Thomas Müller. Jörg Heinrich

Thomas Müller - Jörg Heinrich


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oder die Nägel zu lackieren. Man könnte sagen: An dem Tag, an dem sich Thomas Müller sein erstes Tattoo stechen lässt, ist die Apokalypse nicht mehr fern.

      Und so befindet sich Hoeneß mit seinen ja durchaus ehrenwerten Bedenken allein auf weiter Flur. Deutschland liebt diesen Müller, Deutschland will diesen Müller. Peter Hackl, sein erster Trainer vom TSV Pähl, spricht für alle Fans. Als im Vorfeld der Weltmeisterschaft 2010 eine ganze Armada von Journalisten in Pähl einfällt, in diesem wundersamen Kaff mit dem wundersamen Müller, erklärt er: „Ich habe schon länger damit gerechnet, dass Thomas bei der WM dabei sein wird. Vor der Nominierung des Kaders habe ich immer gesagt, dass der Bundestrainer ihn unbedingt nach Südafrika mitnehmen muss, denn die Nationalmannschaft kann so einen Spieler gut brauchen.“ Und auch Müller selbst beruhigt seinen beunruhigten Präsidenten: „Uli Hoeneß muss mich jetzt nicht mehr schützen. Ich habe gezeigt, dass ich dieses Niveau auch über Monate halten kann.“ Ohne Müller fahr’n wir zur WM? Ja niemals! Da wennst ma ned gangst!

      Bevor die staunende Welt Thomas Müller kennenlernt, lernt ihn allerdings erst noch Diego Maradona kennen, König der Argentinier und wohlgenährter Gott der Kirche „D10S“. Müller vs. Maradona, Pähl vs. Buenos Aires, die Hand Gottes gegen die Dürre Pähls – um sich so ein Duell, so ein Aufeinandertreffen der Kulturen auszudenken, braucht es einen sehr aufgeweckten Drehbuchschreiber. Gut, dass es solche Leute im Fußball gibt. Ausgerechnet im eigenen Wohnzimmer, daheim in München in der vertrauten Allianz Arena, gibt dieser Müller an jenem 3. März 2010 gegen Argentinien sein Debüt in der Nationalmannschaft. Er spielt nicht spektakulär, wird in der 67. Minute gegen Toni Kroos ausgewechselt, der ebenfalls sein erstes Länderspiel bestreitet, und Deutschland verliert 0:1.

      Ein Debüt zum Vergessen? Garantiert nicht! Dafür sorgt Müller nach dem Spiel – mit Szenen, die in die jüngere Fuß-ballgeschichte eingehen. Als Debütant, und noch dazu aus München, soll er nach dem Spiel auf der Pressekonferenz erzählen, ob er denn jetzt mit der Gesamtsituation zufrieden sei und wie er sich fühle als frischgebackener Nationalspieler. Weil er ja vorzeitig duschen gehen durfte, und weil er solche Verpflichtungen ernst nimmt, sitzt der Müller also rechtzeitig und überpünktlich auf dem Podest. Und dann kommt ER! Diego! Diego klettert schnaufend rauf aufs Podest – und sieht, dass da dieser Junge sitzt. Gott erkennt den Irdischen nicht, obwohl der gegen seine eigene Mannschaft gerade 67 Minuten auf dem Platz stand, und Gott denkt sich: „Ich setz mich doch nicht neben jeden dahergelaufenen Ballbub, wer ist der Kerl?“ Stattdessen entschwindet ER durchaus indigniert wieder, um sich vom niederen Volk im Presseraum beim Schreiben von Autogrammen huldigen zu lassen (es war noch die Zeit vor dem ganz großen Selfie-Boom).

      Damit Gott einen Sitznachbarn bekommt, der ihm genehm ist, verschwindet also Müller vom Podest und rettet damit die Pressekonferenz. Doch die Rache des Irdischen aus Pähl wird fürchterlich ausfallen, auch wenn er wegen der Pressekonferenz alles andere als beleidigt ist: „Ich hab’s lustig gefunden.“ Auf den Tag vier Monate später macht der „Ballbub“ im WMViertelfinale gegen Maradonas Mannschaft per Kopf das erste Tor, nach nur drei Minuten. Offenbar ist es ihm wichtig, sich beim gegnerischen Trainer zügig in Erinnerung zu bringen. Am Ende triumphieren die Deutschen in Kapstadt 4:0. Damit beenden Müller & Co. die kleine Trainerkarriere des großen Diego. Gott ist taktisch heillos überfordert, wird zum überaus Irdischen – und weiß fortan, wer dieser Kerl ist, der haargenau das Gegenteil seiner eigenen Körperstatur besitzt.

      Die argentinische Sportzeitung Olé erinnert nach dem Spiel an die denkwürdige Pressekonferenz von München und streut mehrere Zentner Salz in die Wunde: „Diego, der Junge heißt Müller!“ Wenig später darf Gott nicht nur am siebten Tag ruhen, sondern auch an allen anderen Tagen. Denn außer einer obskuren Episode bei Al-Wasl in der Wüste Dubais bekommt Diego Maradona nie mehr einen Trainerposten. Er gilt als quasi unvermittelbar, als eine Art Lothar Matthäus der Südhalbkugel. Und wer ist federführend daran schuld? Der Müller, dem bei seiner Geburt im September 1989 in Weilheim nicht unbedingt in die Wiege gelegt worden war, auf diese Weise Schicksal für einen der größten Fußballer aller Zeiten zu spielen.

      Aber auch sonst steht in Südafrika die große Müller-Show auf dem Programm. Der größte lebende Pähler trifft fünfmal. Beim Auftakt gegen Australien schießt er gleich sein erstes Länderspieltor – mit Gerd Müllers legendärer Rückennummer 13. Pech für den Gegner. Beim 4:1 gegen England im Achtelfinale beschert er den Three Lions das gewohnte annus horribilis bei einer Weltmeisterschaft. Nach 1966 findet sich bei einer WM irgendwie immer irgendwer, der England ins Elend stürzt, diesmal ist es eben Thomas Müller mit seinen Toren zum 3:1 und 4:1. „A Weltstar is born“, spätestens seit diesem 27. Juni 2010 in Bloemfontein. Sie wählen ihn zum Mann des Spiels, drücken ihm eine hölzerne afrikanische Trommel in die Hand, und der sonst so wortgewandte Müller zeigt beinahe Anflüge von Sprachlosigkeit. Ein paar ergriffene Sätze sind dann aber doch drin. „Es ist einfach ein Wahnsinnsglücksgefühl, wenn du die Tore schießt und damit das Team erlöst. Letztlich ist das Ergebnis ein bisschen zu hoch ausgefallen. Aber das ist mir heute egal.“ Chef Jogi streut Rosen: „Thomas ist ein Spieler mit unglaublicher Qualität, der nicht verkrampft. Seine Kaltschnäuzigkeit ist schon beeindruckend für einen Zwanzigjährigen.“

      Den legendären Müller-Humor hat der Pähler auch 2010 schon im Gepäck. Welchen Gegner er sich nach dem England-Spiel fürs Viertelfinale wünsche, fragt man ihn. Mexiko oder Argentinien? „Mexitinien“, blödelt Müller. Er erfindet den besten Trainer der Welt: „Jogi van Gaal.“ Und er hat eine glasklare Ansage parat: „Ich möchte Weltmeister werden.“ Es wird im Viertelfinale nicht Mexi-, sondern Argentinien. Und so gehen die Gauchos nach Hause. Gegen Diegos Mannschaft schießt Müller sein viertes Turniertor. Doch das Spiel hat ein Unhappy End. Deutschlands neuer Lieblingsfußballer, auch das gehört dazu, lernt die Schattenseiten solch eines Turniers kennen. In der 35. Minute sieht er wegen eines Handspiels Gelb – nach dem Ghana-Spiel seine zweite Verwarnung während der WM. Damit fehlt Thomas Müller im Halbfinale gegen Spanien. Unbedingt berechtigt ist die Karte des usbekischen Schiedsrichters Ravshan Ermatov nicht: Nach einem Zweikampf mit Messi bekommt Müller den Ball eher unabsichtlich an die Hand. Jogis neuer Star schlägt sich die Hände vor den Kopf, schmeißt sich zu Boden und grantelt kräftig drauflos: „Das ist doch ein Witz.“ Kann sein, hilft aber nichts, Gelb ist Gelb. Und Sperre ist Sperre. Löw schimpft auch: „Der Ausfall wiegt schwer, weil er [Müller] gezeigt hat, wie torgefährlich er ist. Das Handspiel war auch nicht gelbwürdig.“ Und Müller bleibt nur eine Hoffnung: „Ich hoffe, dass meine Kollegen im Halbfinale das Richtige machen, dann kann ich vielleicht im Finale noch mal treffen.“

      „Die Nationalmannschaft ist gut genug, um ohne Thomas Müller eine WM zu bestreiten“, hatte sich Uli Hoeneß noch im November 2009 festgelegt, doch das ist lange her. Acht Monate, um es genau zu sagen. Doch jetzt gilt eher der alte Fußballerspott: „Ohne Müller habt ihr keine Chance.“ Beim 0:1 im Halbfinale gegen die Spanier bleibt die deutsche Offensive blass, der Wirbel-Müller fehlt an allen Ecken und Enden, und Deutschland ist (mal wieder) im Halbfinale draußen. Ob es mit Müller besser gelaufen wäre – diese Frage wird auf ewig unbeantwortet bleiben. Wer weiß, wer weiß, vielleicht wäre Thomas Müller ohne dieses leidige Handspiel jetzt bereits zweifacher Weltmeister. Wobei: Gegen die Spanier auf dem Höhepunkt ihrer Schaffenskraft wäre es auch mit ihm schwer genug gewesen.

      Doch Müller hält sich am Ende doppelt schadlos – 2014 in Brasilien, und auch gleich noch 2010 in Südafrika. Beim 3:2 im Spiel um Platz drei gegen Uruguay schießt er in der neunzehnten Minute sein fünftes Turniertor. Damit fliegt der Lausbub, der eineinhalb Jahre davor noch Amateurfußballer war, als leibhaftiger Torschützenkönig der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 zurück nach Hause. Uruguays Superstar Diego Forlán und Spaniens David Villa haben zwar auch jeweils fünf Treffer auf dem Konto – doch damit geben Thomas Müllers drei Torvorlagen den Ausschlag, die beiden anderen haben jeweils nur einen Treffer vorbereitet. Mit gerade einmal zwanzig Jahren ist Müller der dritte deutsche Gewinner des Goldenen Schuhs, nach einem gleichnamigen Kollegen 1970 (mit zehn Treffern!) und nach Miro Klose mit dessen ebenfalls fünf Sommermärchen-Toren 2006. Die Auszeichnung als bester junger Spieler des Turniers nimmt Thomas Müller auch noch mit heim. Hier befindet er sich mit dem jungen „Kaiser Franz“ (1966) und mit „Prinz Poldi“ (2006) ebenfalls mitten im Fußball-Hochadel.

      Seinen


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