verlegen. Sie goß ihm ein, ohne ihn anzusehen. Dabei sagte sie: „Es wäre mir wirklich angenehm, Sie liefen hier auf und ab, wie Sie es gewohnt sind. Sonst trau’ ich mich nie mehr abends hierher.“

      Conrad schob ihr eine Zigarette zu. Sie dankte und hielt ihm ihr Feuerzeug hin. Dann vertiefte sie sich in ihre Zeichnung, und Conrad begann seinen Marsch durchs Atelier. Er hatte die etwas zu weiten Filzbabuschen an, die ihm Hannes geschenkt hatte. Deshalb ging er lautlos. Aber elegant sah er wahrhaftig nicht aus mit seiner aufgekrempelten Hose und dem Herzstückchen-Jakett. Schweigend marschierte er fünf Minuten hin und her. Er kam sich albern vor. Ein Demonstrationsmarsch, dachte er. Nur, um zu beweisen, daß wir einander nicht stören. Aber sie stört mich. Ich kann nicht nachdenken. Oder ist es gut, daß ich nicht nachdenken kann? Doch: es ist sehr gut. Hillas Preisaufgabe über den Vollkommenheitswahn habe ich gelöst. Ilse hält sich für vollkommen, — ich weiß, daß ich nicht vollkommen bin. Ich könnte deshalb verzeihen. Ilse kann es nicht. Punkt. Erledigt. Moment noch: ich habe Ilse ja nichts zu verzeihen. Oder doch? Jemandem seinen Charakter verzeihen? Quatsch. Jeder ist, wie er ist.

      Er schaute zu Christina hinüber. Er sah im Schein der Lampe deutlich nur ihre Hände, schmale, ziemlich lange, geschickte Hände, die Lineal, Zirkel und Zeichenfeder sicher handhabten. Dahinter, schon undeutlicher, das knallrote Halstuch in der weißen Flauschjacke. Müßte man tuschen, wenn man einen Tuschkasten hätte. Er trat an ihren Tisch heran und rollte ihr wieder eine Zigarette über die Platte. Sie rollte die Zigarette zurück. „Ist mir zuviel“, sagte sie und hielt ihm wieder das brennende Feuerzeug entgegen. Er sah jetzt endlich ihr Gesicht genauer, das hübsche Pferdegesicht mit der zarten, kühnen Nase, umrahmt von harten, blonden Haaren, die sie zu straff zurückgebürstet trug. „Wenn man Sie ansieht“, sagte er, „merkt man erst, wie verkommen man ist.“ Sie blickte eine Sekunde abwehrend auf. Sie hatte dunkelblaue Augen mit übermäßig langen Wimpern. „Entschuldigen Sie. Es betraf nicht unser beider Seelenleben. Ich meinte nur, Sie haben doch bestimmt auch kein Geld. Und nun schauen Sie mich mal an und dann einen kurzen Augenblick sich selbst, falls Ihnen das nicht unangenehm ist.“

      „Besonders gern schau’ ich mich nicht an“, sagte sie unbeteiligt. „Wiedersehen“, winkte Conrad und begann wieder seinen Marsch in die Dämmerung.

      „Wiedersehen“, sagte sie, „und wenn Sie noch einen Tee wollen, dürfen Sie ruhig noch mal auftauchen.“

      „Schenken Sie nur ein“, sagte Conrad, „ich werde gelegentlich vorbeikommen.“

      Weiter wurde an diesem Abend nichts gesprochen. Conrad ging gedankenlos und zufrieden auf und ab. Es war ganz hübsch, fand er, daß er nicht allein war, und noch hübscher fand er es, daß diese schöne junge Frau ihn nichts anging. Schade, daß man nicht öfter mit ganz unbekannten Menschen zusammen sein konnte. Mit Menschen, deren Schicksale, deren Lebenskreis, deren Ansichten, deren Kämpfe und Leiden man nicht kannte. Mit Unbekannten bekannt sein ... das war ein Conradscher Wunsch. Mit solchen unerfüllbaren Wünschen spielte er gern. Und warum sollte es in diesem Falle nicht möglich sein? Nun — schon deshalb nicht, weil er ihr Schicksal kannte. Aber er brauchte ja davon nicht Kenntnis zu nehmen. Vielleicht ging das, und man kam in eine Art von fremder Vertrautheit. Auch so ein unerfüllbarer Wunsch, den er sein Leben lang gehabt hatte. Aber sollte man solche Dinge nicht wenigstens versuchen? Die alten und bekannten Beziehungen der Menschen untereinander waren so, daß man nach einer neuen Art von Beziehungen Ausschau halten sollte. Gut ... das konnte man versuchen.

      So weit waren seine Gedanken, als draußen ein Pfiff ertönte. Der Pfiff einer Trillerpfeife. Christina horchte. Sie legte ihre Zeichengeräte fort, setzte sich hastig ihr Samtkäppchen auf und reichte Conrad die Hand: „Es ist nodi Tee da, wenn Sie mögen.“

      „Nein, danke“, sagte Conrad schroff. Sie sah ihn fragend an: „Wenn ich Sie bestimmt nicht störe ... ich muß morgen abend wieder hier arbeiten.“

      „Es ist mir ganz einerlei, ob Sie hier sind. Ich marschiere, und Sie zeichnen.“

      „Also auf Wiedersehen“, sagte sie, schon in der Tür. Er horchte ihr nach, wie sie hastig über den Kies davonlief. Dann mußte er laut lachen. Bekanntschaft mit einer Unbekannten! Und schon dachte er darüber nach, weshalb sie auf einen Pfiff hinauslief, mit wem sie, die scheinbar Unnahbare, verabredet war, mit wem sie, die scheinbar Schweigsame, jetzt, Arm in Arm und sicherlich lustig schwätzend, durch die Mondnacht ging. Es war Zeit, daß er sich zurückzog. Er ging in seine Kammer und knallte ärgerlich die Tür hinter sich zu.

      Dann fiel ihm der Tee ein. Er ging noch einmal hinaus, goß sich eine Tasse voll. Tee konnte sie wirklich kochen. Er trank behaglich und genießerisch.

      Er räumte das Geschirr zusammen, wusch es an der Wasserleitung, trocknete die Kanne und die Tassen ab und stellte sie sauber auf den Schreibtisch. Die Dahlie hatte sie vergessen. Er nahm die rote Blüte und stellte sie an Stelle des Deckels in die Teekanne, nachdem er Wasser eingegossen hatte. Wird wahrscheinlich dem Tee von morgen schaden, dachte


Скачать книгу