Kalte Berechnung. Michael Rapp
gehe ich direkt zu Wheelwright!« Sie erhob sich und zog den Reißverschluss ihres Laboranzugs hoch.
»Bitte …«
Diesmal ließ sie ihn nicht ausreden.
»Mal hören, was er dazu sagt! Ich glaube nicht, dass er bereit ist, sein Projekt zu verzögern.«
Schon huschte sie an der Krähe vorbei in das Großraumbüro, das ein Vierteloval der sechsundvierzigsten Etage des Wheel-Gebäudes einnahm. Gute vierhundert Quadratmeter, beherrscht von Arbeitsinseln und Mietpflanzen. Julian sah ihr nach, wie sie mit dem Blick am Boden, um möglichst keine fremden Gefühle zu erfassen, durch den Dschungel auf die Fahrstühle zusteuerte. So wütend, wie sie war, würde sie ihre Drohung auch umsetzen.
Besser, ich rufe Wheelwright zuerst an und überzeuge ihn von einem Neustart, überlegte er. Dann wandte er sich mit strahlendem Lächeln an die Krähe: »Und wie kann ich Ihnen helfen?«
Bevor sie antworten konnte, wurde das Gebäude von einem furchtbaren Schlag getroffen. Der Boden unter Julians Füßen hob sich, die Sicherheitsscheiben rissen, und das ganze Stockwerk neigte sich. Pflanzen, Möbel, Computer und Menschen kamen in Bewegung, alles rutschte ab und stürzte auf den selbst auch fallenden Direktor zu. Julian verstand zwar nicht, was geschehen war, erfasste die Situation aber nüchtern und zog einen klaren Schluss: Das war’s also.
Die zweite und die dritte Explosion ereigneten sich direkt im zentralen Stahlbetonturm. Sie rissen das Rückgrat des Gebäudes in Stücke, zerrieben die Etagen fünf bis acht zwischen sich wie Hammer und Amboss und verteilten die Reste des Bauwerks über eine Fläche von einem Quadratkilometer. Als es vorbei zu sein schien und die Menschen auf dem Wheel-Platz und in den umliegenden Straßen ihre Gesichter hoben und ungläubig auf den in Staub gehüllten Trümmerberg starrten, wo eben noch ein zweihundertfünfzig Meter hohes Gebäude gestanden hatte, fiel ein Komet im 90-Grad-Winkel vom Himmel und bohrte sich mit vielfacher Schallgeschwindigkeit in die gesicherten Untergeschosse des KI-Labors. Als hätte die Waffe nur darauf gewartet, dass all die im Weg stehenden Etagen abgeräumt worden waren. Die Explosion zerriss die Super-KI AIUD, drückte den U-Bahn-Tunnel und eine Tiefgarage ein, ließ die Hauptwasserleitung und einige Gasleitungen platzen und kappte die Glasfaserverbindung des gesamten Geschäftsviertels.
Zweihundertsiebenundachtzig Menschen und die künstliche Intelligenz AIUD starben bei dem Anschlag. Acht der Opfer blieben verschollen, die meisten waren Techniker, die im Tiefgeschoss über AIUD gearbeitet hatten. Julian Snyder blieb ihr Schicksal erspart. Seine Leiche wurde geborgen – jedenfalls sein Kopf, Teile des Oberkörpers und der rechte Arm. Sie wurden am 14.02.2048 neben dem Grab seines Großvaters beigesetzt. Mit in seinem Sarg lag auch ein falsch zugeordnetes Bein, das einmal Ms. Noone-Bar, der Krähe, gehört hatte.
23.01.2048, Austin, Texas
Amanda lag in ihrem Krankenhausbett, die Datenbrille auf der Nase, und sah sich wieder und wieder die Aufzeichnungen des Zusammenbruchs an. In der Zeitlupe war deutlich zu erkennen, dass die Lenkwaffen die äußere Glashülle durchschlagen hatten und erst im Gebäudekern explodiert waren. Es regnete Feuer und Trümmer, ein Inferno, hundertfacher Tod. »Wieso?«, murmelte sie. »Wieso habe ich überlebt?«
Sie war zwei Tage nach dem Angriff im East Park Hospital erwacht, als eine von nur drei Überlebenden des Wheel-Anschlags. Die Hälfte der Haut auf ihrem Rücken war verbrannt, Elle und Speiche ihres linken Arms gebrochen. Ebenso beide Beine, mehrere Rippen und ihr Kiefer. Die PIs hatten alles wieder zusammengeklebt. Spezialzellen beschleunigten das Anwachsen der transplantierten Haut, die sich farblich aber noch eine Weile abheben würde. Außerdem juckte es penetrant auf ihrem Rücken. Laut der Ärzte ein gutes Zeichen. Die Brandverletzungen waren beträchtlich gewesen, sodass sich der leitende Chirurg während der Notoperation für eine großflächige Versorgung entschieden hatte. Gut zurecht kam sie mit ihrer neuen Lunge, einem gezüchteten Universaltransplantationsorgan, und der Prothese, die ihr rechtes Auge ersetzte. Das Einzige, was die Ärzte nicht wiederherstellen, ihr nicht zurückgeben konnten, war die Erinnerung daran, wie sie aus dem explodierenden Turm acht Stockwerke tiefer in das Nebengebäude der Unispro-Versicherung gekommen war. Außer ihr hatten nur eine Rezeptionistin und ein Servicetechniker überlebt, deren Fahrstuhlkabine wie durch ein Wunder unter den Trümmern nicht vollständig zerquetscht worden war. Beide lagen noch im künstlichen Koma.
Amanda startete die Wiedergabe des nächsten Videos und verschlang es Bild für Bild. Es gab einhundertneununddreißig öffentlich zugängliche Aufnahmen von Sicherheitskameras, Service-PIs, Fahrzeugen und Touristen. Das Gebäude war zum Zeitpunkt des Angriffs von allen Seiten und sogar aus der Luft von Lieferdrohnen aufgenommen worden. Auf der Suche nach Antworten spielte Amanda täglich jedes einzelne Video ab und dann alles von vorn. Doch keine der Aufzeichnungen gab ihr die gesuchte Antwort; keine zeigte ihrem überreizten Geist einen logischen Weg, der in den Sekunden zwischen dem ersten Einschlag und den folgenden Explosionen vom Fahrstuhl des abkippenden Büroraumes durch das Büro, vorbei an ihren panischen Kollegen, auf den Flur des Nebengebäudes führte, wo man sie gefunden hatte. Stattdessen spielte ihre Synästhesie vollkommen verrückt. Schon immer hatte sie menschliche und tierische Emotionen als Gerüche bestimmter Gegenstände, Pflanzen und Speisen wahrgenommen, doch jetzt hatte sich diese Gabe auch auf Objekte in den Überwachungsvideos ausgeweitet. In diesen Aufzeichnungen schienen auch Dinge Gefühle zu besitzen. Technische Geräte bekamen den scharfen Zitronenduft einer Lüge, ließen die Tulpen von Selbstbewusstsein und Entschlossenheit blühen und kleideten sich in den schwitzigen Kamillenduft der Hilfsbereitschaft, was sie noch weiter verwirrte und ihr das Gefühl gab, wahnsinnig zu werden.
Es war der vierundzwanzigste Januar, ihr sechster Tag im Krankenhaus, der Tag, an dem sie ihre erste Reha-Stunde und eine Sitzung mit der Krankenhaustherapeutin absolviert hatte, als sie mitten in der Nacht von einem Geräusch hochschreckte. Blinzelnd zog sie die in Dauerschleife laufende Brille beiseite und versteckte sie unter dem Kopfkissen. Dabei bemerkte sie einen Schatten neben ihrem Bett und roch Kamillenblüten. Sie dachte an eine der Schwestern, die ab und zu nach dem Rechten sahen und für den menschlichen Kontakt zu den Patienten sorgten – dazu hätte auch die beruhigende Kamille gepasst.
»Entschuldigung, ich habe die Brille vergessen …«, murmelte sie, aber da war niemand. Vor ihr auf der Bettdecke lag eine Speicherkarte. Ein solides USD-Modul, wie es bei Service-PIs als Backup-Speicher und Blackbox eingesetzt wurde. »Licht«, befahl sie, und die LEDs an der Decke fluteten alles mit kalter Helligkeit. Eilig schlug sie die Bettdecke zur Seite, schwang die schmerzenden Beine über die Bettkante und setzte sich steif auf. Erst in diesem Moment dachte sie an die parallele Intelligenz in der Zimmerecke, ein Kuro-Sansei-Pflegeroboter, der vermutlich vor einigen Jahren noch in der Notaufnahme oder einem OP eingesetzt worden war, jetzt, da neue Modelle eingeführt waren, aber nur noch für die Krankenüberwachung in Einzelzimmern taugte.
Sie wandte sich an die PI. Kaum hatte sie den Blick auf sie gerichtet, nahm sie ihre Präsenz auf: Zitronenduft, so intensiv, dass er sie dazu brachte, sich eine Zitrone vorzustellen. Sie zögerte verwirrt. Das war das erste Mal, dass ihre Synästhesie auf eine Maschine reagierte, die mit ihr in einem Raum war. Und überhaupt: Zitronen, das waren Lügen, und PIs logen nicht.
Entwickle ich einen Verfolgungswahn? Sie sah auf den Speicher, und der war eindeutig Realität.
»Wer war bei mir im Zimmer?«
»Ihre Physiotherapeutin Dr. Patell war gestern Abend …«
»Nein, vor zwei Minuten.«
»Niemand.«
»Woher kommt dann dieser Speicher?« Sie hielt das Modul hoch.
»Er lag auf Ihrem Bett«, erwiderte die PI trocken und kam ihr jetzt wirklich vor wie ein abgebrühter Krankenpfleger, der die Wehwehchen seiner Patienten nicht mehr ganz ernst nahm. Das und die Zitrone machten sie wütend.
»Seit wann?«
»Das weiß ich nicht. Spielt das eine Rolle?«
Sie wandte den Blick ab und wischte sich über die Augen, um den Gestank loszuwerden. »Hilf mir, ich will zum Tisch!«
»Sie