Ein Traum von Freiheit. Thomas Flanagan

Ein Traum von Freiheit - Thomas Flanagan


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zurückging, kam eine leichte Brise auf, die die Zweige mit ihren schweren Blättern kaum bewegen konnte. Wir besitzen Ideen, aber die Gefühle besitzen uns. Sie liegen zu tief, um verstanden zu werden, bewegen sich durch ihr eigenes heimliches Leben und tragen uns mit sich.

      Moat House, Ballina, 26. Juni

      Spät in dieser Nacht saß Malcolm Elliott, von Moat House bei Ballina, im Süden von Killala an der Straße nach Castlebar gelegen, in dem kleinen Schreibzimmer, das er neben dem Schlafzimmer eingerichtet hatte, und las noch einmal den Brief, den er in einer französischen Übersetzung von Gullivers Reisen versteckt hatte. Der Name seines kleinen Gutes war für ihn und alle anderen ein Rätsel, denn obwohl das Haus an einer Stelle erbaut worden war, wo einst ein normannischer Wachtturm gestanden hatte, gab es keine Spuren eines Wallgrabens. Das Gut lag am Ufer des Flusses Moy, der eine halbe Meile weiter nördlich durch die Stadt Ballina floß, ein breiter, träge fließender Fluß, über den in der Stadt zwei weite, bucklige Brücken führten.

      Als er zu lesen begann, setzte er sich an seinen Schreibtisch, wo sich das Lampenlicht angenehm auf seine einstigen Lieblingsbücher richtete, auf Bände von Helvetius, Diderot und Holbach. Als er den Brief zu Ende gelesen hatte, lief er jedoch bereits im Zimmer hin und her. Die Lampe war schwach, aber er kannte den Brief fast auswendig.

      Bürger Elliott:

      In Dublin ist jetzt ein provisorisches Direktorat eingesetzt worden und hat die Aufgabe übernommen, die Gesellschaft in Bereitschaft zu halten.

      Die Verhaftung des Leitenden Direktorats im März, die Verhaftung und tödliche Verletzung von Lord Edward Fitzgerald, die darauf folgenden Verhaftungen zahlreicher Ortsführer, haben die Organisation zweifellos geschwächt, aber wir glauben, daß bereits ein hervorragender Anfang einer Restauration gelungen ist.

      Viel ernster war die Niederschlagung der Aufstände in Antrim und Wexford, die viele Menschenleben gekostet hat. Die entscheidende Schlacht im Norden wurde in der Stadt Ballinahinch geschlagen und verloren, wo die Armee der United Irishmen stundenlang den zahlenmäßig weit überlegenen Truppen von General Nugent standhalten konnte. General Monroe, der Kommandeur der United Irishmen, hat um jeden Zoll Bodens gerungen, und der Feind behauptet, fünfhundert United Irishmen getötet zu haben. Die Stadt Ballinahinch liegt jetzt in Ruinen, und es heißt, die Truppen der Krone hätten an der wehrlosen Stadtbevölkerung schreckliche Rache genommen. Henry Joy MacCrakken, der die Hauptarmee von Antrim befehligte, wurde einige Tage früher geschlagen, konnte zuvor jedoch mit einer United-Armee von sechstausend Mann mehrere Städte einnehmen.

      Im Süden kam es zu einem größeren Aufstand, an dem sich etwa zwanzigtausend Mann beteiligten, die eine Zeitlang fast ganz Wexford unter Kontrolle hatten, etliche Schlachten gewannen und wichtige Städte besetzen konnten. Die Rebellion wurde jedoch durch das Fehlen einer richtigen Führung behindert und konnte schließlich durch eine zahlenmäßig überlegene Armee niedergeschlagen werden. Ein Flecken besudelt in der Tat die Banner von Wexford. Die Gerüchte, daß unsere protestantischen Landsleute in Wexford barbarisch mißhandelt worden sind, treffen ohne jeden Zweifel zu. Das Glorreiche an Antrim war, daß dort Presbyterianer und Papist Seite an Seite marschierten, kämpften und starben. Mögen Antrim und die Helden seiner tiefen Täler unser Vorbild sein! Schon der Name unserer Society of United Irishmen verkündet unser Prinzip: eine Union von Katholik und Protestant, die die konfessionellen Gegensätze überwindet, die von unseren Unterdrükkern so sorgsam herangezüchtet worden sind, um uns besser in Knechtschaft halten zu können. Aber unsere Armee in Wexford, obwohl viele ihrer Soldaten offiziell United Irishmen waren, hat eine Vielzahl von Männern angezogen, die wir als Defenders, wenn nicht sogar als Whiteboys bezeichnen müssen, und diese waren auf wütende und ignorante Weise konfessionell. Sie kämpften weniger als United Irishmen denn als Mob, angestachelt von kriegerischen Priestern. Nicht die Republik war ihr Ziel, sondern etwas, was sie als ›den Triumph der Gälen‹ bezeichneten. Und doch kämpften sie sehr tapfer und starben heroisch. Die Bauern von Irland können viel, nein, alles erreichen, wenn sie die richtige Führung haben und wenn sie diese disziplinierte Armee unserer französischen Verbündeten bekommen, auf die wir jetzt alle warten. Die Menschenrechte lassen sich mit einer mächtigen Sonne vergleichen, unter der die alte Bigotterie wie Wachs schmelzen wird.

      Wenn unsere französischen Verbündeten landen, werden die United Irishmen ihnen jegliche mögliche Hilfe leisten. Unsere Bevollmächtigten in Frankreich, Wolfe Tone und seine Genossen, haben ihnen zugesagt, daß die Insel sich erheben wird, und es ist unsere Aufgabe, dieses Versprechen zu erfüllen. In Leinster ist der Widerstand mit der Niederlage bei Vinegar Hill zum Erliegen gekommen, während unsere Organisation in Munster einigermaßen intakt geblieben ist, trotz der Brände und Folterungen, unter denen die Counties Waterford und Tipperary zu leiden hatten.

      Dieser Brief geht an alle unsere Mitglieder in Connaught, die einzige Provinz, die von der Brutalität der Krontruppen bisher verschont geblieben ist. Uns ist die Rückständigkeit dieser Provinz, in der unsere Gesellschaft bisher niemals feste Wurzeln schlagen konnte, durchaus bewußt. Dennoch ist es notwendig, diesen Boden zu beackern, um dort, wie anderswo in Irland, einen Freiheitsbaum pflanzen zu können. Unsere Sache ist gerecht, es geht um die Befreiung unseres Heimatlandes, auf daß es seinen Platz unter den Nationen Europas einnehmen kann. Möge unsere Kraft so groß wie unsere Hoffnung sein!

      Elliott faltete diesen Brief zusammen und legte ihn wieder in sein Versteck. Vor einer Woche hatte ihn ihm ein Mann gebracht, der sich als Hausierer ausgegeben hatte, eine Vogelscheuche mit einer schmutzigen und schlechtsitzenden Perücke, der auf einem elend aussehenden Pony ritt und einen abgezehrten, mit Waren beladenen Esel hinter sich herführte. »Kommst du aus Dublin?« fragte Elliott. »Aus Athlone. Ich will nach Sligo.« – »Hat dir jemand in Athlone diese Briefe gegeben?« – »Was für Briefe?« Uns ist die Rückständigkeit dieser Provinz durchaus bewußt. Was wußten denn diese Dubliner Anwälte und Kaufleute schon von Connaught! Das provisorische Direktorat sollte durch die Straßen von Ballina geführt werden, um sich selber ein Bild vom Stand der Dinge zu machen.

      Er verhakte seine Daumen im Hosenbund und begann wieder, im Zimmer hin und her zu laufen. Er sah aus wie ein Krautjunker aus Mayo, ein Mann mit dem dünnen, nervösen Körper eines Jockeys und einem Gesicht wie eine Beilklinge, schmal und dreieckig. Dicke, sandfarbene Augenbrauen schützten umherhuschende Augen. Er war ursprünglich Anwalt gewesen, aber seine radikalen politischen Ansichten hatten die Feindseligkeit der anderen Gentlemen im County erregt. Er war ein ausdauernder Jäger, rücksichtslos und geschickt, nach der Art von Mayo, und war in Dublin ruhelos und unzufrieden gewesen, weil er sich nach den Feldern und zerfallenen Mauern seiner Heimat gesehnt hatte. Diese Jahre, das wußte er jetzt, waren die glücklichsten seines Lebens gewesen. Seine politischen Ansichten, darauf war er damals stolz gewesen, waren praktisch und unsentimental. Eine Welle hatte sich in Frankreich aufgetürmt und würde ganz Europa überspülen, Monarchen und alte aristokratische Privilegien zerstören; sie würde Irlands Oligarchie zerschmettern, die erbliche Korruption hinwegfegen, Regierung und Parlament säubern, ehrlichen und tatkräftigen Männern neue Karrieren eröffnen. In den frühen neunziger Jahren hatte es in Dublin viele solche Männer gegeben. Sie hatten eine Gesellschaft gegründet. Nun waren sie eine Verschwörung, ihre Führer im Gefängnis oder im französischen Exil, ihre Rebellion war zum Bauernaufstand geworden, bei dem Protestanten auf der Brücke von Wexford und auf Vinegar Hill erschlagen worden waren. Schwache Echos erreichten Mayo: ein Brief, den ein Hausierer brachte; »Bürger Elliott ...«

      Er nahm die Lampe, ging ins Schlafzimmer und betrachtete seine schlafende Frau Judith. Eine Strähne blonden Haares war ihr in die Stirn gefallen; ihr Gesicht war ruhig, oval. Sie war Engländerin, sie hatten sich in London kennengelernt und geheiratet. Aber sie hegte einen viel glühenderen irischen Patriotismus als er selber, als benötigte ihre Zuneigung zu ihrem angenommenen Land eine Bestätigung. In Dublin hatte sie sich mit Pamela Fitzgerald angefreundet, Lord Edwards ernster und lebhafter französischer Frau. In Moira House hatten sie unter dem wohlwollenden Auge eines radikalen Peers von der kommenden Republik Irland geschwärmt und von ihren Ehemännern, die diese Republik schaffen würden. Nun war der arme Edward tot, gestorben an den Wunden, die er erlitten hatte, als er den Soldaten, die ihn in einem Dubliner Slum gestellt hatten, nachdem ihn ein Denunziant verkauft hatte,


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