Als wäre nichts geschehen. Walther von Hollander

Als wäre nichts geschehen - Walther von Hollander


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alles.“

      Hilla nickte: „Ich bin auch so glücklich, wie man es auf dieser unverständlichen Erde sein kann und darf.“

      „Also doch nicht ganz glücklich“, stellte Conrad befriedigt fest.

      „Nein ..., Sie Kindskopf, ich habe nämlich die Welt nicht gemacht. Nach meinen Plänen gebaut, würde sie anders aussehen.“

      Sie waren vor dem Hohmannschen Hause angekommen. Hilla blickte zu ihren Zimmern hinauf. Es war alles dunkel, und ein Schatten zog über ihr Gesicht. „Hannes ist noch nicht zu Hause“, stellte Conrad fest. Hilla nickte: „Da kann ich noch den Kindern schreiben. Wenn Hannes da ist, darf ich nämlich nichts tun.“ Er sah sie erstaunt an: „Dürfen? Dürfen? Ich denke, Sie sind ein freier Mensch?“

      Hilla lachte: „Wer hat Ihnen denn so was Blödsinniges erzählt? Ich ... bin verheiratet.“

      „Und Hannes?“

      Sie streckte ihm herzlich die Hand entgegen: „Ich hätte Lust, mit Ihnen noch einen Tee zu trinken. Aber die Kinder müssen jeden Mittwoch ihren Brief haben, sonst sind sie enttäuscht. Und Kinder darf man nicht enttäuschen. Schlafen Sie gut.“

      „Ich werde noch ein bißchen im Atelier auf und ab gehen und über das Mißverständnis nachdenken“, sagte Conrad, und Hilla: „Aufundabgehen ist gut. Aber nachdenken? Ich weiß nicht, was dabei herauskommen sollte. Ihr Herz weiß ja Bescheid.“

      „Weiß nicht, ob ich ein Herz habe“, wehrte Conrad ab, „aber ich weiß, daß die Menschen nichts gelernt haben und so dumm sind wie vorher.“ Er wandte sich zum Gehen, aber Hilla hielt ihn am Arm fest:

      „Die Menschen sind gar nicht so dumm, Conrad. Sie zum Beispiel bestimmt nicht, und Ihre Ilse auch nicht. Es verlangt nur jeder vom anderen die Vollkommenheit. Und kein Mensch ist vollkommen.“

      „Doch ... Sie sind vollkommen, Hilla. Sie ... ja.“

      „Sehr ehrenvoll, Conradin. Aber wenn Sie jetzt im Atelier auf und ab gehen, versuchen Sie den Vollkommenheitswahn loszuwerden. Das ist vernünftiger, als über das Mißverständnis zu grübeln. Gute Nacht!“ Damit ging sie ins Haus.

      Conrad bummelte, die Hände in den Hosentaschen, durch den mondhellen Garten. Es war kühl. Unten im Flußtal stand der Nebel wie eine dicke Wand. Die Dampfer heulten. Er betrachtete die vom Mondlicht gepuderten Dahlien. Eine große, dunkelrote brach er ab und steckte sie in den Aufschlag seines schäbigen Jacketts. Sie sah aus wie ein roter, zerfranster Luftballon. Ihn fröstelte. Die Frage des Wintermantels wurde allmählich dringend. Wie bitte? Dringend? In Rußland hatte er bei dreißig Grad Kälte nur seinen zerlumpten Soldatenmantel, und hier bei vier Grad, sieben Grad Wärme dachte er an einen Wintermantel. Albern. An einen Wintermantel war nicht zu denken. Basta. Aber an einen Dahlienstrauß. Genießerisch wählte er die Farben. Wenn ich weniger rauche, dachte er, könnte ich mir einen Tuschkasten kaufen und ein bißchen vor mich hinpinseln. Als Student hatte er einmal Malstunden genommen. Seine Lehrerin, ein blondes, zwitscherndes Fräulein, hatte ihn für ein Talent erklärt. Warum also jetzt nicht ein paar Blumen tuschen? „Na, warum wohl nicht?“ brummelte er nach Art der Einsamen vor sich hin. „Weil du deine dreizehn Mark achtzig verqualmst und niemals die drei Mark achtzig für einen Tuschkasten aufbringen wirst. Sehr einfach. Du hast keine Energie mehr, mein Bester, keinen Funken. Und nur Wasser in den Adern. Wasser. Wasser.“

      Mit einem Ruck stieß er die Tür zum Atelier auf. Er blieb unwillig stehen. Auch das noch! An einem der großen Arbeitstische saß jemand. Die gebogene, silberne Arbeitslampe warf einen grellen Schein auf den Tisch. Nicht zu erkennen, wer da zeichnete.

      „Guten Abend“, sagte Conrad, „bitte, sich nicht stören zu lassen.“ Er durchquerte schnell den Raum. Hinter der Lampe erhob sich die junge Zeichnerin Christina Keller. Er kannte sie flüchtig. Er kannte durch die Geschwätzigkeit von Hannes ihr Schicksal ziemlich genau. Gutsbesitzerstochter aus Mecklenburg. Familie totgeschlagen. Russen. „Hoffentlich störe ich Sie nicht“, sagte Christina von ihrem Tisch her, „ich habe noch ein bißchen nachzuarbeiten.“

      „Zeichnen macht ja keinen Lärm“, sagte Conrad nett. Er legte die rote Dahlie aus seinem Knopfloch auf ihren Tisch. „Ich habe gestohlen, und davon sollen Sie was abhaben.“

      „Danke“, sagte Christina, „was für eine schöne Dahlie.“

      In der Lampendämmerung erschien ihm ihr Gesicht madonnenhaft lieblich. Nein: das Gesicht war zu groß für eine Madonna. Langgestreckt, pferdeähnlich, mit Schatten, die von innen kamen. Viel zu lange hatte Conrad sie schon angeschaut. Er wandte sich schnell: „Von mir aus können Sie auch singen oder pfeifen, mich stört es nicht. Ich habe nämlich nichts zu tun.“

      „Vielen Dank“, sagte sie, „ich pfeife nicht.“

      „Dann ist ja alles in bester Ordnung“, schloß Conrad, betrat sein Zimmer und machte die Tür mit einem ärgerlichen Ruck hinter sich zu. Ja — er war ärgerlich. Was sollte dieses indiskrete Geschwätz? Nur weil er ihr Schicksal kannte, nur weil sie ihm leid tat, hatte er ihr die Dahlie geschenkt. „Man muß nett mit ihr sein“, hatte Hannes großmütig gesagt. Gut! Gut! Aber mußte er nett sein? Sie hatte schlimm bezahlen müssen. Er auch. Jeder mit dem, was er hat, dachte er zynisch. Ich mit meiner Gesundheit und wahrscheinlich mit meiner Existenz und sie ... na ja. Kein Grund, miteinander zu schwätzen oder Blumen zu verschenken. Außerdem war es lästig, daß sie im Atelier saß. Nun war er in seiner engen Kammer eingesperrt.

      Es war die frühere Gerätekammer des Bildhauerateliers. Drei Schritt breit und vier Schritt lang, eine Art Gefängniszelle. Sogar ein rostiges Gitter gab es vor dem Fenster, das auf den Obstgarten hinausging. Ein Feldbett stand drin, ein halbverrosteter Waschständer mit einer Blechwaschschüssel und einer tulpengeschmückten Porzellanwasserkanne, ein dreibeiniger Plüschsessel, den man nicht verrücken durfte, weil das vierte Bein durch Ziegelsteine ersetzt war. Und als Prachtstück ein winziges birkenes Biedermeiertischchen mit zersprungenem Furnier und mit einem Klaviersessel davor, aus dessen lederner Sitzfläche die graue Wattepolsterung hervorquoll. Ein Flickenteppich lag auf dem Boden, und auf dem Holzstuhl neben dem Bett stand eine flache türkische Lampe aus Messing mit einem goldenen Halbmond als Spitze und mit roten Troddelfransen als Schmuck. Ein lumpiges Zimmer. Aber trotzdem gemütlich. „Mehr braucht der Mensch nicht“, hatte Conrad schon ein paarmal zu Hannes gesagt. „Alles andere haben ihm so Architekten wie du eingeredet, damit sie ein Luxusleben führen können, überflüssigerweise in Bars rumsitzen, unnütze Autos fahren und nichtsnutzige Weiber mit Schmuck und Pelzen behängen.“ Und Hannes hatte erwidert: „Untersteh dich und preise die Selbstbescheidung. Ich brauche Menschen, die sinnlose Wünsche haben und sinnlosen Luxus konsumieren. Davon lebe ich, und zwar gut, wie sich das gehört.“ Und Conrad: „Ich jedenfalls brauch’ nicht mehr, und mich kriegst du hier nicht wieder raus.“

      So, und nun saß er hier, besah seine zwölf Quadratschritte und fühlte sich zum ersten Male, seit er zurück war, wieder gefangen. Drei Schritt breit und vier Schritt lang, und da draußen saß dieses Frauenzimmer und hinderte ihn, in dem Atelier auf und ab zu rennen. Das hatte ihm doch Hilla geraten. Worüber sollte er nachdenken? Über den Vollkommenheitswahn. Na ... den hatte er nicht. Den hatte ... Ilse. Und zwar kräftig. Leider nur nicht auf sich selbst gerichtet, sondern auf ein sehr ungeeignetes Objekt. Auf ihn, Conrad, einen Psychologen und Psychiater von Rang, der sich täglich mit dunklen Untergründen, mit den unbeherrschbaren Tiefen der menschlichen Seele zu befassen hatte, vor dem sich die Leidenden, die Patienten, täglich und schamlos bis in ihre schmutzigen Tiefen entblößten. Was für eine anständige Sache war dagegen noch die kläglichste körperliche Nacktheit, vor der sich die robustere Ilse oft genug entsetzte. Der Vollkommenheitswahn — der wurde einem schon ausgetrieben, vor allem in dem dunklen Grenzgebiet der Verfallenheiten, der Schwächen, der Süchte, in dem klüftereichen Felsgewirr der Hysterien, in dem Irrgarten der Schizophrenie, wo die Vernunft dicht neben dem Wahnsinn lagerte. Und wenn man aus diesen Dunkelheiten ans Licht stieg, dann war es nicht möglich, die Infektionen mit etwas Seife und einer harten Wurzelbürste abzuwaschen, so wie Ilse, die immer saubere, das konnte. Die Seele läßt sich nicht so leicht desinfizieren, und das Gehirn, das immer grübelnde, läßt sich nicht chemisch reinigen.


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