Thomas Müller. Jörg Heinrich
Dass er nicht diesen Egoismus hat. Er spielt immer den besser Postierten an. Er ist nicht derjenige, der am Ende des Tages auf Teufel komm raus aufs eigene Tor geht. Thomas spielt im Zweifelsfall auch ab, und das ist eine charakterliche Qualität, die mir bei ihm extrem gut gefällt. Er sagt ja gerne, dass es ihm im Endeffekt egal ist, wie viele Tore er selbst schießt. Und das ist nicht nur so dahingesagt. So tickt Thomas Müller tatsächlich.
Wie erleben Sie ihn im Alltag – dieses „Radio Müller“, das ständig auf Sendung ist?
Rummenigge: Er redet viel, das steht absolut fest. Aber ich muss sagen: Thomas redet keinen Blödsinn. Und das ist das Entscheidende. Was er sagt, hat Hand und Fuß. Und er erzählt es mit einer bayerischen Note, mit einem bayerischen Schmäh, mit einem Hintersinn, der ihn einzigartig macht. Manchmal ist es sogar hinterfotzig, was in Bayern übrigens kein Schimpfwort ist. Und der eine oder andere Spruch erinnert durchaus an Karl Valentin. Mir gefällt das, muss ich offen und ehrlich sagen.
Wenn wieder die Wahl zum Weltfußballer oder zu Europas Fußballer des Jahres ansteht, reden alle von Ronaldo und Messi und manchmal auch von Manuel Neuer. Von Thomas Müller sprechen dann die wenigsten. Wird er immer noch ein bisschen unterschätzt?
Rummenigge: Nein, gar nicht. Thomas Müller ist weltweit einer der bekanntesten Spieler, die Deutschland zu bieten hat, und wird mit höchstem Respekt angesehen. Er hat ja den großen Vorteil, dass er quasi der Namensnachfolger von Gerd Müller ist, der auch schon weltberühmt war. Den Namen Müller kennt man also überall, davor haben alle Respekt, das ist ein absolutes Markenzeichen. Ich weiß noch, als wir 2015 in China waren, sind die Menschen dort völlig ausgeflippt, als Thomas Müller aus dem Hotel rausgekommen oder als er auf den Platz gegangen ist. Er war dort ein bisschen der Kaiser von China.
Und daheim in Bayern ist er das personifizierte „Mia san mia“, die große Identifikationsfigur. Macht ihn das für den FC Bayern über das Sportliche hinaus noch wertvoller?
Rummenigge: Er verkörpert natürlich das Bayerische, den Parade-Bayern schlechthin in unserem Verein. Thomas ist in der Nähe von München geboren, er ist bei unserem Nachwuchs groß geworden, dann direkt in die Erste Mannschaft gekommen, in der er seit sieben, acht Jahren höchst erfolgreich spielt. Er ist ein Gaudibursche, und er ist auf dem Boden geblieben. Das kommt bei den Leuten natürlich extrem gut an. Sie kennen ja sicherlich diese Herrgottsschnitzer in Oberammergau. Wenn die einen bayerischen Fußballer schnitzen würden, dann käme Thomas Müller heraus.
KAPITEL 4
„Müller spielt immer“: Durchbruch unter Louis van Gaal 2009
Ach ja, der Louis van Gaal. Bei Lichte betrachtet ist Louis ja „nur“ Fußballtrainer. Doch nach eigenem Empfinden ist er: Louis I., König der Niederlande. Dass Königin Beatrix nach ihrer Abdankung 2013 nicht ihn, einen der größten Söhne des Landes, als Nachfolger einsetzte, sondern ihren dahergelaufenen Blaublut-Sohn Willem-Alexander, hat Louis van Gaal angeblich nie verkraftet.
Okay, wir übertreiben. Trotzdem muss man sagen: An Selbstvertrauen hat es dem prächtigen Trainer nie gefehlt – auch wenn es der FC Bayern zwischen Juli 2009 und April 2011 keine zwei Jahre mit ihm aushielt. Dann hatte Uli Hoeneß genug vom „Sonnenkönig der Säbener Straße“, über den er später in der niederländischen Zeitung De Telegraaf ätzte: „Sein Problem ist, dass Louis sich nicht für Gott hält, sondern für Gottvater. Bevor die Welt existierte, war Louis schon da. Aber so, wie er die Welt sieht, so funktioniert sie nicht.“
Was bleibt von Aloysius Paulus Maria van Gaal, von dem München lernte, auf Niederländisch zu fluchen, der aber garantiert weder ein „Rectumslikker“ noch ein „Zoetwateradmiraal“ war? Nun, natürlich das „Feierbiest“, das den Bayern-Fans 2010 auf dem Rathausbalkon den Europacup versprach, die „Löffelchenstellung“, in der er nach eigenem Bekunden mit seiner Truus die Nächte verbrachte – und vor allem sein Fußball. Man kann manches sagen über den menschlich doch recht anstrengenden Trainer. Aber: Er hat den FC Bayern spielerisch in die Moderne geführt. Nach Irrungen und Wirrungen, nach Medizinball-Magath und Buddha-Klinsmann, hatte der FC Bayern ab 2009 mit Louis van Gaal endlich wieder einen Fußballlehrer, der auch praktischen Fortschritt bringt – und einen funktionierenden Plan, wie die Mannschaft spielen soll. Moderner Offensivfußball, dominant, ballbesitzorientiert, mit vielen Positionswechseln. Van Gaals Credo ist das unablässige „Kreieren von Torchancen“. Erst Louis van Gaal erfindet für den FC Bayern den Fußball, den Jupp Heynckes verfeinert, den Pep Guardiola perfektioniert und den Carlo Ancelotti heute weiterträgt in die Zukunft. Philipp Lahm beteuert: „Van Gaals Spielidee hat den Grundstein für unser Triple 2013 gelegt.“
Louis van Gaal stellt Bastian Schweinsteiger ins Zentrum und erzieht ihn zum Weltklassefußballer. Van Gaal macht Holger Badstuber zum Profi und zum Top-Innenverteidiger. Und das Meisterstück des Exzentrikers und Rioja-Liebhabers könnte man so beschreiben: Kolumbus hat Amerika entdeckt – aber Louis van Gaal hat Thomas Müller entdeckt. Er prägt den Spruch, den Pep Guardiola 2016 im Champions-League-Halbfinale bei Atlético bekanntlich nicht beherzigen und bitter dafür bezahlen sollte. „Müller spielt immer“, heißt es beim Holländer, als der erwähnte Bursche noch nicht einmal zwanzig Jahre alt ist. Vollständig ausgeschrieben lautet der legendäre Satz übrigens: „Bei mir spielt Müller immer – auch wenn Robben und Ribéry zurück sind.“ Doch für die Ewigkeit hängengeblieben ist dieses kurze, knackige „Müller spielt immer“.
Ein Jahr davor, mit jugendlichen achtzehn, ist Thomas Müller froh, wenn er überhaupt einmal spielen darf bei den Profis. Von „immer“ kann er noch nicht einmal träumen. Thomas ist gerade erst endgültig in den Kader von Hermann Gerlands Bayern-Amateuren aufgerückt, und er muss noch viel lernen. Defensivverhalten, Kampfgeist – verbesserungswürdig! Gerland, der Mann mit dem legendären Ruhrpott-Humor, tauft ihn „Fräulein Müller“, weil der nicht übertrieben robuste Pähler nach rustikalen Zweikämpfen gern auf dem Boden liegenbleibt und sein schweres Schicksal beklagt. Immerhin: Schon damals verletzt sich „Fräulein Müller“ nie – ein seltenes Glück, das ihm bis heute als „Herr Müller“ erhalten geblieben ist.
„Vor allem muss seine Trainingsbereitschaft wachsen. Der liebe Gott hat ihn mit reichlich Talent gesegnet. Er hat das Zeug, es zu packen. Aber er muss den Willen haben, täglich dazuzulernen“, fordert Gerland zu Amateurtagen. Doch der „Tiger“ und sein Assistent, der große Gerd Müller, wissen natürlich durchaus, welches Juwel sie da in Händen halten. Selbst der „Bomber“, der vielleicht beste Stürmer, den diese Erdkugel je gesehen hat, staunt über seinen Erben und Namensvetter: „Aus nix macht der auch noch ein Tor. Eine halbe Stunde sieht man ihn nicht, und dann schlägt er zu. Er ist ein geborener Torjäger.“ Ein echter Müller eben. Bilanz aus Thomas Müllers letzter Saison im Nachwuchsbereich: achtzehn Treffer in 26 Spielen für die A-Jugend.
Beinahe wie die Jungfrau zum Kind kommt Thomas Müller dann zu seinem ersten Einsatz bei den Bayern-Profis. Jürgen Klinsmann, der Sommermärchen-Guru, ist im Juli 2008 der neueste Heilsbringer beim FC Bayern. Klinsi stellt die Buddhas auf, Klinsi amerikanisiert den ganzen verschnarchten Laden. Klinsi hat für alles einen Plan, bloß nicht für die Taktik, die er spielen lassen will – denn darum kümmerte sich beim DFB ja sein Jogi. Aber das munkeln die Klinsmann-Skeptiker in diesem Sommer 2008 nur hinter vorgehaltener Hand. Jedenfalls verhilft Jürgen Klinsmann dem jungen Müller beim 7:1 im Test bei Kalle Rummenigges Stammverein SV Lippstadt zum Debüt in der Ersten Mannschaft. Müller revanchiert sich mit dem Treffer zum 1:0, dem ersten Tor der (kurzen) Ära Klinsmann beim FC Bayern.
Im Laufe der Vorbereitung etabliert sich der achtzehnjährige Gerland-Frischling immerhin schon als vierter Stürmer in Klinsmanns Hierarchie – nach Miroslav Klose, Lukas Podolski und Luca Toni (wenn man diese Namen liest, merkt man erst, wie unfassbar lange Thomas Müller schon beim FC Bayern ist). Als sich Luca Toni, der „Ohrschrauber“ aus Pavullo, vor dem Saisonstart 2008/09 einen Muskelfaserriss zuzieht, kommt Thomas Müller am 15. August 2008, einem damit beinahe historischen Freitag, zu seinem Bundesligadebüt. Klinsmann bringt ihn in der 79. Minute für Miro Klose – am enttäuschenden