Kalte Berechnung. Michael Rapp

Kalte Berechnung - Michael Rapp


Скачать книгу
werden angeheuert … und erpresst.«

      »Was soll der Quatsch?«, schnaufte Richard und stand auf. »Meer der Heiterkeit? Ist das einer deiner Streiche?«

      »Das hier sind Bordkarten für den Clipper-Flug nächsten Dienstag. Jeweils Hin- und Rückflug.«

      »Und?«

      »Weltraum-Clipper, alter Mann! Jede davon kostet fast dreißig Millionen Pfund. Wir wurden in ein Luxusresort auf den Mond bestellt.«

      Abflug zum Mond

      In der Lounge der Wheelwright Clipper Corp. im Mojave-Raumhafen herrschte ein Zustand, der schlimmer war als Chaos: eine Verkehrung des Normalen, ein Widersinn, der sich durch die vorhandenen Daten nicht auflösen ließ und Lotte Konsdotter zu überfordern drohte.

      Was ist hier los?, fragte sich die Pilotin des Clippers Grand Vision und bewegte sich angespannt zwischen den auf bequemen Bänken und in Luxus-Arbeitsmodulen wartenden Passagieren für Flug 817, die auf der Passagierliste alle als VIPs der höchsten Kategorie geführt wurden. Eine Ehre, die sonst nur den Firmeninhabern und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten gebührte, wobei sich Lotte beim Präsidenten nicht sicher war.

      Wer sind diese seltsamen Leute und was wollen sie auf dem Mond? Ihr Blick blieb an dem bärtigen Gesicht eines Engländers hängen, der sich schon seit einer guten Viertelstunde aus einem der Arbeitsmodule heraus mit seinem Uraltmodell von Roboter stritt. Richard Harris, ein Privatdetektiv, erinnerte sie sich. Ein Modul weiter saß Amanda Chershi, eine junge Frau, die offenbar erst vor kurzem schwer verletzt worden war und durch ihre Datenbrille mit unstetem Blick die Umgebung scannte, wie ein Erdmännchen, das aus dem Bau heraus nach Greifvögeln Ausschau hielt. Unter ihrem auf dem Modulrahmen liegenden grauen Mantel hielt sie ein längliches Werkzeug verborgen, das sie nacheinander auf die umstehenden Maschinen richtete. Was auch immer sie dabei erfuhr, es machte sie noch nervöser. Auf dem Rand der breiten Bank gegenüber saß der vollbärtige Victor Mann und starrte sorgenvoll auf seine Turnschuhe, die auf seiner offenbar schon weit gereisten Tasche ruhten. Am linken Schuh hing etwas, das aussah wie blaue Tierhaare … Oda Toshio trug einen altmodischen Sensoranzug und hatte ein Bein über das andere geschlagen. Das goldene Wappen an seinem Mandarinkragen hatte die Form eines segnenden Buddhas in einem Flammenkranz. Eigentlich wirkte er unauffällig, doch da war etwas mit seinem Gesicht, das Lotte nicht definieren konnte. Sie musste einfach hinstarren, als würde ihr Blick daran festkleben. Als er sie plötzlich anlächelte, überkam sie ein Schwindel, und sie sah weg. Am anderen Ende der Bank tippte die achtzehn Jahre alte Gwendolyn Iden auf ihrem Tablet herum und lächelte in sich hinein. Ihr blondes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der Aufdruck ihres T-Shirts zeigte eine komplexe Struktur aus zerbrochenen Zahnrädern, um die sich blühende Winden rankten, ihr Halstuch war dunkelrot, die Schlaghose bestand aus vertikalen schwarz-weißen Streifen, und als Gürtel trug sie einen bunten Kabelbaum aus einer technischen Anlage. Sie passte mit diesem Outfit so gar nicht hierher, genau wie die übrigen drei Burschen. Falsch, zwei Burschen und eine burschikose Frau, korrigierte sich Lotte. Jenna Staroll, Ulrich Turner und Tim Fischer, drei bekannte E-Sportler und V-Fighter. Die drei trugen das halbe Gesicht verdeckende Gamingbrillen und schwangen unsichtbare Schwerter. In enger Formation gegen einen überlegenen Gegner kämpfend, wurden sie quer durch den Raum zurückgedrängt. Sie kletterten zwischen dem Japaner und dem Mädchen über die Bank und verteidigten diese Anhöhe wie eine Bresche in einem Festungswall. Unbegreiflich! Mehrfach musste Iden den Kopf zur Seite nehmen, um nicht von Turners Schildhand getroffen zu werden. Seltsamerweise schien sie seine Bewegungen vorauszuahnen und reagierte, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. Die fechtende Frau, Staroll, brüllte wütend, fluchte und rief ihren Kameraden Turner zu verstärktem Einsatz auf. Diese Frechheit! Und doch schien sich keiner der Fluggäste ernsthaft belästigt zu fühlen.

      »Verrückte Kids.« Harris seufzte ohne echte Leidenschaft, dann schaute er Richtung Bar, wo seine Bestellung blieb.

      »Keine Sorge, die Orks haben sie gleich«, sagte sein Roboter. Das alte Antiope-Behördenmodell verfolgte jede Bewegung der Spieler, dabei trommelten die Finger seiner Rechten auf seinen Oberschenkel.

      »Na, geh schon, Mike, bevor du vor Aufregung einen Kurzschluss bekommst.«

      »Bis gleich!« Der Rob ließ einfach seine Tasche fallen und sprang den drei Kämpfern zur Seite. »Waldläufer Mike für Gondor!« Die stabile Bank wackelte bedrohlich.

      »Für Gondor!«, riefen die Spielgefährten begeistert.

      Oda erhob sich und zog sich in eine der unbesetzten Arbeitskapseln zurück, und auch Iden hatte endlich genug. Sie stand auf und schüttelte lächelnd den Kopf. Als sie Lottes Blick bemerkte, hob sie ihr Tablet und hielt es so, dass die eingebaute Kamera die Spieler erfasste. Das Bild zeigte eine brennende Burgruine. Hoch auf der gebrochenen Mauer schlugen die vier Kämpfer gepanzerte Orks zurück, die Gefallenen purzelten den Abhang hinab, während immer neue Angreifer über die Leiber der Toten und Verwundeten in die Bresche kletterten.

      Lotte erwog einen Augenblick lang, die Jugendlichen zu ermahnen – normalerweise hätte sie das längst getan, hätte die VIP-Einstufung sie nicht verunsichert. Sie wandte ihren Blick ab. Level-drei-Kunden haben immer Recht, rief sie sich in Erinnerung. Selbst wenn es Kunden waren, die so gar nicht wie Kunden aussahen und mit Straßenschuhen auf den sündhaft teuren Designermöbeln herumtrampelten. Sonst saßen in dieser Lounge Milliardäre, Top-Wissenschaftler und Künstler, die so berühmt waren, dass sie nur auf dem Erdtrabanten ihre Freizeit in vollkommener Ruhe genießen konnten. Menschen mit Einfluss, Geld und Stil; Auserwählte, die Lotte aus den Medien kannte und hoch schätzte, nicht so ein bunter Haufen von Außenseitern, die sich V-Fighter und Privatdetektive nannten oder gar keine regelmäßige Beschäftigung angeben konnten oder wollten.

      Noch verwirrender aber waren die Maschinen. Lotte zählte insgesamt sieben Menschen und drei Roboter. Da war die spielende Antiope, außerdem eine hüllenlose Maschine, vermutlich ein Jarlberg-Modell unbekannter Zugehörigkeit, und ein altersschwacher Rob in abgenutzter Menschenverkleidung, der wie ein älterer Herr aussah. Fast ein Drittel der verkauften Plätze des Clippers würden diesmal mit Geräten besetzt sein, die sonst nur per Frachtcontainer hochgeschossen wurden, wenn überhaupt. Schließlich gab es auf dem Mond Assembler, die Maschinenkörper herstellen konnten, nur modernere, schönere Modelle. Wozu also Kabinenplätze für fast hundert Millionen Dollar an PIs verschwenden? Wo blieb da die Logik? Sie brauchte Antworten. Lotte zog ihren Com vom Gürtel, der sich in ihrer Hand entfaltete, und wählte die Kurzwahl der Kundenbetreuung. Im Vorbeigehen betrachtete sie die Menschenmaschine, die einmal ausgesehen hatte wie ein freundlicher Herr mit grau meliertem Bart, doch durch einen jahrelangen Mangel an Wartung nun etwas Bemitleidenswertes an sich hatte. Prompt hob das verschrammte Ding seinen Blick und sprach sie an:

      »Sieh an, unsere Pilotin. Ich nehme an, Sie wissen nicht, wer für all das hier zahlt?«

      »Selbst wenn, würde es mir nicht freistehen, darüber zu sprechen«, antwortete sie so freundlich, wie es ihr möglich war.

      Die Maschine nickte, dann starrte sie einige Sekunden nachdenklich vor sich hin, bevor sie lächelte und weitersprach: »Ich versuche, eine positive Erklärung für das alles zu finden, aber jedes wahrscheinliche Ereignismodell ist negativ. Wir werden in eine Falle gelockt. Es ist schrecklich spannend. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gibt es bald Tote.« Verstohlen blickte der Alte sich um. »Wer könnte der erste sein? Ich? Sie? Das blonde Mädchen? Ich finde diesen Datenmangel äußerst inspirierend. Das schreit nach einer guten Geschichte.«

      »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen!« Lotte wandte sich brüsk ab. Falle? Was sollte das bedeuten? Sie starrte auf den Multiscreen ihres Coms. Das Gerät fand kein Netz, obwohl der Raumhafen mit der modernsten Kommunikationstechnik ausgestattet war. Hieß das, der Hauptcomputer war offline? Das erschien beinahe unmöglich, andererseits gingen heute seltsame Dinge vor. Sie blickte zur Sicherheitsschleuse, die unbesetzt war. Vor nur zehn Minuten hatten dort zwei Maschinen bereitgestanden, um die Boarding-Kontrollen durchzuführen. Das Chaos breitete sich aus –

      »Wir sind hier vollkommen abgeschnitten«, sagte der Rob. »Netzwerke,


Скачать книгу