Kalte Berechnung. Michael Rapp

Kalte Berechnung - Michael Rapp


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extra Majo und geröstete Zwiebeln – was sagt uns das?«

      »Dass Tam es nicht erwarten kann, dass du einen Herzinfarkt bekommst«, scherzte Walther.

      »Das heißt, dass sie mich liebt und mir alles gönnt.« Benny öffnete den Zip-Verschluss des Frischhaltebeutels.

      Walther warf einen ungläubigen Blick auf seinen Kollegen, der fröhlich sein Baguette auspackte, aus dem Mayonnaise hervorquoll wie Wasser aus einem artesischen Brunnen. »Das willst du jetzt nicht wirklich essen?«

      Benny zuckte mit den Schultern. »Ist doch nur eine Routinepatrouille.«

      »Wenn unser Supervisor dich beim Brunchen erwischt, bist du erledigt. Das ist dir hoffentlich klar?«

      »Frank hat sich krankgemeldet. Wir supervisen uns heute selbst.« Er biss von dem Baguette ab und verdrehte selig die Augen.

      »Tu wenigstens so, als wärst du ein richtiger Pilot!«

      »Wir sind keine richtigen Piloten.« Benny schmatzte, schluckte. »Die Wasps machen alles selbstständig. Klar, wir könnten sie ein bisschen nach rechts und links bewegen, und sie tun dann so, als hätten wir die Kontrolle. Aber versuch mal, richtig vom Kurs abzuweichen oder die Waffen zu aktivieren.«

      »Klar, wenn ich verrückt wäre!«

      Mit feistem Grinsen lehnte sich Benny vor und drückte mit dem Ellenbogen gegen seinen Flightstick. »Oh oh, verdammt, sie schmiert ab, sie schmiert ab! Nein, doch nicht. Sie bleibt auf Kurs, weil die künstliche Intelligenz sie steuert und mir den virtuellen Finger zeigt. Tja, dann kann ich auch essen …« Ein weiteres Stück Herzinfarkt-Baguette verschwand zwischen seinen Zähnen.

      »Ich sollte dich melden!« Walthers Hand umklammerte den Flightstick. »Die werden uns noch feuern! Und wer bezahlt dann den verdammten Pool?«

      »Die feuern uns nicht. Schließlich sind wir die moralische Alibi-Instanz. Die Wasps sind Killerroboter, und weil Killerroboter nun mal verboten sind, laut UN-Dingsbums-Vertrag, sitzen wir hier und tun für Waving Flag bzw. die Army so, als würden wir sie steuern.« Er hustete. »Auch wenn die in Wahrheit alles machen, was CENTCOM ihnen vorgibt …«

      Ein trockenes Klacken, bei dem Walther das Blut in den Adern gefror, unterbrach Bennys Rede. An Walthers Waffenkonsole senkten sich Knöpfe, Wahlschalter wählten, Kippschalter kippten, und es leuchtete überall grün. Mit einem tickernden Signalton loggten sich die Raketen auf ein Ziel ein, was durch ein unternehmungslustiges PING bestätigt wurde.

      »Was zum Teufel?« Ungläubig starrte Walther auf das Holobild. Ein Ruck ging hindurch, als alle Coyotes abgefeuert wurden und auf vierfache Schallgeschwindigkeit beschleunigten.

      »Was machst du?« Bennys Stimme drohte sich zu überschlagen.

      »Ich mach gar nichts! Das ist der Roboter! Abbruch! Oscar, Uniform, Tango!« Er zerrte an dem nutzlosen Flightstick. Seine Eingaben wurden ignoriert. »Oscar, Uniform, Tango!«

      »Abbruch!« Benny ließ sein Baguette fallen, warf sich auf die niedrige Trennwand, rüttelte mit mayonnaiseverschmierten Fingern am Waffenkontrollschalter und drehte den Schalter für die Zielverfolgung auf Aus. Doch das Licht leuchtete weiter.

      »Abbruch!«, riefen beide im Chor, aber es half nichts. Die Coyote-Raketen rasten, helle Kondensstreifen hinter sich herziehend, auf die Skyline von Austin zu.

      Das ist nicht fair, dachte Walther. Absolut nicht fair.

      »Das ist nicht fair!« Amanda B. Chershi schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch, vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben. Es war ein gebremster Schlag, ausgeführt von einer zierlichen Hand, die zum Zusammensetzen empfindlicher PI-Kerne, aber nicht für grobe handwerkliche Arbeit taugte. Daher gab es nur ein Geräusch, als würde jemand eine Kaffeetasse zu hart abstellen.

      Ms. Gina Noone-Bar blickte von ihrem Holoschirm auf und warf einen misstrauischen Blick durch den Eingang von Direktor Snyders Büro, der, wie es die Statuten gegen sexuelle Belästigung forderten, weit offen stand, obwohl der Raum ohnehin ein videoüberwachter Glaskasten war und weniger Privatsphäre bot als ein Terrarium im Zoo. Julian Snyder konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie die neugierige Krähe die Ohren spitzte. Er versuchte, seiner Stimme einen ruhigen, geschäftsmäßigen Klang zu geben:

      »Ich habe entschieden: Wir schalten AIUDs Gedankenprozesse ab und beginnen ganz von vorn. Der ZAA – das ist hart, ich weiß.« Er lehnte sich in seinem cremefarbenen Sessel zurück und blickte in die wässrig glänzenden Augen seiner jungen Chefentwicklerin, die hinter der Datenbrille noch größer wirkten. Amanda Chershi war dreiundzwanzig Jahre alt, aber manch ein Kollege nannte sie immer noch das Wunderkind. Sie hatte ein schmales Stubenhockergesicht, eine Stupsnase und kastanienbraunes Haar, welches sie immer zu einem herausfordernd langweiligen Linksscheitel frisierte, obwohl sie wissen musste, dass über den Tag immer wieder Strähnen nach rechts entkommen würden. Er kannte Amanda seit sechs Jahren und mochte sie, obwohl der Umgang mit ihr nicht immer leicht war. Er schätzte ihre Intelligenz und naive Bescheidenheit, die es ihm ermöglichten, durch ihre Arbeit zu glänzen. Im Gegenzug erfüllte er gern ihre bescheidenen Wünsche und nahm Lasten von ihren Schultern. Wenn er die Dankbarkeit in ihren Augen sah, fühlte er sich gut. Aber diesmal konnte er nicht nachgeben. Du verstehst nicht, wie dünn das Seil ist, an dem alles hängt, dachte er und erklärte: »Ich muss tun, was das Beste für das Projekt ist. Punkt.«

      »Welcher Punkt? Sag nicht Punkt! Wie kann das das Beste für uns sein?« Die Feuchte begann in ihren Augenwinkeln zu Tränen zu kondensieren. Sie nahm ihre Brille ab und wischte den Glanz wütend mit dem Ärmel ihres Laboranzuges weg. »Du riechst nach Seetang, er ist überall auf dir – das bedeutet Angst. Wovor hast du Angst?«

      Erwischt, dachte er. War ja klar.

      Sie war Synästhetin mit starker empathischer Gabe. Fremde Gefühle nahm sie besonders intensiv wahr, auch in Form von Düften und manchmal als bildliche Vorstellung.

      Die Krähe kritzelte eilig mit dem Finger auf ihrem Tablet herum, dabei erhob sie sich.

      Amanda zog ein Desinfektionstüchlein aus der Tasche und rieb damit entschlossen über ihren Ärmel. Ein Tick, den Julian rührend fand.

      »AIUD ist keine Workstation, die man einfach runter- und wieder hochfahren kann.« Sie beugte sich über seinen Schreibtisch und sagte eindringlich: »AIUD ist lebendig, ein fühlendes, sich seiner selbst bewusstes Wesen. Julian, du darfst ihn nicht ermorden, nur weil du dich fürchtest. Er ist noch kein halbes Jahr alt und hat schon so viel für uns getan. Das wäre falsch und dumm, und ich habe dich nie für dumm gehalten.« Sie warf das Tüchlein vor ihn auf den Tisch wie einen Fehdehandschuh.

      »Amanda!« Er drehte den Kopf zur Seite, hielt zum ersten Mal ihrem Blick nicht stand. Was sollte er antworten? Dass sie recht hatte? Dass all die Sicherheitsmaßnahmen, die sie ergriffen hatten, ihm plötzlich nicht mehr ausreichten? Ihm lächerlich erschienen wie das sprichwörtliche Pfeifen im Walde, obwohl es nicht mal den Versuch eines Sicherheitsverstoßes gegeben hatte? Amanda war auf ihrem Gebiet ein Genie, daran konnte es keinen Zweifel geben. Aber wie so oft bei Genies gab es auch Bereiche des Lebens, die ihr verschlossen blieben, wie die gesunde Furcht vor dem Unbekannten. Selbst wenn er seine Bedenken begründen könnte, würde sie es verstehen? Wohl nicht.

      Die Krähe hatte eine Lauschposition neben der Tür eingenommen, das Gerät mit der Alibinotiz fest zwischen den Klauen.

      »Das ist mein Baby, Julian!« Eine Träne lief über Amandas Wange. »Ich lasse nicht zu, dass du ihn umbringst.«

      Der Krähe klappte die Kinnlade herunter.

      »Das ist mein Projekt! Ich bin hier verantwortlich!« Julian hatte sich erhoben und stützte sich schwer auf den Schreibtisch. Sein Blick streifte die in Silber gerahmten Bilder seiner Frau und ihrer beiden Töchter, die ihm prompt zuwinkten. Er atmete tief aus. »Wenn du dich beruhigst, erkläre ich dir, wie es


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