Kalte Berechnung. Michael Rapp

Kalte Berechnung - Michael Rapp


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gesehen.« Unschlüssig, was sie tun sollte, blickte sie sich um.

      »Sie spüren doch seine Gefühle«, sagte Die Antwort interessiert. »Können Sie daraus nicht schließen, was er gerade tut?«

      »Er hat gute Laune, schon die ganze Zeit, ohne Pause«, sagte Harris düster.

      »Das klingt doch gut«, meinte Amanda.

      »Nein, das ist schlecht. Ich glaube, er spielt, statt zu arbeiten. Außerdem reagiert er nicht auf mein Feedback. Eigentlich hätte er längst auftauchen müssen.« Harris stieß sich von der Kapsel ab und drehte sich ungeschickt. »Ich werde ihn suchen, bitte behalten Sie solange die Pilotin im Auge. Ich will nicht, dass sich jemand die Beweise unter den Nagel reißt. Wenn ich zurück bin, löse ich den Fall!« Er strampelte und ruderte mit den Armen beim Versuch, sich nicht im Pflanzenbewuchs der Säule zu verstricken. Bänder streckten sich ihm entgegen. Nachdem er zweimal vorbeigegriffen hatte, wand sich eines um sein Fußgelenk und zog ihn zu Boden wie einen Gasballon.

      »Bitte nennen Sie Ihr Ziel«, verlangte der Stationscomputer.

      »Zu meinem Partner!« Harris zerrte an dem Band, das ihn aber festhielt, bis zwei Serviceeinheiten herbeieilten, um ihm zu helfen.

      »Ich werde mir das Cockpit des Clippers ansehen.« Oda ging an der Kapsel vorbei, dabei warf er dem mit der Technik kämpfenden Inspektor einen geringschätzigen Blick zu, dann wandte sich die Maschine an Amanda. »Ihnen rate ich, den Kern zu analysieren. Das ist doch Ihr Spezialgebiet, Chershi-san. Oder wollen Sie hierbleiben?« Und leise fügte sie hinzu: »Sie sollten sich doppelt anstrengen, sonst fliegen Sie aus dem Rennen, bevor Sie das haben, wofür Sie hier sind. Und das wäre doch schade.«

      »Ich dachte, ich sei Teil deiner persönlichen Hölle?«

      »Das ist wahr, aber ich vermute, Sie haben im Rahmen des Dharma noch eine Rolle zu spielen.« Oda strich sich geschickt über den holografischen Bart und schlenderte davon. Sein Auftreten erinnerte sie an einige ihrer alten Kollegen, die ihre Mode als fertige Outfit-Sets bezogen hatten, inklusive Accessoires und passendem Duft. Anfangs hatte sie sich von solchen stets perfekt wirkenden Leuten eingeschüchtert gefühlt, bis Julian ihr erklärt hatte, dass die am besten angezogenen Mitarbeiter oft die mit dem kompliziertesten Privatleben waren.

      »Schwer einzuschätzen, der Bursche«, sagte Die Antwort. »Hervorragende Firewalls, aber schwierige Persönlichkeit. Wenn er sich für Sie interessiert, kann das nicht gut sein. Ich an Ihrer Stelle wäre vorsichtig.«

      »Er hat keine Persönlichkeit«, sagte Amanda. »Bei all der miesen Ausstrahlung sollte er eigentlich eine haben, aber er hat keine. Sonst hätte ich längst etwas gerochen.«

      »Was gerochen?«, fragte die PI neugierig.

      Sie seufzte und schüttelte den Kopf. War es nun gut oder schlecht, wenn eine PI Gefühle zeigte? Und was löste ihre Synästhesie aus? Wenn es denn noch eine Synästhesie war und nicht schon eine ausgewachsene psychische Störung. Warum sah sie in der einen Maschine nur ein Ding und in einer anderen ein Lebewesen? Bisher hatte sie Parallele immer nur dann als lebendig wahrgenommen, wenn kein Mensch in ihrer Nähe gewesen war. Doch eben hatte sie Gefühle in dem Hologramm riechen und sehen können. Es war nach wie vor verwirrend, als würde ihr Gehirn Ich sehe was, was du nicht siehst mit ihr spielen. Sollte das das Geschenk sein, welches die PI in dem Video erwähnt hatte? Ursprünglich hatte sie gedacht, die parallele Intelligenz habe ihre Rettung als Geschenk bezeichnet. Jetzt war sie sich nicht mehr sicher. Sie blickte zu der Pilotin. In einem Punkt hatte Oda recht: Wenn sie ihre Antworten wollte, würde sie sich mehr anstrengen müssen. Ich kann das schaffen, dachte sie. Nein, ich muss das schaffen!

      »Wenn Sie erlauben, gehe ich Ihnen zur Hand.« Die Antwort schwebte an ihre Seite.

      »Du machst mir doch keine Schwierigkeiten, oder?« Sie blickte in den mechatronischen Gesichtsunterbau. Die Kunstmuskeln zogen sich zusammen.

      »Wie Sie sehen, habe ich nichts zu verbergen.«

      Division-By-Zero sprang vor und zurück zwischen dem ersten Zusammentreffen der Wheelwright-AI-Ingenieurin mit ihren Rettern am Aufzug und der Stelle, als die Druckwelle des zweiten Marschflugkörpers die Maschine durch das Fenster in das Versicherungsgebäude geschleudert hatte. Immer wieder nahm er Verbesserungen an der Simulation vor, übertrug seine Ergebnisse in die Algorithmen und startete neu. Er hatte sich während des Gesprächs mit Amanda Chershi eine Kopie ihrer Aufzeichnung gezogen und diese ausgewertet. Ursprünglich hatte er nur den zeitlichen Ablauf des Angriffs und ihrer Rettung erfassen wollen. Insbesondere die Ausbreitung der Explosionen und die Bewegungsmuster der Maschinen hatten ihn interessiert. Dafür hatte er sechzig Prozent seiner Rechenleistung bereitgestellt, doch schnell hatte sich die Geschichte als komplexer und vielversprechender erwiesen, als Division-By-Zero vermutet hatte, und sein Reporterinstinkt war geweckt worden. Weitere fünfzehn Prozent seiner Ressourcen flossen in die Berechnungen. Bereits am Rande seiner Leistungsfähigkeit betrat er die Odyssee und den Turm auf der Afrika-Seite. Auf der ersten Ebene standen die Entertainmentstationen, mit denen er sich vernetzte. Zu dieser Zeit lief seine Simulation bereits seit über einer Stunde und hatte eine Ausdehnung von gut 2.800 Prozent ihres ursprünglichen Umfanges erreicht. Der größte Teil der Rechenleistung des Entertainmentsystems war darin gebunden, außerdem siebenundneunzig Prozent seiner eigenen Ressourcen, so viel, dass er seine Körpersysteme dafür außer Betrieb hatte nehmen müssen. Er existierte nun fast vollkommen in der Simulation, während sein Roboterkörper reglos in einer der Sitzschalen saß. Und doch … Das reicht nicht, erkannte er. Bei weitem nicht. Dieses verdächtige Zusammenspiel von Ereignissen, war es Zufall oder Choreografie? Je weiter er dieser Frage nachjagte, desto tiefer wurde die Spaltung in ihm, zwischen der quantitativen Logik, die in jeder ungewöhnlichen Serie von Würfelwürfen ein Muster erkennen wollte, und der übergeordneten Regel (oder Lebensweisheit), dass der Zufall oft die unglaublichsten Zusammenhänge erschuf. Korrelation war eben nicht gleich Kausalität. Jagte er ein Einhorn durch die mathematischen Sphären? Ein Fabelwesen, dessen Spuren er fälschlich zu lesen glaubte? Je weiter er vordrang, desto fantastischer wurde das Bild des hypothetischen Verdächtigen und desto tiefer wurde die Kluft zwischen dem angehäuften Indizienberg und der zur Vorsicht ratenden Logik. Die Neugier trieb ihn, noch mehr Zeit zu investieren, als er sich ursprünglich eingeräumt hatte. Er witterte eine Story, etwas wirklich Großes. Doch schließlich musste er sich eingestehen, dass er nichts erreicht hatte. Er stoppte das Schürfen nach neuen Zusammenhängen. Zeitmanagement war eine der wichtigsten Fähigkeiten eines Journalisten. Es gab noch so viele Fragen und Geschichten, die er bearbeiten musste: das Rätsel der Einladung, die er vollkommen überraschend erhalten hatte, als er inkognito die Geschäfte eines Neuroenhancer-Drogenrings untersucht hatte. Die Motive des Auftraggebers und seiner Mitreisenden. Und die Rolle der Wheelwright-Gruppe bei alledem. Vielleicht würde sich bei diesen Recherchen ja ein neuer Zusammenhang ergeben, der ihn seinem Einhorn näher brachte. Die Zeit dieses Rätsels war noch nicht gekommen, schrieb er in seiner Autobiografie. So wie ein Angler geduldig auf den Biss wartet und die leiseste Regung seiner Angelrute in den Fingerspitzen fühlt, muss auch der Geschichtenfischer Aufmerksamkeit mit Geduld verbinden … Er reaktivierte seinen Körper. Die Temperaturfühler und die Drucksensoren sprangen an … Warnmeldungen prasselten auf ihn ein. Als er die Augen öffnete, erwiesen sich seine eilig aufgestellten Schlussfolgerungen als korrekt: Er schwebte im Weltraum, gehalten im festen Klammergriff der Antiope mit der Bezeichnung Mike, die sich nicht regte, offenbar deaktiviert war – nein, defekt, korrigierte er sich. Mikes Körper war ein altes Modell, das schon lange keine umfassende Wartung mehr erhalten hatte, geschweige denn die notwendige Anpassung an diese Umgebung. Ohne spezielle Modifikationen aber konnte ein Roboterkörper in der Kälte des Alls nicht arbeiten.

      Die riesige Erde lag vor ihnen, die Station irgendwo in ihrem Rücken. Eine noch sanfte Schwerkraft zog sie unaufhaltsam in ihre flammende Zerstörung, die sie bei Eintritt in die Atmosphäre erleiden würden. Division-By-Zero berechnete seine nicht gerade vielfältigen Optionen. Sein Körper enthielt nur ein Bauteil, das sich zu einem Notantrieb umwandeln ließ: Das Kühlsystem verfügte über eine leistungsstarke


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