Freiheit und Ehre - Roman nach der wahren Geschichte eines dänischen Freiheitskämpfers. Pernille Juhl
einladen.
Der Gedanke an die Freunde Peter und Hans rief die Erinnerung an die Zeiten der Mittelschule wach, an die er gerne zurückdachte. Johannes Fosmark, einer der Lehrer, hatte sein erwachendes Interesse für Literatur gefördert. In den übrigen Fächern lief es nicht so gut, aber Alma und Jes sprachen die Zeugnisnoten nie an, weshalb er davon ausging, dass sie leidlich zufrieden mit ihnen waren.
Die Zeit verrann wie Sand zwischen den Fingern, und eines schönen Frühlingstags – sie gingen bereits zwei Jahre auf die Mittelschule –, den er nie vergessen würde, war alles anders als gewöhnlich. Gerda blickte den ganzen Tag mürrisch drein, und Christian war froh, dass Peter auf direktem Weg nach Hause fuhr, weil er seinen Eltern bei irgendetwas helfen musste. So hatte er das letzte Stück des Schulwegs Gerda für sich allein.
„Wollen wir noch bei den Pferden vorbeischauen?“, fragte er und sah Gerda von der Seite an, die die ganze Zeit über schweigend in die Pedale getreten hatte. Die Aprilluft war ungewöhnlich mild und die Sonne lugte grüßend zwischen den freundlichen Wolken hervor.
„Gerne.“ Sie starrte weiter vor sich auf die Straße, die Lippen fest zusammengekniffen. Sie nahmen sich viel Zeit für ihr Ritual, die Räder gegen die Hecke lehnen und die Pferde füttern, die träge mit dem Schweif nach Fliegen schlugen und zufrieden das Gras aus ihren ausgestreckten Händen kauten. Christian hätte zu gerne gewusst, warum Gerda in so selten schlechter Stimmung war.
„Komm, legen wir uns ins Gras. Ist dir kalt? Du kannst meine Jacke haben, wenn du willst.“
„Danke.“
Ihre Einsilbigkeit beunruhigte ihn immer mehr. Der traurige Blick, die hängenden Schultern.
Eine Weile sahen sie stumm in den Himmel, lauschten dem Zwitschern der Vögel und genossen den Duft des noch jungen Frühjahrs. Dann drehte Christian den Kopf, sah sie an und brach die Stille: „Was ist denn los mit dir?“
„Ich gehe nicht mehr auf die Duborg Schule.“ Gerda starrte weiter ausdruckslos hinauf zu den Wolken.
„Was meinst du damit?“ Christian setzte sich unwillkürlich auf.
Gerda sah ihn immer noch nicht an. „Ich komme nicht mehr zur Schule.“
„Nicht mehr zur Schule?“, echote er und bemerkte ein Schimmern in ihren Augenwinkeln.
Mit dem Handrücken wischte sie ein paar Tränen weg und sah ihn immer noch nicht an. „Mein Vater sagt, ich soll eine Lehre als Zimmermädchen machen.“ Sie schniefte und tupfte sich die Nase mit dem Zipfel ihres Ärmels ab.
„Als Zimmermädchen?“, fragte er und bemerkte, dass er einmal mehr wiederholte, was sie gesagt hatte. Dann fügte er hinzu: „Wo? Warum?“
„Auf Lindholm Herregård, bei Haderslev. Mein Vater sagt, es sei eine sehr gute Stellung.“ Sie sprach immer noch zu dem Himmel über ihnen. Konnte sie ihn nicht wenigstens ansehen?
„Aber wieso denn?“, rief er beinahe. „Du musst doch erst die Schule fertig machen.“
Endlich schaute sie ihn mit feucht glänzenden Augen an. „Wir brauchen das Geld. Es ist teuer, mich zu Hause zu haben, und Mädchen studieren ja doch nicht.“
„Aber du wolltest doch Ärztin werden“, setzte er zaghaft nach, hielt aber inne, als er bemerkte, wie sehr es sie schmerzte. Er wünschte, er hätte es nicht gesagt.
„Es ist entschieden“, sagte sie mit tonloser Stimme und wandte den Blick ab, starrte wieder in die Wolken, die plötzlich schwer und bedrohlich wirkten, als solle es gleich Regen geben; ein Spiegelbild der Stimmung, die über ihnen lag. Gerda zog ihre Jacke zu.
Ein Pferd wieherte. Unten auf der Straße fuhr ein Auto vorbei. Christian hatte einen Kloß im Hals. Er wollte die Hand ausstrecken und sie trösten, hielt dann aber inne. Es würde doch nur unbeholfen wirken. Sie hatten sich nie berührt. Stattdessen sagte er: „Ich würde so gerne weiter mit dir zur Schule gehen. Ohne dich ist es nicht dasselbe.“ Er hörte sein eigenes Seufzen.
Er ließ sich wieder neben sie ins Gras sinken. Wartete darauf, dass sie etwas sagte.
„Wir können uns doch trotzdem hin und wieder sehen, oder nicht?“, fragte sie schließlich.
Wieder richtete er sich auf. „Natürlich. Ich besuche dich, wenn du frei hast. Du kannst dir Bücher von mir leihen, und vielleicht können wir mal ins Kino gehen.“ Seine Stimme klang beinahe begeistert.
Gerda lächelte vorsichtig, setzte sich auf und wandte sich ihm zu. „Du bist sehr nett, Kedde“, sagte sie, und sein Herz schlug etwas schneller. Ärgerlich, dass er Peter nicht davon erzählen konnte. Peter wäre ganz sicher selber gerne alleine mit Gerda gewesen. Das Problem war, dass Peter gerne mit ihr, aber auch mit ihm zusammen war, nur eben am liebsten alleine mit jedem von ihnen. Und Christian ging es genauso. Das würde sich nun ändern. Peter und Christian würden weiter zur Schule gehen, ohne Gerda.
Mit der Erinnerung kam die Traurigkeit. Er versuchte, sich auf das Positive zu konzentrieren. Die Zukunft. Er würde Gerda heiraten und eine glänzende Karriere beim Militär machen, General oder vielleicht Major werden. Er sah bereits die Orden an seiner Brust und dachte an das viele Geld, das er verdienen würde. Sie würden in ein großes Haus ziehen, und er würde Alma und Jes Geld schicken, sodass sie es sich endlich ein wenig gutgehen, ihr Haus renovieren lassen und einen Helfer für die Hühnerfarm einstellen konnten. Alma würde sich weiße Paneelen fürs Esszimmer und ein neues Badezimmer leisten können, wovon sie seit ihrem Einzug träumte.
Er lächelte still, überzeugt, dass er Gerda schon nächsten Samstag ins Kino einladen und in der Dunkelheit ihre Hand halten würde. Und danach, wenn sie noch ausgingen, würde er ihr von seinen Plänen erzählen. Zumindest von einem Teil seiner Pläne. Er wollte keinesfalls mit der Tür ins Haus fallen, aber sie sollte wissen, dass er ehrliche Absichten hatte. Und er war überzeugt, dass er ihr einen Kuss geben würde, sollte sich die Gelegenheit bieten.
Haderslev, 1937
Christian fand sich in seinem neuen Leben als Rekrut gut zurecht. Die Tage flogen nur so dahin, und auch der Samstag glitt schnell vorüber. Er nahm sich vor, Gerda am nächsten Samstag einzuladen.
Kurz darauf bekamen er und einige Kameraden früh am Nachmittag dienstfrei und schlenderten gemeinsam die Hauptstraße in Haderslev entlang. Zu seiner Überraschung entdeckte er Gerda, und eine Sekunde später kam es ihm vor, als habe ihm jemand in die Brust geschossen. Er sank beinahe zusammen. Sie war nicht allein. Ein hochgewachsener, dunkelhaariger Kerl ging neben ihr, und die Blicke zwischen ihnen und das Lächeln auf ihren Gesichtern ließen keinen Zweifel zu. Ihre Körper sprachen dieselbe Sprache, ohne dass sie sich berührten. Ihm wurde übel und er meinte, sich übergeben zu müssen.
Sie winkte. Er konnte unmöglich so tun, als habe er sie nicht gesehen, und winkte ihr seinerseits zu.
Bis zu dieser Begegnung hatte es ihm auf der Seele gelegen, nach Sønderborg versetzt zu werden, um die Ausbildung zum Feldwebel zu absolvieren. Aber jetzt konnte es nicht schnell genug gehen, Haderslev den Rücken zu kehren. An einem seiner letzten Tage vor der Versetzung traf er sie noch einmal. Sie ging auf der anderen Straßenseite, überquerte die Fahrbahn und kam auf ihn zu, sodass er ihr nicht ausweichen konnte.
„Guten Tag, Christian. Ist schon ein bisschen her, dass wir uns gesehen haben.“
„Da hast du recht.“ Sein Blick ruhte auf ihrem hübschen Gesicht. Sie war ganz offensichtlich froh, ihn zu sehen, und sein Herz machte einen kleinen Sprung.
Einen langen Moment sahen sie sich schweigend an, dann nahm er seinen Mut zusammen. „Hast du Zeit für eine Tasse Kaffee?“
„Ja, gerne“, antwortete sie prompt.
Sie betraten ein kleines Café, setzten sich an einen Tisch am Fenster und Christian bestellte Kaffee und Kuchen für sie beide. Er kam sich vor wie in einer Blase, in der es nur Gerda und ihn gab. Die übrigen Gäste und die Bedienung waren wie Schatten in einem pantomimischen Schauspiel.
„Du bist