Sternstunde der Mörder. Pavel Kohout
Morgen treffen die Putzweiber ein.
Morava hatte keine Fragen mehr und blickte auf Buback. Der Deutsche schüttelte den Kopf. Offenbar wunderte er sich auch, wie dieser trottelige Alte mit den Kaninchenaugen und den Hamstertaschen vor zehn Jahren gefesselte Prostituierte mit der Nadel in die Brüste stechen und dabei onanieren konnte.
Jedenfalls notierte er sich, daß dieser halbgebildete Sadist im Ruhestand reinstes Schrifttschechisch sprach. Wie die meisten Mährer, schmeichelte er sich, und sogleich fiel ihm ein, was der Hausmeister vom Moldauufer über den Mann sagte, der die arme Baronin von Pommeren zerstückelt hatte. Ja! Er war sein Landsmann! Das adelte ihn nicht, doch es engte den Kreis der möglichen Täter von sieben auf drei Millionen ein ...
Er wurde sich bewußt, daß Buback, dem Deutschen, das sprachliche Erkennungsmerkmal entgangen sein mußte, behielt es aber für sich, bis er sich mit Beran beraten hätte. Er ließ noch den Nachtwächter polizeiamtlich en face und zweimal en profil für den Prager Zeugen fotografieren und empfahl Váca, ihn einstweilen wieder ins Bett zu schicken. Dann fuhren sie schon gen Süden.
Er setzte sich gleich neben den Deutschen und fragte ihn, ob er an einer bestimmten Fahrstrecke interessiert sei. Nein, erfuhr er und stellte die nächste Frage, ob der Herr Oberkriminalrat unterwegs Mittag zu essen wünschte. Als Buback nickte, erkühnte er sich, ihm sogar den Ort vorzuschlagen: Auf direktem Weg gebe es ein anständiges Wirtshaus, gegen Mittag seien sie da, inzwischen werde er, mit Verlaub, kurz bei seiner Mutter vorbeischauen.
Zum erstenmal, seit sie sich kannten, bekundete der Deutsche so etwas wie menschliches Interesse. Morava setzte ihm kurz auseinander, daß er, nomen est omen, aus Morava, also aus Mähren, stamme, genauer gesagt aus dem einstigen mährischösterreichischen Grenzgebiet, wohin sie unterwegs seien, weshalb er von Kindesbeinen an leidlich Deutsch spreche, daß sein Vater schon lange tot sei und seine Mutter allein in der Schmiede wohne, die der Familie gehöre, die sie aber verpachtet habe, als er, der einzige Sohn, zum Jurastudium entlaufen sei und seine Schwester ihren Vikar geheiratet habe. Ihn habe dann die Schließung der tschechischen Hochschulen bestraft, und so sei er als Halbalphabet bei der Polizei gelandet.
Reicht eine Stunde? fragte Buback darauf im Telegrammstil, und der Kriminaladjunkt grub sich ohne Stift ins Gedächtnis, daß hier eine Schuld zu begleichen war, mochte der Mann auch ein Nazi sein.
Erneut schweigend, denn auch Berans Lieblingsfahrer Litera war heute noch ungesprächiger als sonst, schleppten sie sich dann die schmalen Bezirksstraßen dahin, die den doppelten Verkehr des Frühjahrs und des Krieges nicht zu bewältigen vermochten. So gut es eben ging, überholten sie Ackerwagen mit Mist wie Feldküchen, selber ununterbrochen von wild hupenden Stabsautos und Kurieren auf schweren Motorrädern überholt. Plötzlich tauchten die Eisenfresser der gefürchteten deutschen Feldgendarmerie auf, deren Brustschilder Morava an blecherne Spucknäpfe erinnerten. Die Ausweise der Protektoratspolizei stießen bei ihnen auf Gespött, schon wollten sie den Wagen zur Umkehr zwingen, als der Mitfahrer seine Nützlichkeit bewies.
Donnerwetter! dachte Morava anerkennend, als er sah, wie die drei Räuber sich urplötzlich in Lämmchen verwandelten, dieser Buback steht also ein ganzes Stück über Beran ...
Der Krieg verdrängte das Frühjahr jetzt völlig von der Fahrbahn, alle paar hundert Meter verrieten tiefe Rinnen im Ackerboden, die zu den nahen Wäldchen führten, daß die ganze Gegend mit einer Riesenmenge Militärtechnik gespickt war. Beim Anblick der bereits ausschlagenden Bäume durchschoß Morava der Gedanke, daß hier vielleicht noch vor dem Knospenknall Granaten explodierten, und er bekam es mit der Angst um die Mutter.
Das Wirtshaus auf dem Dorfplatz war verschlossen. Ein zahnloser Greis, den Morava nicht kannte, gab nuschelnd Auskunft, der Wirt sei mit Familie nach Brünn geflüchtet. Doch ehe sich dem Kriminaladjunkten das Herz verkrampfen konnte, beging der Deutsche eine weitere gute Tat, indem er trocken bemerkte, er sei keineswegs hungrig und vertrete sich gern ein halbes Stündchen die Beine an der frischen Luft. Morava war ihm dankbar dafür. Sie setzten Buback ab, und Litera kurvte durch matschige Gäßchen zur Schmiede. Der Pächter beschlug gerade ein Pferd, und die Mutter hielt den Huf.
«Jeníček!» schrie sie vor Glück auf und setzte den Huf vorsichtig auf den gestampften Boden, «aber nein! Aber nein! Aber nein!!»
Das wiederholte sie noch mehrmals in der guten Stube, als er, während der Fahrer in der Küche Brotstücke mit Speck verschlang und tüchtig mit Hagebuttentee nachspülte, ihr überstürzt berichtete, daß er sich in das bravste Mädel unter der Sonne verliebt habe und sie zur Frau nehmen wolle, weshalb er sein Mütterlein möglichst bald nach Prag holen möchte, damit Jitka und er sich bei ihrer Arbeit Enkelchen gestatten könnten.
Je länger ihre Fahrt durch das Land dauerte, das sich gerade in ein gigantisches Heerlager verwandelte, desto mehr schämte sich Erwin Buback seiner nächtlichen Depression.
Die Gesichter der Offiziere und Soldaten auf den Ladeflächen der Lkws wie auf den Sitzen der Stabswagen loderten zwar nicht vor Begeisterung, doch so sehen in allen Armeen der Welt die Gesichter von Menschen aus, die seit etlichen Jahren das zermürbende Kriegshandwerk ausüben. Andererseits las er keineswegs Verzagtheit in ihnen, selbst Müdigkeit nicht, sie wirkten ausgeruht und strahlten ruhige Entschlossenheit aus und das nötige Vertrauen, daß sie schließlich wieder Erfolg haben und obendrein überleben würden.
Dieses Phänomen hatte er schon in der Normandie beobachtet, in Flandern und zuletzt vor der Gegenoffensive in den Ardennen, deren Vorbereitung er noch miterleben konnte. Trotz des Rückzugs auf allen europäischen Kriegsschauplätzen bedurfte es nur irgendwo eines Teilerfolgs, und die Stimmung der Truppe war von einem Tag zum anderen nicht wiederzuerkennen. Die Vorwärtsbewegung, erkannte Buback, war heilsam, einige Tage Vormarsch reichten schon aus, um den Soldaten einen Vorrat an moralischen und physischen Kräften für weitere Monate der Defensive zurückzuverschaffen.
Allerdings kannte er die Pläne des Generalstabs nicht und verstand nichts vom Militärhandwerk, den Rang eines Majors und jetzt Sturmbannführers hatte man ihm verliehen, um seine Autorität besser zur Geltung zu bringen, deshalb wagte er nicht abzuschätzen, was hier eigentlich vor sich ging. Das hügelige Gelände, dessen Südhänge zumeist von Weingärten bestanden waren, eignete sich bestimmt zur Errichtung einer neuen Hauptverteidigungslinie, doch die große Zahl der Panzer, mochten diese sich auch nur durch ihre Kettenspuren im feuchten Boden verraten, berechtigte zu der Annahme, daß es genau in diesem Abschnitt zu der lange angekündigten Wendung kommen konnte.
Auf den deutschen Seelen lag immer noch wie ein schrecklicher Alptraum die unerwartete und zudem vernichtende Niederlage von Paulus’ 6. Armee bei Stalingrad und dann die erfolgreiche Invasion der Alliierten in Frankreich. Verjagen konnte ihn nur ein vergleichbar grandioser Sieg. Standartenführer Meckerle, der ausgezeichnete Verbindungen zum Führerhauptquartier unterhielt, hatte kürzlich unverhüllt angedeutet, der jüngste Rückzug aus Ostpreußen, der stellenweise kopflos wirken mochte und es dem Russen erlaubte, auf uralte Reichsgebiete vorzustoßen, sei Teil der großartigsten Falle in der Kriegsgeschichte. Kein Märchen, keine Fama, meine Herren! Nicht eine Armee, sondern mindestens zwei Armeegruppierungen der Bolschewiken, anderthalb Millionen Mann stark, werden in diesem gigantischen Kessel zu einem einzigen Borschtsch verkocht! Den ließ er sogar im Offizierskasino der Prager Gestapo servieren, und dessen dunkelrote Farbe wirkte sehr anschaulich und ermutigend.
Während des kurzen Spaziergangs auf dem Anger dieses Nestes, dessen Name gleich seinem Gedächtnis entfallen war, fuhr eine gewaltige Artilleriekolonne an ihm vorüber, die sie unterwegs nicht überholt hatten, so daß sie aus einer anderen Richtung verlegt worden sein mußte. Die schweren Zugmaschinen und die Länge der Anhängerfahrzeuge verrieten, daß unter den Planen mit den Tarnfarben Haubitzen in ihre neuen Stellungen fuhren. Ihr Trommelfeuer eröffnete doch jeden Großangriff! Wiederum warf er sich seine gestrige Schwäche vor. Sie war keine Lösung!
Noch im vergangenen Jahr hatte er im Bunde mit allen, die er kannte und nicht kannte, das Attentat auf den Führer verurteilt. Aber waren die Täter nicht vielleicht doch Patrioten, denen ähnliche Zweifel wie Hilde und ihm gekommen waren? Sollte das zutreffen, dann blieben sie gewiß nicht die einzigen. Wenn er sich nicht irrte, riskierten gerade weitere tapfere Menschen, wie Meckerle im