Auf der Suche. Walther von Hollander
er mit ihr nicht wie mit einer erwachsenen ehrlichen Sache um, an der anständige Leute Halt und Inhalt für ihr Leben finden.
Würdest du doch leben, wie du arbeitest, denkt Stefanie, aber sie hütet sich, es zu sagen, denn Landowski hat gerade die letzte Mappe erledigt, und sein Gesicht bekommt nun auch einen Anflug jener ängstlichen Würde, hinter der sich der gewöhnliche Mitteleuropäer gegen den gewöhnlichen Mitteleuropäer verschanzt.
Er geht auf Stefanie zu, stemmt die beiden Hände auf die Lehne des Sessels und nähert sein Gesicht ganz langsam ihrem Gesicht. Er will eigentlich einen Witz machen und mit hohler Inquisitionsstimme flüstern: „Und was triebest du, Weib?“, aber die Stimme bleibt in einem kleinen Räuspern stecken. Die Augen blicken wider Willen ängstlich und forschend, und Stefanie stemmt ihre Arme gegen seine Brust, schiebt ihn mit aller Gewalt zurück, steht ganz schnell auf, und indem sie vor dem Spiegel ein wenig das Lippenrot nachzieht, schüttelt sie sich und sagt: „Du weißt doch, daß ich immer denke, ich muß ersticken.“
Landowski antwortet nicht. Er setzt sich gerade den kleinen grauen Hut auf, zuerst lotrecht und ordentlich, dann doch etwas schief, weil das alle jungen Männer tun, klemmt Handschuhe und Stock unter einen Arm, zieht ein mächtiges Schlüsselbund aus der Tasche und stopft es mit einem „Ach was“ wieder zurück. Das Abschließen ist ihm zu langweilig.
Während sie zusammen die Treppe hinuntergehen, ist Stefanie ganz verwundert, daß er sich gar nicht entschuldigt hat, und sie erkennt, daß sie sich in den sechs Wochen doch fremd geworden sind. Sie biegen schweigend in die Friedrichstraße ein und gehen so nebeneinander her, daß sich ihre Kleider nicht streifen. Manchmal werden sie von den entgegenkommenden Menschen ganz getrennt, und immer muß Landowski dann auf seine Frau warten. Denn sie ist an diesem Tage überaus ängstlich, und jeder Mensch, der auf sie zugeht, jagt ihr einen Schreck ein, so daß sie stehenbleibt, ihn um sich herumgehen läßt und derweilen sehnsüchtig nach Leos grauem Hut schielt, der schon zehn oder fünfzehn Schritt weitergeschwommen ist.
Sie ist froh, als sie ins Restaurant kommen, das kurz vor den Linden liegt und in dem sie zuweilen täglich zu Mittag essen, so daß ihr Tisch in der Ecke für sie reserviert bleibt. Sie läßt sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf der etwas speckigen Bank nieder und muß sich nun bei Leo entschuldigen, der kopfschüttelnd die Speisekarte liest, als behagten ihm die angebotenen Speisen oder die Preise nicht.
Nachher bummeln sie noch ein Stückchen die Linden hinunter, trinken eine Tasse Kaffee in einer Konditorei, wobei sie sich ganz hinten in die Ecke zurückziehen, wo sonst nur die Liebespaare sitzen, die das Tellerklappern an der Theke nicht stört. Aber wenn sie von der Straße aus sichtbar wären, würden sie bestimmt von Freunden oder Bekannten aufgestöbert werden, und es paßt ihnen ganz gut, daß das Klappern des Porzellans und die eintönigen Rufe der Kellner jede Unterhaltung unmöglich machen.
Der Tag verläuft weiterhin im Rahmen des Gewohnten. Stefanie begleitet ihren Mann wieder zum Bürohaus, fährt mit dem Wagen hinaus und versucht etwas zu schlafen. Sie streckt sich ganz wohlig auf dem Diwan aus, die gelbe Seidendecke bis ans Kinn gezogen, und gerade drückt sich der Schlaf wie ein ganz weiches, warmes Kissen über Stirn, Schläfe und Augen, als die Zofe Hanna mit erschrockenem Gesicht den Telephonapparat bringt.
„Der alte Herr“, flüstert sie, obwohl der Apparat noch nicht eingestöpselt und keine Gefahr ist, daß er es hört. Da ist dann gleich die halb knarrige, halb eisige Stimme des alten Landowski. Er überschüttet seine Schwiegertochter mit Vorwürfen, daß sie ihn noch nicht begrüßt hat, kündigt, ohne nach ihren Dispositionen zu fragen, seinen Besuch zu halb fünf Uhr an, „mag dir das auch nicht angenehm sein“. Stefanie versucht es mit ein paar Witzen, mit denen sie den Alten manchmal aussöhnen kann, aber diesmal erntet sie nur ein unwilliges Knurren. Sie gibt es also auf, gähnt kräftig und lange, indem sie sich nach allen Seiten streckt, und läßt dann Lemmchen zu sich bitten. Der hat schon gewartet und kommt mit einer ganzen Liste von Fragen, unter denen Einzelfragen zur Erschaffung der Welt und der Entstehung des Menschen noch am leichtesten zu beantworten sind.
Hier ist also durch die Trennung wirklich eine Lücke entstanden, die ausgefüllt werden muß, und Stefanie hat es gleich wieder heraus, wie sie den besonderen Anlagen des Jungen gerecht werden kann, der eine komische Mischung aus schlaff und brennend darstellt. Seine Lehrer behaupten, er hätte immer gleichzeitig die Peitsche und die Kandare nötig, aber Stefanie weiß aus ihrer Jugend, daß nur die Sonntagsreiter mit den Pferden so umgehen, weil sie Angst vor ihnen haben.
Sie versucht es lieber anders. Eigentlich muß gleichmäßige Wärme alles ausgleichen — ist ihr pädagogischer Leitspruch, der natürlich genau das bezeichnet, wonach sie sich so sehnt wie alle Frauen ihrer Generation. Gleichmäßige Wärme und Gleichberechtigung, denkt sie heute, denn Lemmchen schaut sie ganz zaghaft und kläglich an und möchte sie mit einigen Fragen „wegen allzu dumm“ gar nicht erst belästigen.
Stefanie richtet sich schnell auf ihrem Diwan auf, kriegt Lemmchen bei den Ohren zu fassen, nimmt ihn dann zart unter die Arme, hebt ihn zu sich herauf und umarmt ihn fest und sanft. Und Lemmchen, der zuerst unter „Nu laß doch“ oder „Nanu, was soll denn das?“ und „Was willste denn?“ hin und her zappelt, liegt mit einem Male ganz stocksteif und kalt, fängt dann zu seufzen an, und indem er seine Arme endlich fest um den Arm seiner Mutter legt, wird er leise und unsichtbar von einem Weinen durchlaufen, das sich nicht nach außen wagt.
Stefanie hält ihren Jungen fest und ist ganz neidisch. Wie? Wenn sie jetzt auch so weinen könnte! „Keine Entschuldigung,“ sagt sie streng zu Herbert, der sich verlegen losmacht und nicht weiß, unter welchen Phrasen er weggehen soll, „wir alle, glaube mir, täten besser dran, manchmal ordentlich zu heulen. Von uns Frauenzimmern tun es aber nur die Männer.“
Und als Herbert sie unsicher anlacht, packt sie ihn bei den Schultern und dreht ihn hinaus. „Nicht nachdenken!“ ruft sie, „das ist nur wieder so ein Schnack deiner Mutter.“
Um punkt halb fünf fährt der alte Geheimrat Landowski vor, grüßt flüchtig seinen Chauffeur und liebenswürdig den alten Gaspard, der schon seit einer Viertelstunde an der Tür Posten steht, und geht schnell den Fußweg entlang auf das Haus zu. Er hinkt rechtsseitig seit ein paar Jahren und versucht das durch schnelles Gehen auszugleichen. Am Hauseingang wird er von Frau Schreier empfangen, die ihm Hut und Mantel unter fürsorglichen Redensarten abnimmt, ohne daß der Alte auf ihr Geschwätz eingeht.
Er tritt vor den Spiegel, zieht sich mit dem Taschenkamm den Scheitel gerade, streicht den grauen Bart zurück, der, kaum zu bändigen, das Kinn, den halben Hals und die Backen fast bis zu den Backenknochen überwuchert, lockert den Taschentuchzipfel in der Herztasche des Cutaway und marschiert dann auf den Salon los, den er hinter kurzem, hartem Klopfen betritt, ohne ein Herein abgewartet zu haben.
Er ist unangenehm überrascht, noch einen Gast vorzufinden, die kleine Amélie Stern, Gattin des bekannten Getreidehändlers Stern, eine Frau von nicht gutem Ruf, deren Freundschaft mit seiner Schwiegertochter ihm nicht gefällt. Er setzt sich in den tiefsten Sessel, den er finden kann, verkriecht sich in seinen Bart und sieht Stefanie mit funkelnden Brillengläsern prüfend an.
„Du scheinst dich wenigstens erholt zu haben“, brummt er nach einer Weile in das Gespräch der Frauen hinein, das sich ein wenig mühsam am Rande der gesellschaftlichen Ereignisse des Sommers entlanghaspelt.
Stefanie begreift sehr wohl, daß in diese Anerkennung ein Tadel eingewickelt ist, daß der Alte nochmals zum Ausdruck bringen will, wie unerhört er es findet, wenn eine Frau allein reist, und so gibt sie ihrer Freundin das Zeichen zum Aufbruch, weil diese Auseinandersetzung ja doch nicht vermieden werden kann. Ein wenig bange kehrt sie gleich darauf in den Salon zurück, setzt sich auf ihren Stuhl, legt die Arme um ihre Knie und wartet geduldig.
Aber der Alte läßt sich Zeit, er berichtet vom Mißerfolg der Kissinger Kur, zu der ihn diese „Tölpel von Ärzten“ gepreßt hatten, richtet Grüße von Tante Rebekka aus, die nun bald überhaupt nicht mehr gehen könne, beklagt seine Schlaflosigkeit, die jetzt im Herbst ihren Höhepunkt erreichen wird, und fängt dann erst an, Leos Gesundheitszustand in den schwärzesten Farben zu malen.
„Wenn er so weitermacht, ist er mit vierzig tot“, sagt er zornig