Kalte Berechnung. Michael Rapp
ihre klar strukturierte Welt verschlangen? Sie brachte es nicht fertig … »Zum siebten Geburtstag schenkte er mir meinen ersten Kern-Bausatz. Sie hieß LIN, das stand für lernende Intelligenz. Gemeinsam setzten wir sie zusammen, und ich startete ihren Persönlichkeitsprozess.«
»Das haben Sie allein geschafft?«
»Sie war ja nur ein simpler Jarlberg-IN-Kern, wie er schon im X1 verbaut gewesen war. Dazu eine Open-Source-Persönlichkeit, die kaum dreitausend Worte und vielleicht sechshundert Gegenstände kannte.« Sie lächelte bei der Erinnerung. »Mein Vater wollte mir helfen, sie zu trainieren, doch als er und Mutter sich trennten, machte ich das allein. In vielen hundert Gesprächen bildete ich LIN aus, bis sie wie meine kleine Schwester war.«
»Haben Sie keine biologischen Geschwister?«, fragte Oda, dabei legte er seine Hand neben ihre.
»Einen Bruder. Ben.« Sie fühlte, wie sie bei der leichten Berührung errötete, und zog ihre Hand zurück.
»Dennoch wünschten Sie sich eine PI als Schwester? War Ben so schlimm?«
»Mein Bruder ist freundlich und verlässlich – heute jedenfalls. Als Kind war er eine Plage, immer auf Streit aus und eifersüchtig. Manchmal hasste ich ihn, auch wenn das hart klingt. Ich will nicht sagen, dass er mir gezeigt hat, dass man PIs mehr vertrauen kann als Menschen, das wäre unfair. Er war ja nur ein Kind, und es gab genug andere Beweise für die These …« Sie stockte, wunderte sich über sich selbst. Das hatte sie noch nie ausgesprochen, schließlich hatte sie lange und hart daran gearbeitet, mit anderen Menschen klarzukommen … Sie warf Oda einen forschenden Blick zu, aber der lächelte nur. Offenbar verurteilte er sie nicht. Beruhigt fuhr sie fort: »In meinem Rucksack verstaut ging LIN mit mir in die Schule. Zuhause wohnte sie in einem Äffchen-Roboter auf dem Nachttisch. Wir waren unzertrennlich, bis Ben sie … zerstört hat.«
»Sie wollten sagen, ermordet.«
Amanda biss sich auf die Lippe, ihre Hand tastete nach der Datenbrille. »Nein.« Doch Oda hatte recht, das Wort zerstört klang auch nach all den Jahren immer noch falsch. »Es tut ihm heute wirklich leid«, erklärte sie. »Er war eifersüchtig auf die Aufmerksamkeit, die ich ihr schenkte, und warf LIN vom Santa Monica Pier. Er hat es tagelang abgestritten … LIN hatte da schon acht Sprachen zur Verfügung, um meinen Bruder auf die Folgen seines Tuns hinzuweisen, doch gegen das eindringende Salzwasser konnte sie nichts unternehmen.« Sie blickte hinaus auf die blaue Erde. »Meine Mutter sagte: Hättest du deinen Bruder nicht ignoriert, wäre dein Püppchen noch heil. Sie ist Künstlerin, eine sehr emotionale Frau, die nichts mehr liebt als Farben. PIs hat sie nie verstanden. Ihrer Meinung nach weinte ich wegen eines kaputten Spielzeugs.«
»So lernten Sie, dass es nicht die Maschinen sind, vor denen man Angst haben muss, sondern die Menschen. PIs sind zuverlässig, ihr Handeln nachvollziehbar und niemals durch fehlgeleitete Wut oder Eifersucht bestimmt. Ich verstehe Sie, auch für mich liegt in künstlicher Intelligenz eine Chance für die Welt …«
Amanda nickte erfreut. »Ja. So habe ich immer gedacht …«
»Alter Mann, hör auf, so einen rührseligen Scheiß zu fühlen!«, beschwerte sich mit schroffem englischen Akzent die Antiope zwei Reihen vor ihr bei ihrem Besitzer. »Ich kann keine vernünftige Simulation laufen lassen! Außerdem habe ich dauernd das Gefühl, mir übers Gesicht wischen zu müssen, als wäre ich bescheuert!«
»Schnauze!«, rumpelte der Engländer zurück. »Hör auf zu rechnen und genieß die verdammte Aussicht!«
»Ich bin eine PI, wenn ich nicht mehr rechne, bin ich tot!«
»Dann stirb leise!«
»Die zwei sind nur am Streiten.« Oda lächelte kryptisch. »Sie teilen seine Gefühle, und das offenbar schon seit vielen Jahren, sodass die PI sie fest in ihre Prozesse integriert hat. Zwei grundverschiedene Systeme, aber eine gemeinsame Ressource. Ein wirklich interessantes Experiment mit einem absolut nutzlosen Ergebnis.«
Amanda bemerkte eine Bewegung in Odas Gesicht. Es dauerte nur einen Sekundenbruchteil – war es ein Lichteinfall? Sie versuchte, ihn nicht anzustarren, aber für einen Augenblick hatte es so ausgesehen, als hätte sich sein rechtes Auge aus seiner Position bewegt … Wie hell seine Zähne waren. Zu weiß und zu transparent für einen Asiaten, selbst mit Bleachinggel-Überdosis. Und die bernsteinfarbenen Augen, wie seltsam attraktiv sich das Licht in den Iriden verfing. Das waren keine menschlichen Augen, tatsächlich waren es überhaupt keine Augen, sondern nur die Projektionen von Augen. Sie erkannte die Konstruktion, erinnerte sich an den Artikel über japanische FX-Unterhaltungsroboter im World-of-AI-Newsletter. Panik stieg in ihr auf. Was habe ich getan?
»Sie erwachen und sehen nun klarer.« Oda lehnte sich in seinem Sitz zurück. »Oh weh, wo ist Amanda Chershi nur hineingeraten? Maschinen, emanzipiert von ihren Funktionen, und Menschen, die keine Menschen sind. Sie als Nicht-Ermittlerin unter all den Spürnasen, Hackern und Deduktionsautomaten. Wie passt sie in dieses Puzzle? Ich werde es herausfinden.«
»Du hast mich gehackt!«, fuhr sie ihn verletzt an. »Wie hast du es gemacht?«
»Vielleicht ist es nur mein Charme.«
»Fahr zur Hölle!«
»Die Hölle, das seid ihr«, sagte er immer noch lächelnd. Seine Stimme war glatt und hart wie eine Klinge. »Doch der wahre Buddha wird euch überwinden.«
Amanda drehte sich auf ihrem Sitz und starrte mit hämmerndem Herz hinaus in die Tiefe des Weltraumes. Der wahre Buddha? Der letzte Schimmer der Erde versank unter dem Clipper, und aus der finsteren Weite über dem schwindenden Blau blitzte ein Licht, erst kaum sichtbar, dann immer klarer.
Die erste Prüfung
Die Vision gab Gegenschub und glitt zwischen die beiden hundertzwölf Meter hohen Türme der Odyssee-Versorgungsstation, auch bekannt als die Säulen des Herakles. Bei Annäherung des Schiffs war die Station zum Leben erwacht. Immer mehr Lichter flammten an den Türmen und dem sie verbindenden Gerüst auf. Positions- und Landelichter, aber auch Elemente, die offenbar nur dem optischen Eindruck dienten und die Reisenden beeindrucken sollten. Richard war sehr beeindruckt.
»Non plus ultra«, sagte Mike.
»Das nun auch wieder nicht«, widersprach er. »Aber schon ein bemerkenswerter Anblick.«
Mike grinste. »Der Spruch Non plus ultra war laut Legende an den echten Säulen des Herakles eingelassen. Übersetzt bedeutet er: Bis hierher und nicht weiter. Eigentlich eine Warnung. Die Säulen markierten für die antiken Griechen das Ende der bekannten und sicheren Welt. Kaiser Karl V. übernahm die Säulen in sein Wappen, änderte das Motto aber in Plus ultra. So machte er aus dem Ende der Welt den Zugang zu einer größeren.«
»Die Mayas und Inkas hätten sicher darauf verzichten können.«
»Darum geht es doch nicht, Richard. Entscheidend ist der Entschluss, alles zu wagen und in das Unbekannte vorzustoßen. Eine Grenze nicht mehr als Ort der Gefahr, sondern als Herausforderung und Chance zu verstehen. Unterhalb des Rad-Logos der Wheelwright-Gruppe steht übrigens das gleiche Motto.« Er deutete auf ein großes goldenes Rad am Turm auf der Afrika-Seite.
Plus ultra, las Richard.
Mit leichtem Andruck machte sich der Gegenschub bemerkbar. Ein Vibrieren ging durch den Clipper. Die Stimme der Pilotin klang von der Decke: »In wenigen Minuten docken wir an der Odyssee-Station an. Während die Grand Vision den Sicherheitscheck durchläuft und neu betankt wird, nutzen Sie bitte unseren Service auf der Station: Schlafkapseln mit Neurovita-Assistenzsystemen für Ihre Augmented-Sleeping-Experience stehen im Bereich E1 zur Verfügung, das Spa finden Sie in E2–3 mit Zero-G-Hygiene, Luftstromduschen und Massageeinheiten, in E4 befinden sich der Sportpark und die Telemedizin. A1–2 im Afrika-Turm beheimaten den holografischen Entertainmentbereich. A3 bietet abgeschirmte Arbeitsbereiche. Und sollten Sie Hunger und Durst verspüren, finden Sie im Stardust-Restaurant auf A4 ein reichhaltiges Angebot. Ich empfehle Ihnen unser Kometenwasser, vier Milliarden Jahre alt und vollkommen schadstofffrei. Egal