Ein Traum von Freiheit. Thomas Flanagan

Ein Traum von Freiheit - Thomas Flanagan


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sinnlosen Geheimschriften. Er war nur durch seinen Eid und durch den Brief eines Hausierers an die Gesellschaft gebunden. Aber für Elliott war ein Eid eine sehr ernste Angelegenheit. Er war durch seine Ehre dem toten Fitzgerald verpflichtet, den Männern in irischen und englischen Gefängnissen, den Verschwörern im Pariser Exil. Und in Mayo war er nutzlos für sie.

      Auf ihrer ersten Reise nach Mayo war Irland für Judith ein immer neues Wunder gewesen, als sie die anglisierten Counties des Pale verlassen hatten und über den Shannon in das Land gefahren waren, das in Dublin als »wilder Westen« bezeichnet wurde. Sie übernahm irische Redewendungen und benutzte sie mit beeindruckender Unkorrektheit, aber mit einem Eifer, der die Herzen aller gewann, die mit ihr redeten. »Ach, und welche Tageszeit kann es denn jetzt sein?« fragte sie ihn zum Beispiel, und er antwortete ihr ernsthaft »es kann zehn Uhr sein«. Ein echtes Kind ihrer Zeit, reiste sie mit ihrem Ossian, einem Dichter, wie Elliott fand, der zum abstoßendsten Gefasel, den endlosesten pathetischen Ausschweifungen in der Lage war. Sie fragte ihn nach den Bergen aus, an denen sie vorüberkamen: Welche Helden waren auf ihrem Gipfel begraben, welche Schlachten hatten die Fenier auf ihren Hängen ausgefochten? Elliott wußte wenig über Irlands groteske Sagenwelt. Wer weiß es und wen interessiert das denn schon, hätte er oft gern gesagt, aber klare Augen und ein eifriges Gesicht ließen ihn diese Antwort immer wieder unterdrücken.

      Sie bewegte sich und wandte ihm im Schlaf ihr Gesicht zu. Liebe überwältigte ihn, fesselte ihn durch Empfindungen, die er nicht benennen konnte. Sie lebte in einer anderen Welt als er, die durch ihre Lektüre und ihre Phantasie geformt war. Sie hatten einen Abend in Tom Emmets Villa in Rathfarnham verbracht, am Fuße der Dublin Mountains, in dem kleinen ovalen Arbeitszimmer, gestrichen in dem Stil, den Toms Frau für griechisch hielt, weiß und blaßblau. Auch Russell war dort gewesen, und MacNevin und Bagenal Harvey. Und noch jemand war bei ihrer Unterhaltung zugegen gewesen, als sie sich an Tones quecksilbrigen Witz erinnerten, seine Liebe zu Claretwein, zu Violine und Flöte. Es war Judith und auch Elliott wie eine Verschwörung des Intellekts erschienen, die besten und klarsten Köpfe des Königreichs schlossen sich gegen Barbarei und Korruption zusammen. Emmett saß jetzt im Gefängnis, Bagenal Harvey war vor dem Gefängnis von Wexford aufgespießt. Gefangener eher als Führer der Bauern von Wexford, war er von ihnen als General bezeichnet und dann von einer Schlacht zur anderen gezerrt worden. Nach Vinegar Hill hatte er sich eine Woche lang auf einer Insel vor der Küste versteckt, zitternd und durchnäßt von der Gischt. Wo MacCracken sich in diesem Moment befand, wußte Elliott nicht, vielleicht wartete er in einem tiefen Tal in Antrim darauf, von den Soldaten gefaßt zu werden. Und Tone? Irgendwo in Frankreich mit einer Armee, die vielleicht kommen würde oder auch nicht. Elliott hatte Judith nichts über Bagenal Harveys Schicksal erzählt. Er konnte sich den dunkler werdenden Kopf vorstellen, heraushängende Zunge, vorgequollene Augen. Judith erinnerte sich an Geist, Musik, gewölbte, weiß und blau gestrichene Wände.

      Elliott blies die Lampe aus und ging in der Dunkelheit nach unten, seine Hand glitt über das ebene, vertraute Olivenholz des Geländers. Er durchquerte die Diele und ging nach draußen. Es war eine kühle, klare Nacht dieses außergewöhnlichen Sommers. Die Luft war süß und zugleich beißend, die Gerüche von Vieh und Ernte vermischten sich. Links von ihm floß die Moy ruhig auf Ballina zu, wo in einigen Fenstern noch Licht zu sehen war.

      Was spielte es denn für eine Rolle, hier in Mayo? Es gab ihn in Ballina und John Moore in Ballintubber, Peters, den Kaufmann, in Castlebar, Forrest auf Glenthornes Land, Burke, den Verwalter von Lord Altamont, in Westport. Diese Männer waren vereidigte United Irishmen. Und John Moore hatte mit einigen jungen katholischen Krautjunkern gesprochen. O’Dowd und Blake und MacDonnell. Wenn man ihnen genug Zeit ließ, konnten sie vielleicht zum Handeln überredet werden und vielleicht auch einige ihrer Pächter mitbringen. Elliott kannte ihren Typ, grimmige, impulsive Männer, bereit, mit ihren riesigen Jagdpferden auf die höchste Mauer zuzuhalten, unter Lachen und Zurufen hinüberzufliegen. Sie alle waren launische junge Stutzer, zur Gewalttätigkeit bereit, aber leicht gelangweilt. Wenn man sie alle zusammennahm und noch ein Gutteil der Pächter hinzukam, dann hatte man vielleicht siebzig Mann. Mayo war isoliert von Tom Emmetts Arbeitszimmer, von in Dublin ersonnenen Verschwörungen. Das Moor und die Berge verspotteten jegliche Beredsamkeit.

      Auf der anderen Seite der Bucht, in Sligo, standen die Dinge etwas besser. In der Stadt gab es eine brauchbare Organisation, und MacTier, der presbyterianische Leinenhändler, war ein fähiger Mann, vorsichtig und hartnäckig. Wenn MacTier eine Chance zum Handeln sah, dann würde er handeln, und wenn sich keine Chance ergab, würde er abwarten, so ruhig und gelassen wie ein Mann, der Rollen von Tuch zählt, nur sein kann. Papisten und Presbyterianern war der Eid von Mac-Tier abgenommen worden, vorsichtig, zurückhaltend hatte er in forschendem Gespräch jeden Mann getestet. Und das alles hatte er in einem Lagerhaus geschafft, das mitten in einer der unversöhnlichsten loyalistischen Städte Westirlands stand, einer bitteren Garnisonsstadt. Nicht hier, nicht in Mayo. Aber wie viele konnte selbst MacTier zählen? Hundert vielleicht, nicht mehr. Und das war vor der Niederschlagung des Aufstandes in Antrim gewesen. Sligo blickte gen Norden, nach Ulster, und jetzt kamen nur noch aus den blutigen Tälern von Antrim Nachrichten. Was nutzte ein Brief aus Dublin, dessen hysterischer Optimismus nur noch falsch klang?

      Er ging am Fluß entlang und hörte, wie die kleinen Nachttiere beim Klang seiner Stiefel davonhuschten. Vor einigen Jahren hatte er in Dublin eine Geschichte über Danton gehört, ob sie stimmte oder nicht, wußte er nicht. Als der Haftbefehl gegen ihn erlassen worden war, hielt sich Danton auf seinem Hof vor der Stadt bei seiner jungen Frau auf. Ein Bote brachte ihm die Warnung eines Freundes. Danton zog sich rasch an, stopfte sich ein Hemd und eine Pistole in die Tasche und machte sich durch den Wald davon. Eine Stunde später hielt er inne. Er hatte ruhig in seinem eigenen Haus geschlafen, neben dem warmen, nackten Körper einer Frau. Nun war er kalt und außer Atem in einem finsteren Wald. Er kehrte auf seinen Hof zurück und lag im Bett, ruhig und wach, als sie ihn holen kamen. Elliott, der an der stillen Moy entlangwanderte, konnte diese Geschichte verstehen. Wexford und Antrim waren tausendMeilen entfernt, und das provisorische Direktorat war noch weiter weg. Tone und die französische Flotte waren auf der anderen Seite der Welt, Phantome. Nächste Woche vielleicht oder nächsten Monat würde die Nachricht eintreffen, daß die Franzosen im Süden gelandet wären oder daß Munster sich erhoben hätte. Und vielleicht würde er sich, wie Danton, anziehen, seine Tasche mit einer Pistole beschweren und in den Süden reiten. Aber er war nicht nach Wexford geritten und hatte auch nicht den kürzeren Weg nach Antrim eingeschlagen. Mayo hielt ihn, war stärker als die in einer Villa in Rathfarnham gehegten Träume.

      Mayo war der langsame, unsichtbare Fluß zu seinen Füßen, der an Ackerland und Weideland und Moor auf die entfernte Bucht zufloß. Sie hatten schon mit der Heumahd begonnen, und bald würden auch die ersten Felder abgeerntet werden können. Von nun an würde er jeden Tag mit den Landarbeitern auf dem Felde stehen, bis aufs Hemd ausgezogen, mit vor Schweiß dunklen Achselhöhlen. Gegen Mittag würden Mägde ihnen Butterbrote und Eimer voller kühler Milch bringen. Im klaren Licht, unter einem blaßblauen Himmel, konnte er die Ox Mountains sehen, die Mayo vor den unruhestiftenden Winden Ulsters schützten. Nun bedrückte ihn die Nacht, dunkles Schweigen, schwerer als Reden.

      Ballina, 1. Juli/Ballycastle, 2. Juli

      Sehr früh am ersten Morgen im Juli bestieg John Moore sein Jagdpferd und ritt nach Norden auf die Baronie Tyrawley zu. Er ließ sich Zeit für diese Reise und schlug nicht die kürzesten Wege ein. Um elf erreichte er Castlebar, wo er mit Brian Peters, einem in dieser Stadt ansässigen Kaufmann, zwei Krüge Bier leerte. Um drei war er in Foxford und führte ein langes Gespräch mit Michael O’Hara, einem wohlhabenden Farmer. Gegen Sonnenuntergang traf er in Ballina ein, wo er die Nacht bei Malcolm und Judith Elliott in Moat House verbrachte.

      Sie genossen ein langes, ruhiges Abendessen, sprachen von Dublin und fernen Freunden. Nach dem Essen setzte sich Judith im Salon an ihre Harfe und sang den beiden Männern in ihrem klaren, silberhellen Sopran vor. Elliotts Jockeykörper saß auf der Kante eines zierlichen Stuhls, beim Zuhören preßte er die Hände auf seine Knie, John dagegen war tief im Sofa versunken und streckte die langen Beine aus. Judith hatte ein kleines Repertoire an französischen und italienischen Liedern, die sie, so weit John beurteilen konnte, sehr anerkennenswert sang, aber sie zog die Lieder der Sammlung Hibernian


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