Sternstunde der Mörder. Pavel Kohout
glaubte nicht, daß einer von ihnen insgeheim in den Reihen der Gestapo tätig war. Auch unter seinen eigenen Leuten gab es keinen richtigen Kriminalisten, alle kamen geradewegs aus den SS-Junkerschulen mit einem politischen Auftrag, der für sie in der Hauptsache darin bestand, echten oder vermeintlichen Widersachern die Zähne auszuschlagen, denn kleine Vergehen von Volksgenossen wurden längst nicht mehr untersucht, und wer wollte, konnte auf legale Weise töten und dafür auch noch befördert werden.
Ebensogut wußte er, daß kaum jemand aus anderen Polizeioder Militäreinheiten auftauchen würde, um ihn zur illegalen Mitarbeit am Werk der nationalen Rettung zu bewegen, denn er selbst müßte ihn für einen Provokateur halten und zur Sicherheit vielleicht sogar anzeigen! Dieser Gedanke war um so unerträglicher, als er wahrscheinlich war; viele konnten Interesse daran haben, den wahren Zustand seines Inneren zu erforschen, weil es ihre Aufgabe war, gerade die Träger schädlicher Ideen unschädlich zu machen.
Praktisch blieb also eines: die letzte Kraft zu unterstützen, die gewährleistete, daß Deutschland nicht aufs Haupt geschlagen würde, ehe sich jene Hoffnung erfüllte, die einige hohe Offiziere mit dem tragisch mißlungenen Versuch angeboten hatten, den bösen Geist mit Gewalt aus dem Weg zu räumen. Ebendiese Armee zu unterstützen, die er jetzt beobachtete und an der er bewunderte, wie ungebrochen sie in die vielleicht entscheidende Schlacht zog.
Diese Überlegungen drückten sich auch in seinem Verhalten gegenüber den beiden Tschechen aus. Im Geiste gab er zu, daß auch für sie Hitler alle Deutschen verkörpern konnte. Diesen irrigen Eindruck wollte er plötzlich nicht länger unterstützen. Deshalb nahm er zur eigenen Verwunderung auch das Geschenk an, das sie ihm mitbrachten, ein in eine schneeweiße Serviette eingeschlagenes Brot mit Butter und Speck. Auch während des Essens und danach wahrte er zwar Abstand, um nicht Verdacht zu erregen, doch er wußte geschickt Nutzen daraus zu ziehen, daß Berans Assistent sich ihm gegenüber spürbar verpflichtet fühlte und deshalb wohl oder übel aus seinem Schneckenhaus herauskam. Der junge Mann erachtete es sogar für notwendig, ihm zu verraten, er habe mit seiner Mutter sprechen müssen, um ihr zu eröffnen, daß er zu heiraten beabsichtige.
Buback hielt das Gespräch ohne verdächtige Fragen in Gang. Trotz seiner Natur konnte doch der junge Mann, der sich auf diesem anspruchsvollen Gebiet so gut bewährte, nicht auf den Kopf gefallen sein, bestimmt rechnete er damit, daß das Interesse eines Verbindungsoffiziers der Gestapo nicht bei einem ruchlosen Mörder endete. Aber auch so erfuhr er viel über die tschechische Mentalität, die sich im Laufe der Okkupation stark verändert hatte.
Dann fiel mehrmals ein Frauenname, und er kam erst mit Verspätung dahinter, daß es der Name jenes Mädchens war, an das er in den letzten Stunden öfter als an Hilde gedacht hatte ...
Das Gespräch mit der Mutter beruhigte Morava. Jahrelang hatte er sich nicht damit abgefunden, daß er ihren Traum, das Familienhandwerk auch künftigen Generationen zu erhalten, zerstörte. Beflissen fuhr er immer wieder einmal zu ihr hin, doch nie verspürte er Erleichterung.
Bis heute das Wunder geschah. Als er, von der Zeit gehetzt, ihr in aller Eile von Jitka erzählte, erschrak er zuerst über ihre Tränen. Wird sie obendrein auch noch eifersüchtig? Doch sie legte sogleich die Arme um ihn und sagte, er habe sie unaussprechlich glücklich gemacht.
Also schlug er ihr gleich vor, wenigstens für einige Zeit nach Prag zu kommen, sie könne in seiner Junggesellenbleibe unterkommen, da er sowieso bei Jitka wohne, sie werde ihnen beiden die Sorge um ihr Schicksal hier nehmen, wo es nach baldigem Kampf aussehe. Auch das versprach sie hoch und heilig und gab ihm beim Abschied für Jitka ein seidenbesticktes Brusttuch von der Großmutter mit, das sie selber beim Kirchgang trug.
Er begrüßte noch kurz den Pächter, legte ihm ans Herz, die Mutter beim geringsten Anzeichen von Gefahr in den Zug nach Prag zu setzen, und sah dann auch schon mit verrenktem Hals und voll Rührung zu, wie sich die Frau, in der sein Leben begonnen hatte, entfernte und kleiner wurde, bis nur ein heller Punkt von ihr blieb, den bald der Horizont mit den Rebstöcken verschluckte.
In ungewöhnlich guter Stimmung begrüßte er es, daß die Unnahbarkeit des Deutschen nachgelassen hatte. Freilich stellte er nach wie vor selbst dessen unschuldigste Fragen auf den Kopf, ehe er darauf antwortete, und überlegte blitzschnell, wie Beran sie beurteilt hätte. Dieser Mensch aber schien sich erstaunlicherweise für die hiesige Gegend zu interessieren, und Morava konnte in der Gewißheit, keinen Bock zu schießen, von seiner Kindheit erzählen. An manchen Stellen bildete die Chaussee jetzt die unbewachte Grenze zwischen dem Protektorat und dem Sudetengebiet der einstigen Republik, das nach München dem Reich als Anzahlung auf den Rest zugefallen war, wie wird es hier nach dem Krieg aussehen? hätte er plötzlich gern gewußt, wird er hier, falls sie nicht gefallen sind, seine Mitschüler wiedersehen, die damals in der Klasse Heil! schrien und Heim ins Reich! in der Turnhalle brüllten? Wird es noch möglich sein, hier nebeneinander zu leben?
Dem Deutschen schilderte er begreiflicherweise nur, wie hier noch vor zehn Jahren jedermann in zwei Sprachen plauderte und keiner von der jeweils fremden behauptete, sie sei die schlechtere von beiden. Durch eine weitere harmlose Frage ermutigt, erinnerte er sich, wie man ebenda in den kleinen Weinkellern beim gemeinsamen Verkosten tschechische und deutsche Lieder sang und auch zur «zabijačka» je nach Bekanntschaft eingeladen wurde, nicht nach der Sprache. Was das sei, interessierte sich der Deutsche, und Morava schoß Berans Anweisung bei der gestrigen Verabschiedung auf der Insel durch den Kopf.
Umsichtig, doch plastisch beschrieb er den Brauch, bei dem das grundlegende menschliche Bedürfnis nach Nahrung auf etwas treffe, das bereits die mühsam gezüchtete Frucht von Zivilisation und Kultur sei: dem Fremden vom eigenen Bissen anzubieten und dadurch jener animalischen Begierde vorzubeugen, aus der letzten Endes Kriege entstanden. Das sagte er allerdings nicht mehr, sondern betonte, daß auch in Zeiten wie diesen, da Essen zu etwas Kostbarem und zum Objekt der Spekulation geworden sei, in Südmähren weiterhin der Hunderte von Jahren alte Brauch gelte: Wer früher schon mit einem Gastgeschenk von dannen gegangen ist, hat es auch heute verdient. Was dem, der freigebig schenkt, zum Schicksal werden kann, sagte er und erzählte kühn, wie Beran es ihm geraten hatte, die Geschichte von Jitkas Vater, der ein Schwein geschlachtet hatte, nicht für den Schwarzhandel, sondern um auch Verwandte und Freunde teilhaben zu lassen.
Er bedauerte diesen Einfall, nachdem sich sein Nachbar wieder versteifte, als habe er ein Lineal verschluckt, doch noch ehe er sich strafwürdiger Einfalt zeihen konnte, vernahm er die recht freundliche Versicherung, die Behörden des Reichs, wie er übrigens wissen müßte, respektierten nicht nur das Recht, sondern verstünden auch damit umzugehen. Er, Buback, nehme persönlich nicht an, daß der Vater dieser ... wie heiße sie eigentlich? Jitka Modrá? ja, also von diesem Fräulein Modrá, sie sei gewiß ledig, nicht wahr? so jung wie sie sei? ja, also daß er als Saboteur bestraft werde, wenn sich bestätige, was er hier eben gehört habe. Der Kollege solle nur, wenn sie wieder in Prag seien, dem Fräulein sagen, sie könne ihn, Buback, in dieser Sache ohne weiteres ansprechen, bestimmt werde er sich über den Fall informieren, er benötige nur die Personalangaben.
Morava wollte den Bogen nicht überspannen und behielt das Geständnis, daß es sich hier um seine Braut handle, für sich, ihm schien es vorteilhafter, nicht aus einem so persönlichen Grund als Fürsprecher aufzutreten. Da wuchs aus den Weingärten auch schon der Turm des Schlosses auf, wo der tatverdächtige Jakub Malatínský auf sie warten sollte. Daß er es nicht tat, sollte nicht die letzte Überraschung dieses Tages sein, es genügte aber, ihnen beiden die Stimmung zu verderben, da sich damit die Heimreise auf unbestimmte Zeit verzögerte.
Das Gespräch mit dem jungen Tschechen über Jitka Modrá versetzte Buback in Erregung. Der Apfel einer solchen Schüchternheit mußte von einem ähnlichen Baum gefallen sein, er glaubte gern, daß der Vater des Mädchens einer alten Tradition entsprechend gehandelt hatte und er ihm helfen konnte. Vor einiger Zeit war ihm Goebbels’ vertraulicher Vorschlag für den Führer in die Hände gelangt, das Reich solle so schnell wie möglich seine Politik gegenüber den slawischen Völkern überdenken, deren Gebiete es sich bereits einverleibt hatte. Eine Bevölkerung, der keine Überlebensperspektive vergönnt sei, verbünde sich eher mit Tyrannen, die wenigstens die gleiche Sprache sprechen, hieß es dort so ungefähr.
Buback