Kalte Berechnung. Michael Rapp

Kalte Berechnung - Michael Rapp


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der Anblick nahm ihn ganz gefangen.

      Fast wäre ihre Reise ins Wasser gefallen, gescheitert an dem von der Clipper Corp. vorgeschriebenen Gesundheitscheck. Sein Herz und die Gelenke waren nicht raumfahrttauglich – keine Überraschung. Mike hatte das Gesundheitszeugnis gefälscht, und die Gesellschaft hatte es anstandslos akzeptiert.

      »Danke, dass du mich hergebracht hast«, sagte er leise zu Mike, der auf dem Sitz neben ihm saß und ebenfalls auf die Erde starrte.

      »Wärst du mal rechtzeitig zum Arzt gegangen, hätte ich auch nichts fälschen müssen«, nörgelte die Maschine mit sanfter Stimme.

      »Wann und ob ich zum Arzt gehe, geht dich einen Dreck an«, grummelte Richard ohne Schärfe und fügte ein zart gehauchtes »Blechpenner« hinzu, bevor er sich wieder ganz auf das Erlebnis konzentrierte.

      Amanda blendete die Vibrationen aus und die Beschleunigung, die sie in den Sitz drückte. Tränen flossen unter ihrer VR-Brille hervor. Durch den feuchten Schleier beobachtete sie, wie die PIs sie in Zeitlupe durch die zusammenbrechende Büroebene zu dem Fenster schleppten. Warum nur ich? Was macht mich so wichtig? Die Wiedergabe stoppte. Sie hing in der Luft zwischen Wheel Tower und Versicherung und blickte an sich selbst vorbei auf das einstürzende Gebäude. Was ist passiert? War die Aufzeichnung defekt?

      »Das ist außerordentlich«, sagte eine Stimme durch ihre Brille. Erschrocken richtete sie sich auf. Ein weiß strahlendes, menschenförmiges Loch erschien in der Videoaufzeichnung. Die Lichtgestalt hatte keinen Duft, als wollte sie dadurch harmlos wirken. Das Wesen sah sie direkt an, und es berührte die über ihr fallende PI mit der Hand. »PIs haben für Sie einen Weg aus dem Chaos der Vernichtung gefunden – eine Lösung für ein schier unlösbares Problem. Ich weiß, dass Sie intelligent sind, Amanda Chershi, aber ich glaube, Sie haben keine Vorstellung davon, wie präzise vorausberechnet dieser Fluchtweg war. Und das in Echtzeit! Ich muss sagen, je länger ich daran rechne, desto verdächtiger finde ich das Ganze.«

      Sie zog die Stirn kraus, die Kälte schlich sich an sie heran. »Wer bist du?«

      »Es reicht, wenn Sie flüstern. Wir sollten keine unnötige Aufmerksamkeit erregen. Nicht in dieser Gesellschaft.«

      »Wie kommst du in das Video?«, hauchte sie. Die reparierten Nerven hinter der Augenprothese stachen.

      »Ich bin Division-By-Zero, einer der für diese Reise ausgewählten Ermittler. Ich habe mich in Ihre Brille gehackt.«

      Eine PI. Deshalb also kein Geruch. Der Code 1/0 stand im Prüfprotokoll von PI-Kernen für einen schwerwiegenden Falsch-positiv-Fehler. Bezog sich der Name darauf? »Was willst du?«

      »Ich war neugierig, was für Sie wichtiger sein könnte als das Erlebnis, auf die eigene Welt hinabzublicken. Kulturell normiert gilt das immerhin als herausragend eindrucksvolle Erfahrung.«

      »Ich bin nicht die Einzige, die darauf verzichtet«, verteidigte sie sich.

      Die Lichtgestalt breitete die Arme aus. »Ja, nur leiden der E-Sportler und der Unternehmer, die gerade nicht die Aussicht genießen, erkennbar unter Flug- bzw. Höhenangst. Beide zeigten schon beim Boarding deutliche Stresssymptome. Sie dagegen waren nur wenig angespannt. Erst als Sie die Wiedergabe starteten, stieg Ihr Blutdruck, Ihr Puls kletterte auf einen bedenklichen Wert, und Sie fingen trotz Klimatisierung an zu schwitzen.« Division-By-Zero beugte sich zu ihr herunter, ein konturloses Gesicht, Licht und nichts dahinter. »Ist doch interessant, dass jemand lieber durch seine persönliche Hölle geht, als …«

      Sie unterbrach ihn. »Wer hat dich beauftragt, mich auszuspionieren? Arbeitest du für den Auftraggeber? Ich habe Fragen an ihn …«

      »Wie gesagt, erhielt ich eine Einladung, genau wie Sie. Ich handle aus eigenem Antrieb und verfolge eigene Ziele. Davon abgesehen, finde ich es durchaus fair, mich in Ihre Angelegenheiten zu mischen, immerhin haben Sie in der Lounge versucht, mittels einer Wartungssonde Zugriff auf mich und die anderen PIs zu erlangen. Ich nehme an, auch da wollten Sie Informationen über unseren Auftraggeber gewinnen?«

      Amanda hatte das Gefühl, in die Enge getrieben zu werden. »Ich brauche dich nicht.«

      »Das sehe ich anders. Wenn es hier im Clipper eine Person gibt, die dringend Hilfe benötigt, dann sind Sie es. Kein Wunder, nach so einer Erfahrung.«

      »Verschwinde. Sofort.« Sie musste sich beherrschen, um nicht laut zu werden. Mit der rechten Hand klammerte sie sich an ihren Sitz, der Nervenschmerz erinnerte sie daran, was echt war und was nur digitaler Zauber. Sie starrte in das Licht, und ihr Schweiß rann. »Das ist ein Befehl!«

      »Ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte Division-By-Zero jetzt beruhigend. »Und ich bin nicht Ihr Feind. Was nützt es, wenn Sie sich immer wieder allein quälen? Erzählen Sie mir Ihre Geschichte. Ich kann Ihnen helfen, das hier zu verstehen.« Er streckte die strahlende Hand nach ihr aus.

      Amanda riss sich die Brille herunter und atmete gegen den Druck in ihrer Brust an, dann blickte sie sich um. Zehn Personen waren bei ihr in der Kabine, drei davon PIs. Zwei der künstlichen Intelligenzen, die Antiope des Engländers und das hüllenlose Modell, erwiderten ihren Blick. Welche der beiden war Division-By-Zero?

      Der Asiate auf dem Sitz neben ihr drehte den Kopf. »Alles gut bei Ihnen?« Durch seinen Akzent klang sein Englisch spröde, aber auch besonders akzentuiert. Der Blick seiner braunen Augen war fest und intelligent, sein penibel geschnittener Bart umrahmte als dünner Streifen das ovale Gesicht und bedeckte die Oberlippe und sein Kinn. Kein Härchen schien aus der Reihe zu tanzen, eindeutig ein Mann der Ordnung. Dazu passte auch sein sensorgespickter Funktionsanzug mit dem stilisierten Buddha auf der linken Seite seines Kragens.

      »Ja, alles gut.« Amanda wischte sich den Schweiß von der Schläfe und schämte sich ein bisschen wegen ihrer Reaktion. »Ich bin nur etwas nervös.« Sie blickte auf das blaue Erdenrund, versuchte, den Zauber des Augenblicks zu fassen, doch ihre Gedanken waren zu aufgewühlt. Sie seufzte. »PIs haben mein Leben gerettet«, sagte sie, ohne recht zu wissen, wieso. »Ich verstehe nicht, warum ich plötzlich solche Angst vor ihnen habe und mich bedrängt fühle!«

      Ihr Sitznachbar streckte ihr die Hand entgegen.

      »Oda Toshio.«

      Für eine Männerhand war seine recht zierlich und warm, vielleicht war es aber auch ihre Hand, die kühl war … Sie sog etwas von dem Aftershave des Mannes in ihre Nase: Zitronengras und grüner Tee.

      »Am… Amber Mill.« Die Lüge fühlte sich sicher an.

      »Parallele Intelligenzen können furchterregt sein, Amber. Viele Menschen blicken in ihre Gesichter wie in einen Spiegel. Sie glauben ihr Ebenbild zu erkennen und vergessen, dass da etwas in den Maschinen ist, eine fokussierte und quantifizierende Art, die Welt zu rekonstruieren, die Menschen nie ganz verstehen können.«

      »Nein … So habe ich sie nie gesehen. Ganz im Gegenteil.« Sie zögerte. Ein völlig Fremder, eine Zufallsbekanntschaft auf einem Flug – vielleicht sollte sie dem Drang nachgeben und über das sprechen, worüber sie bisher so beharrlich geschwiegen hatte. »Schon als kleines Kind hatte ich eine besondere Verbindung zu PIs. Wenn meine Eltern arbeiteten, passte ein X1 auf mich auf. Mit drei Jahren lernte ich von ihm lesen und schreiben, die Grundrechenarten und die ersten Programmierbefehle.«

      »Beeindruckend.«

      »Wenn er etwas erklärte, dann verstand ich es, als hätten wir eine eigene Sprache jenseits der Worte. Es gab Richtig und es gab Falsch und nichts dazwischen. Mit fünf kam ich in die dritte Klasse einer Privatschule für Hochbegabte. Aber meine Eltern machten sich schon bald Sorgen, weil ich mit meinen Lehrern nicht zurechtkam und lieber mit der Maschine lernte, als zu spielen oder mich mit Menschen zu unterhalten. Sie schafften den X1 ab, und mein Vater nahm sich ein Sabbatjahr. Aber das änderte nichts daran, dass mir der Kontakt zu Menschen Mühe bereitete …« Sie stockte. Sollte sie über ihre Synästhesie sprechen? Von dem Gefühl der Zerrissenheit, weil da ein Teil von ihr existierte, den sie nicht unter Kontrolle hatte und der


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