Als wäre nichts geschehen. Walther von Hollander

Als wäre nichts geschehen - Walther von Hollander


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Er versuchte sich einige „famose“ Wendungen und Spitzen aus dem ungeschriebenen Brief für die kommende Unterredung einzuprägen. Dabei tappte er langsam die schmale Holztreppe hinauf, an einem grünlichen Jugendstilmuster aus Schwertlilien und Seerosen vorbei, das oberhalb eines frischgelackten Paneels die Flurwände zierte. Was wollte er sagen? Alle feinen Bemerkungen und spitzen Beweise waren ihm entfallen. Warum hatte er Ilse nicht wenigstens antelefoniert? Wenn sie sich nun zu Tode erschrak? Oder wenn sie ihm in ihrer heftigen, kalten Art die Tür wies? Oder wenn sie ihm gar — das war doch schließlich auch möglich bei so einer Rückkehr aus der Hölle —, wenn sie ihm gar weinend um den Hals fiel und gegen alle Erwartung plötzlich alles gut war? Das wäre ... Ja, was wäre es? Schrecklich? Schön?

      Wienczierczig, Amtmann, las er. Er war oben. Wienczierczig? Ulkiger Name. Und Amtmann dazu? Ach, das war die linke Wohnung, und rechts drüben hing das weiße Emailleschild: Dr. med. Ilse Brederopp. Weinend würde sie ihm übrigens nicht um den Hals fallen. Sie weinte niemals in Gegenwart anderer Menschen. Vielleicht, wenn sie allein war? Nein — wahrscheinlich auch nicht. Schrecklich, wenn eine Frau nie weinen kann. Ich bin doch sehr böse auf sie, stellte er erstaunt fest. Es hat also keinen Sinn, daß ich hineingehe. Außerdem wird sie mir nie verzeihen, daß ich schon zwölf Wochen hier bin. Besser, ich kehre um. Und in dieser Sekunde klingelte er.

      Die Tür wurde sofort geöffnet. Ein paar kalte, grünlich schimmernde Augen blickten ihm entgegen. Sie gehörten einer zierlichen, blondgelockten Frau mit spitzer Nase, die anscheinend als Sprechstundenhilfe fungierte. „Ich möchte Frau Doktor Brederopp sprechen“, sagte Conrad, „ich bin ...“ Die Sprechstundenhilfe hatte schon die Tür zum Sprechzimmer geöffnet und sagte mit etwas heiserer Stimme: „Bitte Platz zu nehmen!“ Und indem sie die Tür hinter dem eintretenden Conrad schon wieder schloß: „Es sind heute nur wenige Patienten. Sie haben Glück gehabt.“

      Glück? dachte Conrad und setzte sich auf einen der knarrenden Strohstühle. Er wischte sich den kalten Schweiß vom Gesicht. Sehr unangenehm: bei der kleinsten Gemütsbewegung dieses entsetzliche Schwitzen. Oder vielleicht war es auch gut. Das Wasser mußte ja aus dem gedunsenen Körper heraus. Also nur recht viel Gemütsgymnastik! Vorzüglich. Es war nur noch eine Patientin vor ihm, eine ungewöhnlich dicke, asthmatische Dame mit einem zu kleinen Federhütchen auf dem großen, grauhaarigen Rundkopf. Ein Duett der Aufgeschwemmten, dachte Conrad und versuchte, seinen heftigen Atem zu beruhigen. Die Dame blätterte mit pfeifenden Lungen in einem Modejournal. Conrad nahm sich auch eine der zerfledderten, verschmutzten Zeitschriften. Wenn Ilse hereinkam, mußte er sich verstecken. Ein Wiedersehen in Gegenwart der Asthmatischen ... das ging unter keinen Umständen. Die Zeitschrift hieß „Heimchen am Herd“. Die Nummer war schon sehr alt. Sie enthielt noch R-Mark-Rezepte unter reichlicher Anwendung von Aromen. Anweisungen — unter der Rubrik „Am Feierabend“ —, wie der hilfreiche Gatte aus krummen und verrosteten Nägeln nahezu neuwertige herstellen könnte. Conrad las diese Ausführungen mit Interesse und Sachverständnis. Beim Barackenbau im ukrainischen Waldlager hatten sie immer nur krumme und rostige Nägel gehabt. Die Anweisungen im „Heimchen“ zeugten von Sachkenntnis.

      Conrad hob jetzt die Zeitung mit einem Ruck vor sein Gesicht und ließ sie wieder sinken. In der Tür war die Spitznasige erschienen und winkte der Asthmatischen. Nur für eine Sekunde wurde Ilse sichtbar. Genug Zeit, um zu erkennen, daß sie immer noch in der Sprechstunde ihr „Amtsgesicht“ trug. Die Stirn wichtig gekraust, die randlose Brille adrett auf der kleinen Nase. Wie früher hielt sie sich etwas zu gerade und hatte beide Hände in die Kitteltaschen gestopft. Ein bißchen dicker, schien’s, war sie geworden.

      Eine nette und hübsche Frau, dachte Conrad. Das Ordentliche, das Saubere, das Tüchtige hatte ihn damals angezogen. Er selbst war unordentlich, ungleichmäßig, bald faul, bald übermäßig fleißig, manchmal die ganze Welt heiter umarmend, dann wieder gelangweilt in einer trockenen, sinnlosen Melancholie verharrend. Sie hatte ihn erst zu einem gleichmäßig arbeitenden, tüchtigen Psychiater gemacht. Er verdankte ihr viel. Und sie hatten doch auch manches Schöne zusammen erlebt! Es war keineswegs so, daß sie sich allzu oft gestritten hatten, die drei Ehejahre lang. Allerdings die Härte, die Schärfe, mit der Ilse die meisten Menschen verurteilte, hatte ihn immer gestört. „Verurteilen ist nicht unsere Sache“, hatte er ihr immer gesagt. „Das überlaß den Staatsanwälten, die aus allem das Böse rausklauben müssen.“ Er hatte sie dann „Herr Staatsanwalt“ genannt, und Ilse lachend: „Der Staatsanwalt soll gar nicht die Leute reinlegen und verurteilen. Er soll nur die Wahrheit rauskriegen.“ Conrads beinahe fröhliches Gesicht verfinsterte sich jetzt wieder. Die Wahrheit! Immer wieder die Wahrheit! Ja, die war das Kreuz ihrer Ehe gewesen. Das Schema des Gespräches war etwa so: Conrad: „Die Wahrheit sieht bei jedem Menschen anders aus. Außerdem ist sie nicht mitteilbar.“ Und Ilse: „Aber die Ehrlichkeit ist mitteilbar, und die sieht bei jedem Menschen gleich aus.“

      Conrad stand auf. Es hatte keinen Zweck. Nur schnell fort, ehe Ilse mit der Asthmatischen fertig war. (Übrigens ein typisch psychogenes, seelisch bedingtes Asthma. Ilse, die Schulmedizingläubige, würde nie damit fertig werden.) Also: schleunigst fort. Verschwinden! Nie wieder auftauchen!

      Natürlich wurde in diesem Augenblick die Sprechzimmertür geöffnet, und Ilse, die Hände in den Kitteltaschen, stand im Türrahmen. „Darf ich bitten“, sagte sie tonlos und ohne „den Patienten“ anzusehen Er interessierte sie nicht als Mensch, sondern nur als Kranker, also erst, wenn er die Schwelle zum Untersuchungszimmer überschritten hatte. So kam es, daß Conrad dicht an sie herantreten mußte, ehe sie ihn erkannte.

      „Tag, Ilse“, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen.

      „Tag, Conrad“, antwortete sie und wurde erst rot und dann sehr blaß. Und beinahe hätte sie wie bei allen neuen Patienten ihre alte Redensart angewandt: „Was führt Sie zu mir?“ Sie musterte ihn verstohlen. Conrad? Dieser aufgedunsene ältere Herr mit den grauen Haaren, mit dem starren Lächeln, den zu weiten, aufgekrempelten Hosen, dem zu engen Röckchen konnte doch nicht Conrad sein! Sie faßte, ihn am Arm und führte ihn ins Zimmer. „Komm, setz dich, dir ist sicher nicht besonders. Das verdammte Hungerwasser. Ich habe drei, nein, vier solche Fälle in meiner Praxis.“

      Conrad setzte sich auf den Schreibtischstuhl. Ilse stand an der anderen Seite des Schreibtisches. „Wie geht es denn deinen drei, vier anderen Fällen?“ fragte Conrad. Und Ilse, die Hände schon wieder in den Taschen des Kittels, stotterte sachlich: „Ach danke ... es geht langsam, zu langsam. Du wirst es schneller überwinden. Hattest du nicht ein ziemlich robustes Herz?“

      „Ja ... ziemlich robust. Das war mal“, sagte Conrad.

      Ilse lächelte verlegen. War einmal, dachte sie schnell. War einmal. Vergangenheit! Vorbei! Vielleicht war nicht nur das Schöne von früher vorbei, sondern auch das Schreckliche. Aber nein ... er war ja nicht mit der Pelzmütze gekommen, mit der wattierten, schmutzigen Jacke, mit dem armseligen Bündel in der Hand, wie die anderen Rußland-Heimkehrer. Er war nicht gleich zu ihr gekommen, sondern ... Sie kniff die Lippen zusammen, die harte Falte zwischen Nasenwurzel und Mundwinkel war wieder da, und sie fragte, was sie gar nicht fragen wollte und was Conrad erwartet hatte: „Wie lange bis du schon da?“

      Wenn’s nicht die Wahrheit sein kann, dachte Conrad, daß ich eigentlich täglich habe herkommen wollen und es nur nicht konnte, weil der saudumme Emmy-Brief zwischen uns stand, dann soll’s wenigstens mit Ehrlichkeit beantwortet werden: „Zwölf Wochen und vier Tage“, sagte er schnell, „du warst doch immer für Genauigkeit. Und ich wohne seit sechs Wochen bei Hannes Hohmann. Erinnerst du dich an ihn? Nein, richtig ... ich war immer nur zu Männerabenden bei ihm. Hannes Hohmann, der Architekt, ich erzählte dir. Der Werkmeisterssohn, der so stolz ist auf seine proletarische Abkunft und auf seine adlige Frau. Erinnerst du dich?“

      „Ich glaube, ich erinnere mich“, sagte Ilse. Aber sie erinnerte sich nicht.

      Sie kam jetzt auf die andere Seite des Schreibtisches. Sie streckte ihm die Hand entgegen. Sie wollte endlich sagen, wie sehr sie sich freute, daß er wieder da war, daß er den Weg zu ihr gefunden hatte. Aber da waren diese zwölf Wochen und vier Tage. Über die konnte sie nicht wegspringen. Sie war nicht so leichtfüßig, so leichtsinnig wie ... nun wie die meisten anderen Frauen, und so sagte sie nur, mit einem rührenden Klein-Mädchen-Lächeln: „Schön,


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