Als wäre nichts geschehen. Walther von Hollander

Als wäre nichts geschehen - Walther von Hollander


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      Es regnete. Conrad lag halb aufgerichtet im Bett. Es hatte keinen Zweck, aufzustehen. Der Herbst war endgültig da. An dem Gitter der Gerätekammer schaukelten die gelben Lindenblätter vorbei, die noch grelleren der Platanen aus dem Nachbargarten. Die kleine japanische Lärche zeigte Spuren eines schmutzigen, rostigen Gelbs. Es waren die larix japonica, der platanus orientalis und die tilia parvifolia, die herabblätterten. Hannes Hohmann hatte sie Conrad aufgezählt. Er liebte es, zu beweisen, daß er, der Werkmeisterssohn aus Pankow, eine höhere Bildung genossen, ein gründliches Studium der Wissenschaften hinter sich gebracht hatte. Alles aus eigener Kraft. Nichts verdankte er anderen.

      Doch: seiner Frau verdankte er ziemlich viel. Daß er noch auf den Beinen stand, daß er sich das Saufen abgewöhnt hatte und jene Ausbrüche der Zerstörung im Rausch, in denen er früher drei- oder viermal fast die ganze Wohnung zertrümmert hatte. Er verdankte es ihr, daß er nicht mit der schwarzhaarigen Gräfin Süttorph nach Brasilien ausgewandert war und nicht auf dem Schloß der reichen Frau Kleienberg ein faules, nichtsnutziges Leben führte. (Du bist ein Herr, und dir kommt ein Herrenleben zu — hatte Frau Kleienberg gesagt.) Hilla verdankte er es, daß er manchmal seine eignen Ideen durchsetzte und zuweilen ein hübsches, wohnliches und doch originelles Haus baute. Außer den Schokoladenhäuschen, den Marzipanvillen, den neonbelichteten Tankstellen, die er am laufenden Band produzierte, damit „der Schornstein rauchte“.

      Conrad hörte ihn nebenan gutgelaunt lärmen. Mit kräftigsten Soldatenwörtern trieb er seine „Sklaven“ an. „Alles Scheiße“, war noch der harmloseste Ausdruck. Conrad haßte die Soldatensprache. Er hatte sie genug und übergenug gehört und gesprochen. Der Mensch oberhalb des Nabels schien ihm jetzt anziehender. Er betrachtete eingehend die vergilbenden Nadeln der larix japonica. Seine Mallehrerin hatte einmal gesagt, daß man alles zeichnen kann, was man wirklich sieht, und daß man nichts richtig sieht, was man nicht zeichnen kann. Ganz hübsche Theorie. Man müßte sie mal ausprobieren. Aber er rauchte ja, statt sich einen Tuschkasten zu kaufen. Freilich hätte er es nur Hannes zu sagen brauchen. Der hätte ihm bestimmt den größten Tuschkasten geschenkt, der in Hamburg aufzutreiben war. Groß wie ein Wagenrad. Aber er wollte nichts mehr geschenkt nehmen. Es genügte wahrhaftig, daß er umsonst hier wohnte, daß ihm Hilla jeden Morgen Briketts vor die Tür stellen ließ, daß er ab und zu oben bei Hohmanns zu Mittag aß oder abends zu einem Glas Wein eingeladen wurde, wenn nette, amüsante oder „wichtige“ Leute da waren. Es hatte übrigens wenig Sinn, daß er mit diesen Menschen zusammensaß, die „Wichtigen“ blieben ihm recht unwichtig, und die netten und amüsanten kamen ihm albern vor, manchmal auch gespenstisch. Hatten sie eigentlich nichts Schlimmes mitmachen müssen? Wußten sie nicht, daß Millionen von Menschen endgültig aus ihrem Leben vertrieben waren, daß es Hunderttausende gab, in deren Dunkelheit kein Licht schien, über deren Leben die Sonne nie wieder aufgehen würde? Natürlich wußten sie es. Aber sie waren ja „nicht daran schuld“, und „sie konnten es nicht ändern“. Sollten sie sich etwa bescheiden? Das „nützte niemandem“.

      „Wer wirklich will“, hatte bei solcher Gelegenheit Hannes dröhnend verkündet, „wer wirklich will, mein Lieber, der kommt auch wieder hoch. Für die Alten und Kranken: jedes Mitleid! Bitte. Aber die anderen sollen sehen, wo sie bleiben.“ Komisch — dem guten Hannes nahm er seine taktlosen und selbstbewußten Kraftsprüche nicht übel. Er hatte eben ein Kraut-und-Rüben-Gehirn. Aber er hatte auch eine unbändige Kraft, eine herrliche gedankenlose Durchsetzungsfähigkeit. Er stellte was hin. Gute Häuser, schlechte Häuser. Aber Häuser. Es kommt nur darauf an, daß man Kraft hat, dachte Conrad. Kraft! Man mußte doch nur mal sehen, wie Hannes unbekümmert sein Leben führte, wie er alles tat, was ihm durch den Kopf fuhr, Gutes, Dummes und Schlechtes, je nachdem. Und was er der wunderbaren Hilla antat mit seiner Gedankenlosigkeit, seinem wahnwitzigen Temperament, seinen kleinen Schurkereien. Womit mußte er das bezahlen? Er mußte überhaupt nicht bezahlen. Er bekam dafür die unerschöpfliche und harmonische Liebe Hillas geschenkt. Und er, Conrad? Was hatte er je bekommen mit allem Anstand, mit dem ständigen Bemühen, sich den Wünschen und Vorstellungen Ilses anzupassen? Mißtrauen hatte er geerntet, stumme und laute Vorwürfe, entsetzliche nächtelange Auseinandersetzungen, wie das Verhältnis der Geschlechter zueinander zu sein habe. Nämlich ernst, sauber und tief. Sie hatte recht. So sollte es auch sein. Und man sollte einander treu sein. Es war nicht nur das Beste. Es war auch das Vernünftigste. Nur Conrad war eben nicht immer vernünftig. Leider.

      Doch! Jetzt war er vernünftig. Weil er krank war, apathisch, abgestorben. Höchst geeignet also für eine Ehe mit Ilse.

      Nebenan machte Hannes ein paar großartige Witze. Die „Sklaven“ wieherten. Conrad sprang aus dem Bett, warf die zu große Pyjamajacke ab. Er wusch und rasierte sich gedankenlos. Heraus aus dem Gefängnis! Nur nicht mehr stumpfsinnig daliegen, Zigaretten rauchen und ab und zu den einzigen Brief lesen, den er bisher bekommen hatte. „... bedauern unter diesen Umständen, Ihrer Zulassung nicht nähertreten zu können, und stellen Ihnen anheim, Ihr Gesuch in ein bis zwei Jahren zu wiederholen. Die Ärztekammer, gez. Unleserlich.“ In ein bis zwei Jahren. Vielen Dank! Aber was sollte er sonst tun? „Umschulung zum Maurer“ hatte das Arbeitsamt geraten. Eine prachtvolle Idee. Wenn er zwei Ziegelsteine aufhob, wenn er drei Spatenstiche im Garten machte, dann ließ der Schweiß den Rücken herunter. Russisches Wasser. Ein hübsches kleines Andenken an eine große Zeit. Er zog das Prachthemd an. Müßte auch mal gewaschen werden. Na, abends konnte er es ja tun. Und dann mit nacktem Oberkörper im Atelier herumstaksen vor den mißbilligenden Blicken von Christina Keller? Quatsch. Einen Abend lang konnten die schweigsamen Ateliergänge auch mal ausfallen.

      Er setzte sich die Baskenmütze auf und musterte sich im Spiegel. Es war ein etwas grünglasiges Spiegelchen in Biedermeierrahmen. So elend, wie er in diesem Glas aussah, fühlte er sich nicht. Das Gesicht wurde schon ein wenig menschlicher. Die Backen waren nicht mehr ganz so teigig. Die Augen bekamen etwas Glanz. Es waren mal sehr schöne, blaue Augen gewesen, lapislazulifarben mit winzigen braunen Pünktchen drin. Leuchtfeuer hatte sie eine verliebte Patientin genannt. Leuchtfeuer? Wer war das ... die Dame mit dem Leuchtfeuer? Conrad mußte laut lachen. Emmy ... tatsächlich Emmy, die seine Ehe mit Ilse torpediert hatte, Emmy war die Dame mit dem Leuchtfeuer. Sie hatte nun mal poetische Anlagen und konnte ihre Gefühle in lyrischen Bildern ausdrücken. Schade, daß er keine Ahnung hatte, wie sie aussah. War es die Dame mit dem weißen Tüllkleid und dem schief aufgesetzten cremefarbenen Spitzenhut gewesen oder jene Schwarzhaarige, immer in Samt Gekleidete, die ein bißchen schielte, wenn sie verliebt war, oder die kindische mit den Wollschaflocken, die Nüsternblähen als einen Ausdruck von Sinnlichkeit ansah und diese mühsam fabrizierte Sinnlichkeit durch ein knopflochgroßes Schmollmündchen wieder auslöschte? Oder war es ... Conrad machte eine ärgerliche Fratze in den Spiegel und marschierte endlich durchs Atelier. Er grüßte freundlich nach allen Seiten. Christinas Platz war leer. Sie war auf der Kunstakademie. Sie würde also am Abend ihre Arbeit nacharbeiten müssen. Schön? Ja — ganz schön.

      Aber eigentlich war es auch gleichgültig.

      Es regnete heftig. Er schlug den Kragen seines Jacketts hoch und lief durch den Garten, als ob ihn draußen ein schützendes Auto erwartete. Er stand auf der Straße. Wohin sollte er gehen? Er entschloß sich für rechts. Da ging’s zum Bahnhof. Er konnte sich wenigstens eine Zeitung kaufen. Dann hatte der Marsch einen Sinn. Er ging, den Kopf eingezogen, die Hände in den Taschen. Nach zwanzig Schritten stieß er an einen Regenschirm. Er entschuldigte sich. Der Regenschirm hob sich. Ilse und Conrad waren auf der Straße zusammengestoßen. „Ich wollte dich endlich besuchen“, lachte Ilse, „... schade — du bist nicht zu Hause.“

      „Ja, schade“, sagte Conrad, „und wie vornehm du bist, hast schon wieder einen Regenschirm! Komm.“

      „Du wolltest doch weggehen?“ fragte Ilse schüchtern.

      „Ich wollte nur für dich Kuchen kaufen. Schillerlocken. Nicht wahr? Hattest du doch gern?“

      „Aber wußtest du denn ...“, sagte Ilse, die bei Witzen anderer immer etwas langsam leitete.

      „Natürlich“, sagte Conrad (und es war schade, daß er das sagte), „ich wußte doch, daß du dich um mich kümmern müßtest.“

      Und um keine Mißstimmung aufkommen zu lassen: „Also, dann geht’s auch


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