Thomas Müller. Jörg Heinrich

Thomas Müller - Jörg Heinrich


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Achtzehn Prozent der Leserinnen des Fachmagazins Frau im Spiegel wählten Thomas zu ihrer Nummer eins, der damit Vorjahressieger Manuel Neuer ablöste, der nur noch auf sechzehn Prozent kam. Sogar die Entwickler des Fußball-Videospiels „FIFA 17“ ließen sich vom unwiderstehlichen Müller-Charme einlullen und bewerteten Pähls besten Fußballer aller Zeiten deutlich besser, als es seinen reellen Leistungsdaten entsprochen hätte.

      „Müller ist in nichts besonders gut. Er ist kein großer Dribbler und schießt auch nicht besonders gut – sein Abschluss geht manchmal sehr, sehr daneben. Auch seine Schussstärke ist nicht gerade berühmt“, verriet der Kölner Spieleproduzent Michael Müller-Möhring, der in Deutschland für die Spielerbewertungen in „FIFA 17“ zuständig ist, dem Sportsender ESPN. Macht aber nichts – dann muss man eben ein bisschen tricksen. Und so wurde aus Einzelwertungen von durchschnittlich 72 Punkten am Ende doch noch eine stolze Gesamtpunktzahl von 87, die alle Gesetze der Mathematik aushebelte – und die Müller unter den besten zehn Spielern der Bundesliga immerhin noch auf Platz neun hievte. Kein anderer Fußballer genoss in der neuesten „FIFA“-Ausgabe so eine Sonderbehandlung. Bei korrekter Beurteilung von Thomas Müllers Leistungswerten, so Experte Müller-Möhring, würde „am Ende eine Bewertung herauskommen, die in unseren Augen keinen Sinn ergibt“. Wir lernen daraus: Der Fußballer Thomas Müller entzieht sich jeder rationalen Bewertung.

      Wenn dieser ganz besondere Müller-Faktor dazukommt, dann drückt nicht nur Electronic Arts zwei Augen zu, einer der weltgrößten Spielehersteller, der hinter „FIFA 17“ steht. Wenn heutzutage eine Firma von sich reden machen will – dann veröffentlicht sie am besten eine Umfrage, in der Thomas Müller vorkommt. Denn dann ist der Erfolg garantiert. Die Website der Bild etwa fragte im Vorfeld der EM 2016, mit welchem Nationalspieler sich die deutschen Fans am liebsten das Zimmer teilen würden. Sieger wurde natürlich Thomas Müller, mit 13,2 Prozent der Stimmen (16,9 Prozent bei den Männern, 8,1 Prozent bei den Frauen).

      Der Playboy erkundigte sich vor der Europameisterschaft, mit wem seine Leser am liebsten ein Bierchen heben würden (vom aktuellen „Playmate des Monats“ mal abgesehen). Auch hier der Sieger, mit beinahe einem Viertel der abgegebenen Stimmen: Thomas Müller. Keine Abstimmung ist zu doof, als dass sie nicht mit dem Namen Müller für jede Menge Aufsehen sorgen würde.

      Ein Ferienhausportal wollte wissen, welchen Fußballer die Deutschen am liebsten mit in den Urlaub nehmen würden. Den Sieg holte sich wie immer Thomas Müller, mit dem jeder zweite Deutsche gerne verreisen würde. Auch dagegen kann sich der arme Thomas nicht wehren. Der zweitplatzierte Robert Lewandowski war chancenlos gegen Müller und kam nur auf bescheidene acht Prozent. Und 35 Prozent der Deutschen würden laut Umfrage eines Lotterieveranstalters nach einem Lottogewinn am liebsten Thomas Müller finanziell unter die Arme greifen – wobei man bei einem Blick auf den Gehaltszettel vermutlich feststellen würde, dass die Not im Hause Müller durchaus überschaubar ist. Man ist daheim in Straßlach (und demnächst in Otterfing) nicht unbedingt auf fremde Lottogewinne angewiesen.

      Warum also mögen wir alle diesen Müller so? Weil er so wunderbar naturbelassen jubelt, weil seine herzige Spielerfrau Lisa eigentlich gar keine Spielerfrau ist, weil er die unmöglichsten Tore möglich macht, weil er die besten Sprüche der Bundesliga (und weit darüber hinaus) klopft, weil er keinen Lamborghini fährt, weil seine Haare garantiert noch nie gestylt wurden, weil er nicht einmal tätowiert ist, weil er sich nie verletzt (vier verpasste Spiele seit 2009!), weil er der Nachfolger vom großen Gerd Müller ist, weil er rackert bis zum Umfallen und weil wir das Gefühl haben: Der Müller Thomas, der ist noch einer von uns – bloß, dass er halt zufällig ein bisserl besser Fußball spielt als wir. Aber auch nicht so erschreckend gut wie Lionel Messi oder Cristiano Ronaldo. Der Fußball, den Thomas Müller draufhat, wirkt irgendwie noch greifbar, volksnah. Auch das macht ihn so sympathisch.

      Es ist höllisch schwer, gegen diesen Thomas Müller anzukommen, gegen diesen Anarchisten, Hundling, gegen den lässigsten Kicker der Welt. Dortmunds Trainer Thomas Tuchel soll gerade ein neues Rezept gegen Müller, gegen den FC Bayern entdeckt haben. Der asketische Fußballlehrer will die Münchner nun auch mit Meditation und Yoga besiegen, heißt es. Deshalb lasse er jetzt zweimal pro Woche Dr. Ulrich Bauhofer aus München einfliegen. Der Ayurveda-Guru gilt als Kapazität für die Kunst der Versenkung, wie sie bereits im 6. Jahrhundert der chinesische Großmeister Chi-Chi (nicht zu verwechseln mit Gigi Buffon, der erst schätzungsweise im 8. Jahrhundert geboren wurde) lehrte. Doch einen besseren Experten für die Kunst der Versenkung als Thomas Müller wird auch der BVB nicht auftreiben. Zwanzigmal hat Müller allein in der Bundesligasaison 2015/16 die Kugel im gegnerischen Tor versenkt. In Sachen Versenken sollte Thomas Tuchel daher noch einmal tief in sich gehen.

      KAPITEL 2

      Ortstermin: Das Phantom von Pähl

      Am Ortseingang das große Schild: „Die Thomas-Müller-Gemeinde Pähl heißt ihre Besucher willkommen.“ Nur 100 Meter weiter eine riesige Holzschnitzerarbeit mit den ineinander verschlungenen Wappen des TSV Pähl und des FC Bayern München: „Pähl, Heimat von Fußball-Weltmeister Thomas Müller“.

      So stolz, so prahlerisch, so protzig … würde Pähl seine Gäste niemals begrüßen. Die Wahrheit schaut so aus: Die riesigen Anschlagtafeln am Ortseingang, auf denen zum Beispiel Wallgau lange Zeit seine Biathlon-Königin Magdalena Neuner hochleben ließ – in Pähl fehlen sie komplett, was überaus angenehm, bescheiden und zurückhaltend wirkt. Der Müller würde so ein Remmidemmi ohnehin nicht mögen und die Leute in Pähl erst recht nicht. Wenn Thomas Müller ungefähr einmal im Monat heimfährt, zu Mama Klaudia, zu Papa Gerhard, zu Bruder Simon, und dann jedes Mal an seinem eigenen Gesicht vorbeikäme, das ginge gar nicht. Es langt schon, dass überall die Rewe-Reklame mit dem Müller rumsteht.

      Im Gegenteil: Wer durch Pähl schlendert, tut sich schwer, auch nur den kleinsten Hinweis darauf zu finden, dass hier ein Superstar des Weltfußballs seine Wurzeln hat. Thomas Müller ist das „Phantom von Pähl“, der große Unsichtbare in seinem Heimatdorf. Selbst am Tag vor dem EM-Finale 2016 in Frankreich ist Pähl praktisch fußballfrei. Hier müllert es nicht. Keine Autos mit Fahnderl brausen durch den Ort. Und die Gärten der alten Bauernhöfe und der neuen Einfamilienhäuser sind nicht schwarz-rot-gold beflaggt. Das mag daran liegen, dass Thomas Müller und Kollegen zwei Tage zuvor gegen den Gastgeber ausgeschieden sind. Und vielleicht auch daran, dass Null-Tore-Müller zwei Jahre nach dem WM-Titel eine für seine Verhältnisse recht bescheidene Europameisterschaft spielte. Aber man möchte beinahe wetten: So wie Pähl und seine Pähler ticken, wäre es hier genauso stad, genauso ruhig, wenn Thomas Müller tags darauf als triumphaler EM-Torschützenkönig im Finale gegen die Portugiesen, gegen Cristiano Ronaldo, um den Titel spielen würde.

      Aber wie ticken sie eigentlich, die Pähler? Bürgermeister Werner Grünbauer, überraschend nicht von der CSU, die die Erfindung des prächtigen Freistaats Bayern und all seiner Herrlichkeiten für sich reklamiert, sondern von der Unabhängigen Bürgerliste, findet vor allem ein Wort: „Beschaulich“. Im Bayerischen Fernsehen regte er sich beinahe unbeschaulich auf, weil der Reporter sich erkundigte, warum in Pähl nicht mehr vom Thomas-Müller-Fieber zu spüren sei: „Ganz Pähl muss irgendwo ausflippen, weil der Thomas Müller halt jetzt da eine tragende Rolle spielt? Aber das ist natürlich nicht so. Das ist ein beschaulicher Ort, die Bürger sind beschaulich.“ Grünbauer denkt jetzt allerdings darüber nach, eine Turnhalle nach Thomas Müller zu benennen – für Pähler Verhältnisse beinahe schon eine kleine Revolution. Ein Müller-Denkmal würde er dagegen für übertrieben halten, zumindest vorerst: „So etwas bekommt man nach Lebzeiten für sein Lebenswerk, und nicht mit 24 oder 25 Jahren.“ Anatomisch wäre ein Müller-Denkmal auf jeden Fall interessant, auch wenn die Gefahr bestünde, dass die dürren Haxen und Ärmchen des spargelbeinigen Superstars beim leichtesten Windhauch vom Denkmal abbrechen. Denn nicht nur Bürgermeister Grünbauer weiß: „Der Müller hat ein Gestell, das ist unvergleichbar. Den erkennst du aus 200 Metern Entfernung.“

      Der Duden beschreibt die Pähler Beschaulichkeit, in der der kleine Müller groß wurde, ganz wunderbar als „in Wohlgefühl vermittelnder Weise geruhsam“. Zur Vertiefung gibt’s noch die synonymen Adjektive „besinnlich, betulich, friedlich, gemütlich, geruhsam, idyllisch“ mit auf den Weg. Und


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