Thomas Müller. Jörg Heinrich

Thomas Müller - Jörg Heinrich


Скачать книгу
zum entspanntesten, zum schlitzohrigsten Kicker mindestens seit „Katsche“ Schwarzenbeck, der muss sich in Pähl umschauen. Ein Mann, ein Ort. Hier werden keine coolen Hip-Hopper wie Jérôme Boateng groß und wahrscheinlich auch keine Mario Götzes. Hier gedeihen Müllers mit spindeldürren Haxen.

      Wobei man sagen muss: Es gibt tatsächlich einen Müller in Pähl, der unübersehbar mitten im Ortszentrum auf sich aufmerksam macht – allerdings keinen Thomas, sondern ein Wirtshaus. „Müllers Lust“ heißt das Restaurant mit deutschösterreichischer Küche, das erst seit Januar 2016 unter neuer Leitung in der über 400 Jahre alten Pähler Hofmarkmühle ansässig ist. Das „Müllers Lust“ ist Wirtshaus und Greißlerei gleichzeitig. (Wer sich erkundigt, was eine Greißlerei ist, der erfährt, dass der Österreicher, der sich sprachlich längst auch in Bayern ausgebreitet hat, ein kleines Geschäft, quasi einen Tante-Emma-Laden, als „Greißlerei“ bezeichnet. Und tatsächlich: Zum Wirtshaus gehört ein kleiner, feiner Hofladen, der allerlei Spezialitäten verkauft – Selbstgemachtes, Eingelegtes, Eingekochtes, Vergorenes und Gebranntes.) Dass „Müllers Lust“ ausgerechnet „Müllers Lust“ heißt, lässt sich mit der Geschichte der Hofmarkmühle allemal gut begründen. Und dass ein Müller-Wirtshaus mitten im Müller-Dorf steht, kann dem Umsatz bestimmt nicht schaden. Das Spekulieren auf den Müller-Tourismus sei den tüchtigen Wirtsleuten Annabelle und Josef Hohensinn verziehen, denn die Grammelknödel „von dahoam“, die der Josef zaubert, und die handgwuzelten Schupfnudeln als Nachspeise sind von wahrhaft Müller’scher Qualität, also weltmeisterlich. Ein Besuch wird dringend empfohlen.

      Direkt gegenüber von „Müllers Lust“ war ein anderer Prominenter quasi daheim, nämlich der Sänger Peter Maffay, seit vielen Jahren ansässig in Tutzing am Starnberger See, nur elf Kilometer von Pähl entfernt. Weil es den Maffay ärgerte, dass der Traditionsgasthof „Alte Post zu Pähl“ mit seinem herrlich grünen Biergarten geschlossen war, kaufte er die „Post“ 2009 kurzerhand und ließ dort ein paar Jahre lang neben weiteren Köstlichkeiten den angeblich gschmackigsten Kaiserschmarrn des ganzen Pfaffenwinkels auftischen. Zum großen Hit hat es dennoch nicht gereicht, obwohl die Bild den Maffay-Gasthof als „Leberkäs-Paradies“ und „Bayern-Juwel“ feierte. Weil sich die Leut’ in und um Pähl bekanntlich von Prominenz nicht besonders beeindrucken lassen, lief der Laden offenbar nicht gut genug, und so hat die „Alte Post“ mittlerweile wieder geschlossen. Der prächtige Biergarten ist einmal mehr verwaist, Tische und Bänke sind in einer Ecke zusammengerückt und geben ein trauriges Bild ab. Wer Fragen hat, so ein Aushang, möge sich telefonisch im Büro von Peter Maffay melden. Ja, so gehen die Dinge in Pähl ihren Gang, beschaulich, gemächlich, unaufgeregt. Jeden dieser Orte, jede Straße, jede Gasse kennt Thomas Müller wie seine Westentasche. „Zu vielen Plätzen habe ich eine emotionale Beziehung, weil ich in der Kindheit oder Jugend hier bestimmte Dinge erlebt habe“, hat er der Welt verraten. „Im Hochschloss hat zum Beispiel ein Schulfreund von mir gewohnt, den ich öfter besucht habe. Darum ist es schön, irgendwo hinzukommen, wo man quasi jeden Stein kennt.“

      Zwischen den Häusern von Pähl kirchturmspitzt die barocke Pfarrkirche St. Laurentius hervor, in der Thomas Müller ministriert hat. Gleich daneben die Volksschule für 85 Buben und Mädchen, an deren Fassade die Aufschrift „Schule“ nicht mehr in Graubraun geschrieben steht, wie zum Thomas seinen Grundschulzeiten, sondern bunt und weltoffen in Regenbogenfarben. Ein bisserl muss man ja doch mit der Zeit gehen. Und noch ein paar Meter weiter steht das Rathaus mit seinem Anschlagtaferl. Hier gibt es tatsächlich einen Hinweis auf Fußball – den einzigen weit und breit. Die Freiwillige Feuerwehr lädt zum EM-Public-Viewing ins Pfarr- und Gemeindezentrum (PGZ), allerdings mit Einschränkungen. Damit die Aufregung im Ort nicht überhandnimmt, werden Halbfinale und Finale nur „bei Qualifizierung der deutschen Nationalmannschaft“ öffentlich gezeigt. Sonst nicht. Somit musste das Endspiel im PGZ Pähl leider entfallen, so weit geht die Fußballliebe dann doch nicht.

      Die Pähler haben – zumindest laut Anschlagtaferl – ohnehin genug andere Dinge zu tun. In Weilheim steigt die Hüttengaudi auf dem Volksfestplatz, mit Livemusik von „K-Zwoa“. Die nächste Landfrauenlehrfahrt der Ortsbäuerinnen führt ins Tiroler Lechtal und nach Elbigenalp, dem Geburtsort der „Geier-Wally“. Das Forstamt Weilheim veranstaltet einen Informationsabend zum Thema Borkenkäfer. Und die Ausländerbehörde Weilheim lädt zum Asylkonvent, auf dem Herr Helmut Hartl spricht, Sachgebietsleiter Ausländerwesen im Landratsamt Weilheim-Schongau. Ach ja, der Landesbund für Vogelschutz lädt auch ein, zum Storchenspaziergang. Und im Festzelt Hochstadt tritt die gschnapperte Kabarettistin Luise Kinseher auf, die „Mama Bavaria“ vom Münchner Nockherberg. Nachtflohmarkt in Weilheim ist auch, und der Pähler Maibaum reckt sich (ohne Wappen des FC Bayern und ohne Thomas-Müller-Taferl) stolz in die Höhe. Ein bodenständiges junges Paar ohne Kinder sucht ein Haus zu mieten. Und auf einem alten Bauernhof steht geschrieben: „Schätze den Bauern, weil Du von ihm lebst“.

      Kann man in dieser wunderbar entschleunigten Pähler Beschaulichkeit überhaupt nach dem Haus fragen, in dem Thomas Müller aufgewachsen ist, in dem seine Eltern bis heute wohnen? In der Bäckerei Scholz in der Tutzinger Straße 4, die der Österreicher wahrscheinlich „Greißlerei“ nennen würde, weil es dort alles nur denkbar Essbare zu kaufen gibt, vom Zwetschgendatschi aus der eigenen Backstube bis zum Knödelbrot und zur Wassermelone, kann man schon mal nicht fragen. Denn der Kramerladen, in dem Thomas Müller als Bub seine „Asterix“-Heftln und seine Guatln (Süßigkeiten) bezogen hat, Toffifee und Haribo-Gummibärli, sperrt samstags schon um 12 Uhr zu.

      Und, um ehrlich zu sein, man kann auch sonst niemanden fragen. Denn wo die Müllers wohnen – das ist das am besten und zugleich am schlechtesten gehütete Geheimnis von ganz Pähl. Die Einheimischen würden einen Teufel tun und die Touristen, die ganzen Neugierigen, zum Müller-Schauen schicken. Im Dorf, „in dem jeder jeden kennt“ (so Thomas Müller), weiß niemand, wo die Familie Müller wohnt. Beziehungsweise: Man weiß es natürlich ganz genau, aber man sagt es nicht, was auch völlig in Ordnung geht. Die Privatsphäre der Müllers zu schützen, ist dem ganzen Ort eine Herzensangelegenheit geworden. Aber weil die Neugiermaschine Google bekanntlich alles weiß und es auch sagt, ist das Geheimnis nach wenigen Klicks auf dem Smartphone kein Geheimnis mehr – auch wenn die Müllers schon lange nicht mehr im Telefonbuch stehen.

      Man kommt sich fast ein bisserl schäbig und allzu neugierig vor beim Müller-Schauen. Und man macht sich dann auch schnell wieder vom Acker, bevor die Nachbarn bös werden und schimpfen, was sich da schon wieder für ein lästiges Gschwerl aus der Großstadt rumtreibt. Deshalb nur so viel: Schön haben sie’s, die Müllers, mit Wintergarten, großen Fenstern und viel Grün, bloß vom Fußball ist nichts zu sehen. Aber man schaut ja auch nicht allzu genau hin, wegen der Zurückhaltung und der Diskretion. Mit diesem Gedanken verabschiedet man sich dann schnell wieder und lässt den Müllers ihre wohlverdiente Ruhe.

      In dem Haus, das in Pähl jeder kennt und keiner kennt, arbeitet Thomas’ Mutter Klaudia Müller jedenfalls jetzt als Unternehmensberaterin, Coach und Mentaltrainerin – mit einschneidenden Konsequenzen für den Junior. Denn er musste sein Kinderzimmer räumen: „Das wurde umfunktioniert in einen Büro-Lounge-Bereich für meine Mama“, verriet er der Welt. „Ich wurde praktisch rausgeschmissen. Da habe ich natürlich die eine oder andere Träne verdrückt.“ Ganz ernst gemeint hat er das aber nicht, der ewige Lausbub aus Pähl.

      Bereits 2009 ist Thomas hier ausgezogen – weg aus Pähl, weg auch vom kleinen Bruder Simon, der drei Jahre jünger ist und der es ebenfalls nachhaltig müllern lässt. Allerdings neun Klassen niedriger als der große Thomas, in der A-Klasse Kreis Zugspitze, immer noch für den heimischen TSV Pähl. 24 Saisontore sind für Müller jr. keine Seltenheit, in seiner Jugend hat er sogar ein Probetraining beim FC Bayern absolviert. Und TSV-Trainer Torsten Wechsler ist überzeugt: „Simon ist nicht nur ein supernetter Typ, er spielt auch überragend für unsere Klasse. Er ist eine Bereicherung, er könnte zwei bis drei Klassen höher spielen.“ Bürgermeister Grünbauer setzt noch einen drauf: „Simon könnte locker drei, vier Klassen höher spielen. Er ist nicht so weit weg von seinem Bruder, hat die gleichen Spielanlagen.“

      Bloß – zum Fußballprofi fehlen dem kleinen Müller trotz Grundschnelligkeit und Kämpferqualitäten offenbar die Gene: „Ich habe meinen ganzen Talentanteil großzügig Thomas überlassen. Besser ein Vollprofi


Скачать книгу