Thomas Müller. Jörg Heinrich
und lernt überdies, die Defensive nicht mehr zu vernachlässigen. Mal springt Müller für Robben ein, mal für Ribéry. Die beiden Flügelflitzer sind ja schon 2009 nicht die robustesten Spieler und fallen häufig aus. Pech für „Robbery“, Glück für van Gaal, für den FC Bayern, für Thomas Müller. Er ist schon nach wenigen Wochen in der neuen Saison nicht mehr aus der Mannschaft wegzudenken. Und Louis erfindet, wie gesagt, einen seiner berühmtesten Sprüche: „Bei mir spielt Müller immer – auch wenn Robben und Ribéry zurück sind.“ Der Müller wiederum merkt, dass er auch in der Bundesliga, in der Champions League mehr als nur mithalten kann. Seine Selbsterkenntnis in der ersten Saison als Profi: „Ich bin nicht immer auffällig, aber immer gefährlich.“
Thomas Müller schießt in dieser Saison neunzehn Tore in 52 Pflichtspielen, lernt Ende 2009 aus einer mächtigen Formkrise („Ich wusste selbst nicht, warum es nicht lief“), wird Meister, Pokalsieger, Champions-League-Finalist, Nationalspieler, WM-Torschützenkönig. Der FC Bayern verlängert noch vor Jahresende seinen Vertrag bis 2013 – verbunden mit einer anständigen Gehaltsanpassung, steil nach oben, versteht sich. Die Medien feiern ihn als „kleinen Bomber“, als „Bomberlein“, als „Bomberchen Müller“ und dichten romantische Abhandlungen über die Jung-Ehe von „Turtel-Thomas“ mit seiner Lisa, der er vom Platz aus Küsse zuwirft. Der Autor dieses Buches staunt in seiner Kolumne in der Münchner tz:
„Ganz Deutschland müllert. Die Bücher von Herta Müller fliegen bloß so aus den Regalen, die bayerische CSU-Staatsministerin Emilia Müller steht vor der Seehofer-Nachfolge, Michl Glos, der Müller aus Prichsenstadt, plant sein Comeback. Und alle warten: Wann legt Frau Müller-Hohenstein ihren Doppelnamen ab?“
Müller glänzt national, Müller brilliert international. In der Champions League besorgt er im September gegen den AS Rom mit einem herrlichen Außenrist-Treffer das 1:0. Nun lernt ihn auch Europa kennen und später die ganze Welt. Ein klassischer Müller über sein Tor gegen die Roma: „In der Theorie wollte ich das so machen.“ Louis van Gaal platzt beinahe vor Stolz über den von ihm erfundenen Wunderfuß-baller: „Wir können immer ein Tor erwarten von Müller. Er ist immer da – und das ist es, was ich an ihm liebe, warum er immer spielt.“ Gegen Tottis Römer will der erschöpfte Müller in der 82. Minute vorzeitig raus. Van Gaal nimmt ihn runter und verneigt sich – im engen Rahmen seiner Möglichkeiten – ehrfürchtig vor Thomas: „Er ist der Chef, ich bin nicht mehr der Chef.“
Eineinhalb Jahre nachdem der TSG Hoffenheim drei Millionen Euro zu viel gewesen sind, taxiert „transfermarkt.de“ Thomas Müllers Marktwert auf 23 Millionen Euro, Tendenz stark steigend. Nur der „neue Gerd Müller“ will er nicht sein: „Ich kopiere niemanden. Ich bin Thomas Müller.“ Als die Saison 2009/10 zu Ende ist, blickt der raketenartig nach oben geschossene Stürmer auf ein unglaubliches Jahr zurück: „Wenn du mittendrin steckst, bekommst du das alles gar nicht so mit. Aber das ist schon eine Wahnsinnsentwicklung.“ Bei wem er sich dafür zu bedanken hat, weiß Thomas Müller allemal: „Man braucht auch Glück. Und das Glück von Holger Badstuber und mir war der Trainer van Gaal.“
Ein knappes Jahr später ist sein größter Förderer dann schon nicht mehr Bayern-Trainer. Die „Bayern-Gaalere“ schlägt leck, die Münchner verpassen die Titelverteidigung, und das exzentrische „Feierbiest“ hat ausgefeiert. Doch Thomas Müller feiert weiter – denn die Ära Jupp Heynckes wird für ihn noch viel, viel erfolgreicher.
KAPITEL 5
Der König von Afrika: Die WM 2010
Gerüchteweise gab es den deutschen Fußball auch schon vor Thomas Müller. Viele einschlägige Beweise sprechen dafür (Wunder von Bern, Wembley-Tor, Hoeneß semmelt Elfer in Belgrad drüber, einsame „Lichtgestalt“ in römischem Anstoß-kreis). Doch eines steht auch fest: Vor Thomas Müller war der deutsche Fußball garantiert langweiliger und weniger lustig, als er es heute ist. Seit 2010 ist der Mann ohne Muskeln aus Jogi Löws Nationalmannschaft nicht mehr wegzudenken, sowohl aus sportlicher als auch aus humoristischer Perspektive. Man muss sich das beim Lesen noch mal auf den Augen zergehen lassen: Vom ersten Profivertrag (Februar 2009) bis zum WMTorschützenkönig in Südafrika (Juli 2010) brauchte der Rake-ten-Müller gerade mal siebzehn Monate. Dann hatte er den Goldenen Schuh für den erfolgreichsten Torjäger des WMTurniers daheim stehen. Der Müller aus Pähl mit dem Goldenen Schuh! Das war damals ungefähr so surreal, wie es ein Oscar fürs „Königlich Bayerische Amtsgericht“ gewesen wäre. Oder wie Kim Kardashian beim Schnupfen mit Sepp Maier.
Ein paar Monate vor dem Goldenen Schuh hatte Deutschland noch angeregt darüber diskutiert, ob das lange Elend, das der FC Bayern da wundersamerweise aus seiner Jugend hervorgezaubert hatte, schon einer für die Nationalmannschaft sein könnte. Beim DFB-Nachwuchs war es für ihn ja recht anständig gelaufen, wenn auch nicht überragend. Für die U-16 und die U-19 spielte Müller nur sporadisch. Die Teilnahme an der U-20-WM 2009 in Ägypten hatte er abgesagt, um sich ganz auf den FC Bayern konzentrieren zu können. In der U-21 spielte er nur sechsmal. Und der Kerl sollte nun bei der WM in Südafrika möglichst das Vaterland retten?
Rückblende zu jenem Februar 2009, in dem Müller per Vertragsunterschrift hauptberuflicher Fußballprofi wird. Was in den eineinhalb Jahren danach passiert, erinnert in seinem Sturm und Drang durchaus an die Zeit ab 1962, als die „Beatlemania“ über die Welt kam. In Deutschland, später global, herrscht „Müllermania“. Im März 2009 debütiert der Bursche gegen Sporting Lissabon in der Champions League und schießt – mehr dazu an anderer Stelle in diesem Buch – auch gleich sein erstes Tor. Und das, obwohl sein Profivertrag eigentlich erst ab der Spielzeit 2009/10 gilt. In eben jener Saison zählt Müller jr. unter Louis van Gaal dann von Beginn an zu den Stammspielern. Spätestens im Herbst nimmt König Louis I. der Niederlande den Buben in sein engstes Gefolge auf und deklamiert, was wir bereits kennen: „Müller spielt immer.“ Und Müller trifft immer – oder zumindest immer öfter. Den legendären ersten beiden Bundesligatoren am 12. September 2009 beim prächtigen 5:1 in Dortmund (am Tag vor seinem 20. Geburtstag, was für ein Geschenk an sich selber!) lässt er im Laufe der Saison elf weitere Treffer folgen. Thomas Müller steht in allen 34 Ligaspielen auf dem Platz.
Klarer Fall, findet Fußballdeutschland: Dieser Kerl mit den heuschreckenartigen Haxen muss zu Jogi. Und das findet auch Jogi. Er nominiert Müller bereits Ende 2009 fürs Testländerspiel gegen die Elfenbeinküste. Denn: „Es ist wichtiger Teil unserer Philosophie, gerade junge, hochtalentierte Spieler frühzeitig zu integrieren.“ Das Debüt entfällt allerdings, weil der junge Münchner ein letztes Mal mithelfen soll, der U-21 die EM-Qualifikation zu sichern. 2010, im neuen Jahr, ist der Wunder-Müller dann aber nicht mehr aufzuhalten. Bei einem Bayern-Training steckt ihm Bastian Schweinsteiger, in Sachen Nachrichten vom DFB stets eine zuverlässige Quelle, dass er im Kader fürs Test-Länderspiel am 3. März 2010 gegen Diego Maradonas Argentinier steht. „Müller Nazionale“ auf dem Weg zu Löw – und damit zwangsläufig auch zur WM in Südafrika. Obwohl er selber noch vorsichtig bleibt: „Wenn die Leistung in der Rückrunde stimmt, kann es gut sein, dass ich nominiert werde. Aber ich denke jetzt nicht, ich muss unbedingt zur WM, sonst bin ich todtraurig, wenn es nicht klappt.“
Doch es klappt. Und wie es klappt – zur Begeisterung von Löw, Müller und der Fußballnation. Aber nicht unbedingt zur restlosen Freude von Uli Hoeneß, damals beim FC Bayern noch rastloser Leiter der „Abteilung Attacke“. Er warnt schon im Herbst 2009 davor, Thomas Müller zu schnell hochzujubeln. „Hört doch auf mit dem Käse! Da schießt einer mal drei Tore und soll dann gleich in die Nationalmannschaft. Lasst ihn doch erst mal spielen!“, zürnt der bajuwarische Patron kurz vor seinem Wechsel vom Managerbüro ins Präsidentenamt. In Sachen WM-Teilnahme bleibt Hoeneß lange skeptisch: „Die Nationalmannschaft ist gut genug, um ohne Thomas Müller eine WM zu bestreiten.“ Der Demnächst-Präsident ist eh verärgert über viel zu viele Länderspiele, von denen Stars wie Martín Demichelis oder Ivica Olić dann auch noch verletzt zurückkehren.
Und natürlich macht er sich Sorgen, dass dem Burschen zu viel vom legendären Puderzucker in den Allerwertesten geblasen wird, wie einst beim frühreifen Wunderknaben Schweinsteiger. Doch da kann Uli beruhigt sein, wie auch sein zwischenzeitlicher Managernachfolger Christian Nerlinger weiß: „Thomas Müller ist keiner, bei dem man