Kalte Berechnung. Michael Rapp
MICHAEL RAPP
KALTE BERECHNUNG
MORD IM MARE SERENITATIS
© 2021 Polarise
Ein Imprint der dpunkt.verlag GmbH
Wieblinger Weg 17
69123 Heidelberg
1. Auflage 2021
Autor: Michael Rapp
Lektorat: Dr. Benjamin Ziech
Copy-Editing: Irina Sehling
Satz: Veronika Schnabel
Illustration Cover: licarto
Druckerei: C.H.Beck, Nördlingen
ISBN (Buch) 978-3-947619-77-1
PDF 978-3-947619-78-8
ePub 978-3-947619-79-5
mobi 978-3-947619-80-1
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Michael Rapp wurde 1975 in Frankfurt am Main geboren und studierte Soziologie und Sozialpsychologie. Er lebt und arbeitet in Assenheim in der Wetterau. Seit 2007 ist er als Schriftsteller tätig mit Schwerpunkt auf Kurzgeschichten aus den Bereichen Science-Fiction, Fantasy und Krimi. Besonders der Science-Fiction-Literatur, den Welten und Visionen möglicher Zukunft, ist er seit seiner Jugend verbunden. Er hat zahlreiche Geschichten veröffentlicht, zuletzt hauptsächlich im c’t Magazin für Computertechnik. 2019 belegte er den 1. Platz beim Deutschen Kurzkrimi-Preis.
Inhalt
Nussknacker, Puppe und blaue Katze
Lasst es mich durch eure Augen sehen
Der Auftrag
17.01.2048, Hotel Elbstrom, Hamburg
Als Markus Wirm sein Zimmer betrat, fand er Boden, Decke, Wände und Möbel von einer dünnen Kunststoffschicht überzogen. Das Material glänzte makellos im Licht der LED-Lampen, und er fühlte es warm und glatt auf dem Lichtschalter. Es hüllte alles ein, ohne Bünde und Überlappungen, als sei er in das Innere einer Seifenblase gelangt.
Die Tür schloss sich hinter ihm und verriegelte automatisch. Plastik quoll aus dem Pressholz des Türblattes. Das durchsichtige Material wuchs, blähte sich, und einen Augenblick später war die Blase vollständig. Panik erfasste Markus. Vergeblich versuchte er, die Tür zu öffnen. Seine Hand rutschte vom Türgriff, und seine Fingernägel schrappten hilflos über den festen Kunststoff. Er schrie, doch seine Stimme zerstob einfach, wurde ausgelöscht, sodass er für einen Moment glaubte, sie würde versagen. Erst als er zum Fenster lief, dabei den Tisch anrempelte und die kleine Porzellanvase sang- und klanglos auf dem folierten Teppich landete, wurde es ihm klar: Gegenschall. Alle Geräusche in der Blase werden durch gegenläufige Schallwellen gleicher Frequenz und Amplitude gelöscht. Er konnte sich selbst kaum schnaufen hören.
»Ich werde nicht aussagen!«, versuchte er zu rufen, doch seine Lippen bewegten sich nur stumm.
Eine Bewegung in dem Sessel ließ ihn herumfahren. Eine sitzende Gestalt wurde sichtbar, sie war von Plastik überzogen wie eine eingeschweißte Actionfigur. Bisher war sie unter einer die Umgebung imitierenden Videooberfläche verborgen gewesen. Der schmächtige Mann hatte kurzes, dunkel gefärbtes Haar, das unter der Folie platt anlag. Er war Mitte fünfzig, versuchte aber, jünger zu wirken. Markus kannte die graugrünen Augen, die vorspringende Nase und das markante Kinn mit dem auffälligen Grübchen, das – was nur eine Hand voll Menschen wussten – Schönheitschirurgie gestaltet hatte. Mit offenem Mund starrte er auf sein Spiegelbild, das ihn kalt durch den Kunststoff anstarrte.
»Was bist du?«, wollte Markus wissen, brachte aber kein verständliches Wort heraus. Ohnehin eine törichte Frage, hauptsächlich der Überraschung geschuldet. Er ahnte schon, verstand, was er da vor sich hatte und welchem Zweck die Kopie diente. »Alexander, ich verspreche dir, ich sage nichts! Ich war immer auf deiner Seite. Bitte, das kannst du nicht bringen. Wir sind … Freunde.« Alles, was Markus von seiner verzweifelten Ansprache an den ehemaligen Geschäftspartner hörte, war ein Hauchen am Rand des Hörbaren. Der Gegenschall schnitt die Worte ab, bevor sie vollends seinen Mund verließen. Umso lauter klangen die Gedanken in seinem Kopf: Ich bin in einer riesigen Mülltüte mit einem Killer gefangen!
Sein Gegenüber grinste.
Hilfe! Markus wich zur Wand zurück und hämmerte mit der Faust dagegen. Er hatte nie Sport getrieben, und im Alltag achtete er darauf, nichts Schwereres zu heben als einen Laptop, trotzdem war er erschüttert, als er nur ein klebriges Tapsen hörte, das von seinem Herzrasen übertönt wurde. Das ist kein normales Plastik, erkannte er. Als sich die Maschine erhob und auf ihn zuging, beschloss er, alles auf eine Karte zu setzen und durch das Fenster zu springen – besser ein Sturz aus dem dritten Stock, als bei seinem Mörder zu bleiben. Seine 68 Kilo sollten reichen, um das Glas zu durchbrechen. Er machte zwei Schritte zurück und warf sich dann mit der Schulter gegen die Folie, die sich aufblähte wie ein Airbag und ihn zurückwarf. Er glitt aus und landete auf dem Bauch. Eine Hand packte ihn am Haarschopf. Markus strampelte, seine Sohlen wischten über den Kunststoff, und eine Nadel bohrte sich in seinen Nacken. Er fühlte sich benommen, seine Kraft floss aus ihm heraus, und seine Bewegungen erlahmten.