Kalte Berechnung. Michael Rapp

Kalte Berechnung - Michael Rapp


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und steif zum Tisch ging. Sie hätte losheulen können, so weh tat jeder Schritt.

      »Auf den Stuhl!«, befahl sie dem Sansei und klammerte sich an seiner gummibeschichteten Schulter fest, während er den Stuhl in Position zog.

      Als sie saß, klappte sie ihre Workstation auf, die ihr Bruder Ben ihr mitgebracht hatte. Nachdem sie das Modul von allen Seiten betrachtet und sich überzeugt hatte, dass es keine Düfte erzeugte, schob sie es in das Lesegerät. Der Speicher enthielt nur eine Datei, die 3D-Videoaufzeichnung einer PI, versehen mit Koordinaten und Zeitstempel, passend zum Terrorangriff.

      »Kann ich noch etwas …«, begann der Sansei.

      »Verschwinde!«, blaffte Amanda ihn an. Sie verstand selbst nicht, warum sie so wütend auf ihn war. Sie hatte PIs immer gemocht, mehr noch als Menschen. In ihrer Kindheit hatte es Zeiten gegeben, da hatte sie sich gewünscht, selbst eine parallele Intelligenz zu sein und alles nur so zu erleben, wie es war, statt von ihrem Gehirn betrogen zu werden.

      Schweigend zog sich die PI in ihre Ecke zurück. Amanda setzte ihre Brille auf, lud die Datei und sah im Startbild … sich selbst. Der Duft feuchten Laubes stieg ihr in die Nase. Ich habe bedauert, dass Julian mich dazu gezwungen hat. Ihr altes Ich sah mit Tränen in den Augen und doch kämpferisch an der aufzeichnenden PI vorbei. Hinter ihr, vier Arbeitsinseln entfernt, stand ihr Boss hinter seinem Schreibtisch und sah seine Assistentin Gina an. Laub und Erde. Er roch ebenso unglücklich wie sie. Ich habe ihn angeschrien. Das Letzte, was ich zu ihm sagte, war eine Drohung.

      Amanda schniefte und versuchte, in ihre Tasche zu greifen, um ein Tüchlein hervorzuholen, aber es gab keine Tasche an ihrem Kittel. Und die Desinfektionstücher waren ihr von einer Krankenschwester weggenommen worden. Sie beruhigte sich und startete die Wiedergabe. Links neben der PI gingen zwei identische Modelle (beides Zitronen), die plötzlich beschleunigten und Amanda packten. Sie kämpfte gegen die Gerüche an, wollte alles mit klarem Verstand sehen – eine der PIs lud sie sich auf die Schulter, als sei sie so leicht wie eine Puppe. Mit unerhörtem Tempo rannten die PIs mit ihr an Arbeitsinseln und überrascht aufblickenden Kollegen vorbei auf die Fensterfront zu. Sie strampelte und wand sich im Griff der Parallelen. Eine der PIs hatte einen Feuerlöscher dabei und zerschlug die Scheibe. Geruchswellen voller Seetang schlugen über ihr zusammen, als ein mörderischer Schlag das Gebäude erschütterte. Ihr altes Ich schrie, doch das Krachen und Bersten übertönte fast alles. Warum nur? Eine Sekunde später sprang ihr Träger mit ihr nach draußen, dabei drehte er sich. Der Himmel rauschte durch das Bild, er war voller Scherben und springender PIs. Die obersten achtzehn Stockwerke des Wheel Towers brachen zusammen – das Gebäude war vom ersten Einschlag enthauptet worden. Kreischend stürzte Amanda Richtung Fensterfront der Unispro-Versicherung.

       Warum ich? Warum wollen all diese PIs mich retten? Siebenunddreißig Personen waren in diesem Büro, viele verheiratet und mit kleinen Kindern …

      Die parallele Intelligenz mit dem Feuerlöscher schleuderte das Gerät durch eine Scheibe des Nebengebäudes. Eine weitere PI bekam den Fensterrahmen zu fassen, hielt sich trotz des auf sie abgehenden Glasgewitters fest und angelte mit der freien Hand nach Amanda. Sie wurde von ihrem Beschützer hochgeworfen wie von einer Sprungfeder abgeschossen.

      Amanda stoppte die Wiedergabe und fasste sich an ihren linken Arm, an das schienende Fasergerüst und dann an ihre Seite. Da ist es passiert. Sie startete das Video erneut:

      Ihr Beschützer stürzte ab und breitete dabei die Arme aus. Erschrocken blinzelte Amanda. Was ist das für ein Gestank? Tausend Gefühle schienen zugleich um Aufmerksamkeit zu buhlen. Ein weiterer Einschlag, Feuerschein spiegelte sich in den Roboteraugen. Eine andere PI stieß sie weiter nach oben, und der sich am Fenster festklammernde Helfer bekam Amanda zu fassen und schleuderte sie in das Büro der Versicherung. Feuer brandete in die Etage, und zwei Stockwerke tiefer brach die aufzeichnende PI durch die Scheibe. Die Parallele rappelte sich auf und rannte durch das leere Büro in das Treppenhaus und die Treppe hoch. Sie fand Amanda bewusstlos und blutend hinter einem umgestürzten Schreibtisch. Ihr Beschützer nahm sie auf und trug sie aus dem Büro, ringsum krachte und prasselte es, Deckenplatten stürzten auf die unbesetzten Arbeitsplätze. Hinter einer Schutztür legte er sie vorsichtig ab, beugte sich über sie und nahm ihren Kopf zwischen seine Hände. »Das ist mein Geschenk an dich«, sagte er. »Es wird dir helfen, klarer zu sehen.«

      Plötzlich stoppte die Aufzeichnung. Wahrheit gegen Wahrheit stand unten am Bildrand in roten Arial-Lettern. Das Bild änderte sich, ein Gebäude war zu sehen, ein weites Betonfeld und ein großes blau-weißes Fluggerät, geformt wie ein schmaler Rochen. Die Sonne schien darauf, und ein neuer Text erschien: Wenn Sie sich Ihre Antworten verdienen wollen, kommen Sie am 28.01. nach Serenity Base. Ihr elektronisches Ticket hat den Code 37AC7O539. Unwillkürlich atmete Amanda die angehaltene Luft aus und riss sich die Brille vom Kopf.

      »Wer hat den Speicher gebracht?«, fuhr sie den Sansei an.

      »Niemand, er lag auf Ihrem Bett.«

      »Lügner!« Sie sprang auf, ihre verletzten Beine drohten wegzuknicken. Mit zusammengebissenen Zähnen stakste sie zum Schrank, riss die weiße Lamellentür auf und begann, in der Tasche zu wühlen, die Ben für sie in ihrer Wohnung gepackt hatte. Schnell fand sie, was sie suchte. Du kennst mich, Bruder. Sie nahm den kleinen Werkzeugbeutel heraus, zog den Reißverschluss zurück und löste die Lux-Werther-Sonde aus ihrer Klammer. Das Gerät sah aus wie ein silberner Stift mit roten, blauen und gelben OLED-Ringen im oberen Teil. Sie drehte den Regler, worauf die Ringe nacheinander aufleuchteten.

      »Komm her!«, befahl Amanda dem Kuro, der ihr einen misstrauischen Blick zuwarf, den Befehl aber doch befolgte.

      »Was haben Sie vor? Sie sind nicht befugt …«

      Die Lichter der Sonde pulsierten in allen Farben des Regenbogens, die Codes darin lösten ein Sicherheitsprogramm aus und trennten den PI-Kern vom Roboter-Körper. Der Körper straffte sich, wurde steif. Die Zugangsklappe am Hinterkopf der Maschine entriegelte.

      »Wir zwei gehen diesem Speicher jetzt auf den Grund.«

      24.01.2048, London

      Richard Harris starrte in den von Royal-Navy-Linienschiffen eingerahmten Werbespiegel der Fleet-Brauerei und sah einen ergrauten und schlecht rasierten alten Mistkerl in einem Tweed-Sakko. Einen Rentner, der vor langer Zeit zugunsten seiner Karriere miese Entscheidungen getroffen hatte und nun, nach seinem letzten Arbeitstag bei der Metropolitan Police, ohne Frau, ohne Kinder und ohne Job dastand. Einen Idioten ohne Sinn und Ziel für sein weiteres Leben. Einen alten Arsch, dachte er, der verdammt noch mal nicht rührselig in einen beschissenen Spiegel starren sollte.

      Er nahm einen Schluck Porter und ließ den Blick durch den Pub schweifen, ohne dabei etwas Aufmunterndes zu entdecken – ganz im Gegenteil. Richard hasste The Tardy Hangman. Den sorgsam gepflegten Charme des auf antik getrimmten Schankraumes, die grobkörnigen Schwarz-Weiß-Fotos und die Polizei-Devotionalien an den Wänden. Früher einmal war The Hangman tatsächlich ein Polizistenpub gewesen. In seinen ersten Jahren bei der Met, als Detective Constables noch mehr gewesen waren als das Begleitpersonal für neunmalkluge parallele Intelligenzen mit Augen scharf wie Weltraumteleskope, perfekten Gedächtnissen und einem direkten Draht zum Kriminaltechnik-Zentralcomputer, psychologischen Expertensystemen und den internen Ermittlern. Damals war er mit den Kollegen oft hier gewesen: mit Ioan Read, dem schlaksigen Waliser, der sich beim Abfeuern seiner Waffe immer selbst etwas erschrocken hatte, aber von einer Stelle in der Zeugenschutzgruppe träumte. Mit Susan Ann Lill, einer rothaarigen Schönheit aus Northampton, deren Repliken zu schlagfertig für ihre Vorgesetzten gewesen waren. Seinem Ausbilder und ersten Partner Hassan Tawil, Spross einer stolzen Obsthändlerdynastie aus Soho. Mit Carsten, May, Paula, Harry… Kollegen, Berufsabschnittsgefährten und Freunde, alle waren fort, irgendwann von den Sprossen der Karriereleiter gefallen – oder gestoßen worden. Paula und May hatten geheiratet, Kinder bekommen und waren freiwillig ausgeschieden, versüßt durch eine Abfindung der Stadt. Hassan hatte nach Beschwerden über angebliches Fehlverhalten im Umgang mit Beweismitteln ebenfalls den angebotenen Vorruhestand akzeptiert, ernüchtert und verbittert.


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