Freiheit und Ehre - Roman nach der wahren Geschichte eines dänischen Freiheitskämpfers. Pernille Juhl

Freiheit und Ehre - Roman nach der wahren Geschichte eines dänischen Freiheitskämpfers - Pernille Juhl


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und dann war er mit einem Mal zurück in der Küche, spürte die Wärme des Herds, der mit Holz beheizt wurde, und roch den Duft von Kaffee und Zimt.

      „Na, Kedde, wollen wir singen?“, würde Oma fragen.

      „Gerne“, hätte Christian geantwortet und die kurzen Beine von der Bank baumeln lassen.

      Und dann hätten sie gesungen, Oma mit einer hohen, klaren Stimme, als seien sie in der Kirche, und Christian mit der zerbrechlichen Stimme des Jungen, der er war.

      Regen fällt in dichten Schauern,

      Sturm peitscht über unser Land und Grund.

      Fegt über Zäune und Mauern,

      sein Joch im Nacken, und stumm unser Mund.

      Doch das Jahr nimmt seinen Lauf,

      bald leuchtet hell das Laub,

      ach, nicht lange, und wieder ist alles des Sturmes Raub.

      Schon als kleines Kind hatte er das Lied auswendig gekannt und begriffen, wie viel Oma ihr geliebtes Südjütland bedeutete.

      „Wir dürfen dieses Lied nie vergessen“, sagte sie ein paar Mal. „Es wurde gegen Ende des letzten Jahrhunderts geschrieben, als Südjütland noch deutsch war und man von der Polizei verhaftet wurde, wenn man auf Dänisch sang.“

      Wie oft hatte er es vor sich hingesummt, während er in der Bäckerei seinen Tagträumen nachhing?

      Vier Jahre lang überließ er sich beinahe täglich seine Träumereien, und einige Monate bevor er den Gesellenbrief in Händen hielt, hatte er eine Bewerbung ans Militär geschickt. Jeden Tag brannte er darauf, nach Hause zu kommen, und jeden Tag fragte er Alma, ob ein Brief für ihn gekommen sei. Sie lachte und sagte: „Lieber guter Kedde, ich werde es dir schon sagen, wenn Post für dich da ist.“

      An dem Tag, als der Brief endlich eintraf, kam sie ihm schon auf dem Hof entgegen und schwenkte das weiße Kuvert in der Luft. Sie strahlte. Nicht weil sie meinte, er solle zum Militär gehen, sondern weil sie wusste, dass es sein größter Wunsch war.

      Sie umarmten sich, und er rief „Hurra!“, bevor er zur Hühnerfarm hinüber rannte, um es Onkel Jes zu erzählen.

      Nicht mehr lange, und er würde seinen Gesellenbrief überreicht bekommen, und dann würde er als Rekrut in die Haderslev Kaserne einrücken. Sie lag ganz in der Nähe von Lindholm Herregård. Ganz in Gerdas Nähe. An dem Tag, als er zum letzten Mal die Bäckerei verließ und daran dachte, dass er nie wieder in einer Backstube arbeiten würde, spürte er ein sonderbares Kribbeln im Magen.

      Haderslev, 1937

      Acht Tage sollten vergehen, bevor sie die Erlaubnis erhielten, die Kaserne zu verlassen. Er hatte den militärischen Gruß gelernt, rechte Hand an die Nahtkante der Mütze, alle Finger durchgestreckt. Die Grußpflicht war Teil seines Bewusstseins geworden, und er reagierte ohne Zögern, sobald er eine Uniform sah. Genauso war ihm der Befehl „Stillgestanden!“ in Fleisch und Blut übergegangen. Er hatte gelernt, dass Offiziere mit silbernen Sternen bestickte Schulterklappen trugen, die der Unteroffiziere zierten braune Dienstgradabzeichen und Feldwebel trugen Balken. Die Gefreiten hatten keine Schulterklappen. Christian schwor sich, seine Schultern sobald wie möglich mit Dienstgradabzeichen auszustatten.

      Intensive Tage voller neuer Erfahrungen, aber auch Wiederholungen lagen hinter ihm, trotzdem waren seine Gedanken immer wieder zu Gerda gewandert. Wann würde er Gelegenheit haben, raus nach Lindholm Herregård zu radeln? Ob sie sich diesmal küssten? Jedenfalls würde er sie einladen, einen Film anzuschauen, in einem dunklen Kino. Es gab so vieles, wovon er träumte.

      Dann, am ersten freien Nachmittag, verließ er die Kaserne in der vorgeschriebenen khakifarbenen Ausgehuniform. Er war glücklich. Die Sonne schien wunderbar, und es war der perfekte Tag, um Gerda zu treffen. Im Waschraum nahm er sich reichlich Zeit, stand so lange unter der kalten Dusche, bis ihm beinahe der Atem stockte. Er rasierte sich gründlich und strich prüfend mit der Hand über die glatte Haut. Ein paar Minuten lang putzte er sich die Zähne und konsultierte schließlich den Spiegel. Er war zufrieden. Das dunkle Haar war modisch kurz geschnitten, die Uniform strahlte Autorität aus, und von den vielen Stunden an der frischen Luft war seine Haut sonnengebräunt. Gerda würde Augen machen.

      Fröhlich pfeifend rollte er auf einem geliehenen Fahrrad durch das Kasernentor.

      Während seiner Zeit in der Bäckerei war er Gerda ab und zu begegnet, wenn sie zu Hause in Kollund gewesen war. Sie trafen sich an einer Straßenecke oder in einem Laden, und ein paar Mal hatte er sie besucht. Starr wie Salzsäulen saßen sie im Wohnzimmer und führten nichtssagende Gespräche über Wind und Wetter, während Gerdas Geschwister um sie herumwuselten und ihre neugierige Mutter sie überwachte. Sie saß in ihrem Sessel und las in einem Wochenmagazin oder strickte unaufhörlich, wobei sie so tat, als höre sie ihnen gar nicht zu. Unterdessen hockte Christian auf dem Sofa und fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut, obwohl Gerda neben ihm saß.

      Sie sprachen über Lindholm und die Bäckerei. Er erzählte von der Arbeit, malte alles schöner aus, als es war und tat so, als sei er ein beliebter und geschätzter Mitarbeiter. Seinen Kollegen Ivar, der ihn hartnäckig ignorierte, erwähnte er nicht, und auch die Bewerbung beim Militär behielt er für sich.

      Manchmal verließ Gerdas Mutter für ein paar Augenblicke das Zimmer. Dann hatten sie einige Minuten für sich, ignorierten die störenden Kinder, die auf dem Fußboden spielten, und ihre Blicke trafen sich. Die Zeit stand still. Sie errötete ein wenig und sah zu Boden, hob dann aber wieder den Kopf und sah ihm in die Augen. Er meinte, Verlangen und Zärtlichkeit in ihrem Blick zu lesen, und fühlte sich innerlich zerrissen. Am liebsten hätte er die Hand ausgestreckt, um sie zu berühren, ihre warme Haut, spürte Lust, aufzustehen und sie an sich zu ziehen, aber er widerstand der Versuchung.

      Dann gerieten sich die Kleinen in die Haare, und einen Moment später war Gerdas Mutter wieder da, um sie auseinanderzuhalten und zu fragen, ob Christian noch eine Tasse Kaffee wolle. Gerda und er glitten zurück in die Wirklichkeit, in der es nichts Unbedeutenderes als Kaffee gab. Er brachte ein blasses Lächeln zustande und lehnte höflich dankend ab. „Aber Ihr Kaffee ist sehr gut, Frau Madsen.“

      Ein paar Wochen bevor der Brief vom Militär gekommen war, hatten sie sich das letzte Mal im Wohnzimmer der Familie Madsen getroffen. Er hatte nichts darüber gesagt. Wenn er nach Haderslev kam, konnte er Gerda überraschen. Und sich vielleicht ohne all die anderen Madsens mit ihr treffen!

      Gerda wurde zu einer Art Besessenheit für ihn. Ständig tauchte sie in seinen Gedanken auf. Während der Stunden in der Backstube verdrängte sie immer öfter sogar das Militär aus seinen Fantasien. Und wenn er ins Bett ging oder nachts aufwachte, materialisierte sie sich förmlich vor seinen Augen. Mal hielt sie ihn wach, mal versank er in intensiven Träumen. Er wollte allein mit ihr sein, sie umarmen, sie küssen.

      Dass es tatsächlich passieren könnte, obwohl Frau Madsen und der Rest der Sippschaft zu Hause waren, ging über seine Vorstellungskraft. Aber Gerda brachte ihn zur Tür, nachdem er ihrer Mutter zum Abschied höflich eine klamme Hand gereicht hatte. Sorgfältig schloss Gerda die Tür zum Wohnzimmer, und als sie hinter der matten Glasscheibe der Haustür standen, lehnte sie sich an ihn. Sein Herz schlug heftig. Er nahm sie in die Arme und ihre Münder begegneten sich in einem kurzen, feuchten Kuss. Dann blickte sie zu Boden und flüsterte „Auf Wiedersehen.“ An diesem Tag hatte sein Rad den Weg nach Hause wie von allein gefunden, und das in Rekordgeschwindigkeit.

      Die Erinnerung daran ließ ihn stärker in die Pedale treten.

      Schon von Weitem raubte ihm die Schönheit des Lindholm Herregård beinahe den Atem. Weiße, herrschaftliche Gebäude mit Zinnen und Spitzen thronten zwischen gepflegten, grünen Wiesen, die sich erstreckten, so weit das Auge reichte. Hinter einem der Häuser konnte er einen kleinen See erahnen, und exotisch bepflanzte Terrassen und Gärten vervollständigten das Bild. Er fuhr jetzt langsamer. Vielleicht war es doch keine so gute Idee? Vielleicht hätte er doch besser anrufen oder einen Brief schreiben sollen. Konnte er hier einfach so unangemeldet aufmarschieren?

      Schließlich


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