Kalte Berechnung. Michael Rapp
als wäre das Unbekannte recht gut ausgestattet«, sagte Richard.
»Die Welt ändert sich so schnell, da kommt man als einfache parallele Intelligenz kaum noch mit«, scherzte Mike.
Ein leiser Gong erklang hinter ihnen, gefolgt von der Stimme eines Sitzcomputers. »Bitte bleiben Sie auf Ihrem Platz, bis wir angedockt haben! Vielen Dank!«
Richard hörte ein Rascheln und drehte den Kopf. Die brünette Amerikanerin hatte ihren Sitz verlassen und zog sich an ihm vorbei auf die Schleuse zu. Ihr Gesicht war bleich, und er sah den Schweiß an ihrem Hals glänzen. Offenbar hatte etwas sie erschreckt. Der Clipper verzögerte. Sie wurde durch die Massenträgheit herumgezogen, stieß gegen die Sitze und verlor fast den Halt. Mit Mühe erreichte sie die Schleuse und klammerte sich fest. Eine der Service-PIs redete beruhigend auf sie ein. Richard drehte den Kopf, um zu sehen, wovor sie geflüchtet war. Sein Blick begegnete dem ihres Sitznachbarn. Irgendwie kam ihm das Gesicht des Typen bekannt vor.
»Ich habe auch kein gutes Gefühl bei dem Burschen«, sagte Mike leise. »Wenn es überhaupt ein Bursche ist. Wenn ich ihn ansehe, spinnt meine Gesichtserkennung. Die Werte springen, und die Wärmesignatur ist falsch, da könnte ein Hologramm im Spiel sein.«
Richard brummte unschlüssig. »Die Frau ist auch verdächtig. Was hast du über die beiden gefunden?«
»Sie heißt Amanda Chershi, dreiundzwanzig Jahre alt und ehemalige Chefentwicklerin bei Wheelwright AI in Austin. Eine von drei Überlebenden des Wheel-Tower-Anschlages. Das ist schon alles, was ich finden konnte, bevor das Jubilee-Net im Terminal blockiert wurde. Ich hatte allerdings den Eindruck, dass jemand online aufgeräumt hat. Es gab kaum private Profile oder Veröffentlichungen. Entweder führt sie kein Privatleben oder sie hat die digitalen Brücken hinter sich abgebrochen.«
»Könnte eine Maßnahme zur Verschleierung ihrer Rolle bei dieser Sache sein«, vermutete Richard. »Erst Wheelwright AI, jetzt Wheelwright Clipper, vielleicht steckt sie mit unserem erpresserischen Auftraggeber unter einer Decke. Und der Putativ-Japaner?«
»Ist ebendas: vermutlich ein Japaner. Jedenfalls stammt seine Kleidung aus Japan. Sie war mal teuer, ist aber schon fünf bis sechs Jahre alt, auch wenn sie wie neu aussieht. Ansonsten gibt es nichts, nicht mal einen Namen. In der Lounge hat er mit niemandem geredet.« Mike zuckte mit den Schultern. »Sein Gesicht hat große Ähnlichkeit mit dem des jungen Toshiro Mifune, ein Schauspieler, der im 20. Jahrhundert sehr erfolgreich vor allem Gauner und schräge Vögel gespielt hat. Er war einer der ursprünglichen sieben Samurai.«
»Ein toter Schauspieler und ein holografisches Gesicht …« Nachdenklich fuhr sich Richard mit den Fingern über die Bartstoppeln.
»Bitte nehmen Sie eine gerade Sitzposition ein«, bat der Computer in Richards Sitz. Als er dem nachkam und das schmerzende Knie streckte, wechselte das Bild der Videooberflächen. Die Kabinenwände wurden sichtbar, es blieben nur noch die kleinen runden Fenster.
»Wenn wir auf der Station sind, halt die Mikrofone offen. Ich denke, es ist wichtig, dass wir genau wissen, mit wem wir es zu tun bekommen.«
»Ich nehme mir die Maschinen vor und du dir die Menschen«, sagte Mike.
Richard nickte und beobachtete Chershi, die nicht wirkte, als hätte sie hier irgendetwas unter Kontrolle.
Mit einem leichten Ruck dockte die Grand Vision an dem Versorgungsgerüst zwischen den Türmen an.
Amanda stieß sich ab und schwebte durch die Schleuse in den Gang, auf dessen Videowänden berühmte Astronauten und Kosmonauten stumm applaudierten, als hätte sie mit dem Flug etwas Großes für die Wissenschaft und die Menschheit geleistet. Von der Decke streckte sich ihr eine weiße Schlaufe entgegen.
»Wohin darf ich Sie führen?«, fragte der Stationscomputer.
»Ins Bad«, antwortete sie verlegen und griff zu. »Oder wie auch immer das hier heißt. Schnell, bitte.«
Die Schlaufe zog an und beschleunigte langsam in Richtung des Zugangs zum rechten Turm. Die Europa-Seite war mit einem E gekennzeichnet. – Stimmt, dachte sie. Die Pilotin hat so etwas gesagt. Sie flog vorbei an Apollo-Crews und an Russen mit ihren weiß-blauen Anzügen und fröhlich wedelnden kleinen Hunden auf den Armen, die ganz wild darauf zu sein schienen, vor ihr gestreichelt zu werden. Hinter dem Zugang zum Turm schwebten vier Service-PIs. S-Modelle einer unverkäuflichen Sonderbaureihe, mattweiß und minimalistisch, als wären androgyne Idealkörper aus einem Block Alabaster herausgeschnitten worden.
»Willkommen!«, sagten sie im Chor, dabei leuchteten ihre flachen Gesichter.
Amanda hörte hinter sich das Lachen der V-Fighter, die die Schwerelosigkeit für Kunststückchen nutzten. »Schneller«, bat sie die Schlaufe.
»Bitte erlauben Sie unseren Servicemaschinen, Sie zu unterstützen.« Eine der PIs schwebte von der rechten Seite heran. »Darf ich Sie berühren?« Amanda versteifte sich, sie zögerte und starrte die Parallele an – kein Duft. Sie überwand sich, ließ die Schlaufe los und nickte. Die PI fasste sie sanft bei der Taille und stieß sich vom Boden ab. Gemeinsam stiegen sie in die Höhe, vorbei an den Transportbahnen für die Schlaufen. Amanda war die fast intime Nähe der PI unangenehm, sie vermied es, ihr noch einmal in das nicht vorhandene Gesicht zu sehen, und ließ ihren Blick stattdessen schweifen. Unter sich sah sie einen Kreis aus Schlafkapseln, begrenzt von lichterfüllten Säulen und schwerelos in den Raum wachsenden tropischen Pflanzengemeinschaften. Sieben der eiförmigen Geräte standen offen, nur eines war geschlossen, und ein grünes Symbol leuchtete auf der Deckelschale. Auf der nächsten Ebene flog sie durch ein Gebilde, das aussah, als wäre es aus pastellfarbenen Platten und Stoffbahnen zusammengenäht. Auch hier blühte und grünte es. Wasser plätscherte, und winzige Flügeldrohnen bewegten sich zwischen den Orchideen, wobei ihre Bewegungen weniger an den Flügelschlag von Singvögeln erinnerten als an Pinguine, die unter Wasser tauchten. Auf einem Gestell hingen Atemmasken mit kleinen Sauerstoffgeneratoren. Zwei Alabaster-PIs deuteten Verbeugungen in ihre Richtung an. Die Platten und Stoffbahnen färbten sich um, leuchteten in Grün und zeigten florale Muster. Es war sicher kein Zufall, dass sie Amanda so noch attraktiver erschienen. Nichts hier hatte mit Zufall zu tun, alles folgte Algorithmen, testete im Hintergrund verborgen ihre Reaktionen und stellte sich auf sie ein, als würde sich diese ganze Kunstwelt nur um sie drehen. Keine Mühe ist zu groß für die geehrte Kundin, dachte sie bitter. Die Hände, die sie trugen, waren technisch identisch mit denen, die sie aus dem zusammenbrechenden Wheel-Gebäude gerettet hatten. Sie erinnerte sich an die Nähe der PIs, die Enge, das Krachen und Splittern … Ein Schauder erfasste sie. Sie legte die Hand auf die Brust der Parallelen und musste sich zusammenreißen, um sie nicht wegzustoßen.
Die PI trat sanft auf eine Kante und nahm gerade genug Energie auf, um sie auf die nächste Ebene zu tragen, in einen halbrunden Raum, der an das Innere einer Seeigelschale erinnerte. Glastüren führten in tropfenförmige Nasszellen. Leise Klaviermusik spielte, natürlich Johann Sebastian Bach. Der Stationscomputer kannte ihre Playlisten und hatte sicher durch Abgleich mit den Abspielgeräten in ihrer Wohnung herausgefunden, dass sie Bach gern beim Baden hörte. Die PI ließ sie los und schwebte von ihr weg. Ihre Oberfläche, die für sie einen neuen Skin geladen hatte (ebenfalls grün und golden), wechselte zurück zu Alabaster, die Musik verklang.
»Verzeihung, dass ich Sie verärgert habe«, sagte die Serviceeinheit devot. »Wünschen Sie die Individualisierung Ihrer Erfahrung zu beenden?«
»Ja«, sagte Amanda errötend. Sie atmete tief durch und griff nach dem Handlauf, der sich an der Wand für sie entfaltete. »Danke, aber das alles ist mir zu aufdringlich.«
»Selbstverständlich. Wir lernen noch, wie wir Sie am besten unterstützen können.« Die PI machte eine einladende Geste in Richtung einer der Glastüren. Amanda stieß sich ab, und die Tür der Zelle öffnete sich für sie. Sie bremste am Rahmen, zog sich vorsichtig hinein. Der Raum war annähernd rund, mit buntem Glas ausgekleidet, und in die Wände waren Halterungen, Düsen und mysteriöse Module eingelassen. Einen Moment lang überlegte sie, wo oben und unten war, doch das spielte wohl keine Rolle. Die Tür wurde milchig und undurchsichtig. Amanda starrte ratlos auf die erleuchteten Haltegestänge, die sich für sie