Kalte Berechnung. Michael Rapp

Kalte Berechnung - Michael Rapp


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zuerst die Sauerstoffmaske aufsetzen, die unter einem Glasdeckel wartete? Sie versuchte, es sich vorzustellen, und fand den Gedanken so absurd, dass sie kicherte. Erst nur leise, ein schüttelndes, fast hysterisches Kichern, das ihr die Feuchte in die Augen trieb. Doch als die Hilfestellungen immer ausgefallener wurden und wie Hubschrauberlandeplätze blinkten, um sie einzuweisen, konnte sie nicht mehr an sich halten und lachte laut auf.

      »Soll ich mich da draufsetzen …? Ich habe keine Ahnung.« Julian hätte es gewusst, dachte sie. Er hatte immer diese Lebensart-Magazine auf seinem Tab. Er hätte genau gewusst, wie man sich hier yogamäßig auf dem Klo einfädelt und wo die Klobürste versteckt ist. Sie gluckste, wischte sich die Tränen aus den Augen und von den Wangen.

      Die Griffe zogen sich in die Wand zurück. Auf einer Platte erschien die Betriebsanleitung der Zelle in Form von Animationen: Figuren duschten in einem hurrikanartigen Luftstrom, badeten in einer Wasserblase – dank Maske beim zweiten Versuch, ohne zu ertrinken – und saugten sich per Luftunterdruck mit dem Hintern am Klo fest (Amanda hätte geschworen, dass es die Dusche war).

      Schließlich deutete sie auf das Klo. »Also, du Weltwunder der Sanitärtechnik, ich muss geschäftlich da hoch. Kriegen wir das irgendwie hin?«

      Bänder entrollten sich, streckten sich ihr entgegen. Die interaktive Anleitung lieferte die passenden Animationen.

      »Aha«, sagte Amanda beeindruckt. »Sieh mal einer an.«

      Sie hatte gerade ihre Hände an der Seite der Kugel in eine Öffnung gesteckt und sie in einem Strom aus Wasser und Luft gewaschen, als sie draußen aufgeregte Stimmen hörte. Sie entzog ihre Finger dem nun warme Luft blasenden Gerät, stieß sich sanft ab und schwebte zur Tür. Außer ihr war niemand auf der dritten Ebene. Sie versuchte, zurück zu dem Durchgang zu gelangen, dabei kam sie durch eine ungeschickte Bewegung vom Kurs ab, doch sofort streckte sich ihr wieder eine hilfsbereite Schlaufe entgegen. Allmählich gewöhnte sie sich an die Schwerelosigkeit und die Hilfestellungen der Station. Sie ließ sich durch die Öffnung nach unten ziehen. Auf der Ebene mit den Schlafkapseln hatten sich sieben Passagiere versammelt, von denen ihr Laubduft und alarmierender Brandgestank entgegenschlug: der alte Engländer, der Roboter ohne Außenhülle, die drei V-Fighter, der bärtige Turnschuhmann und der falsche Oda. Alle blickten in eine geöffnete Kapsel, in der eine Frau lag. Amanda erkannte sie sofort: die PI-Pilotin, der die Marketingabteilung so einen hippen skandinavischen Namen verpasst hatte – Lotte Konsdotter. Was hat das zu bedeuten? Sie zog sich an dem Band vor und flog schräg nach unten auf eine der pflanzenbewachsenen Säulen zu. Einen Moment fürchtete sie, diesmal zu voreilig gewesen zu sein, doch wieder kam die Hilfestellung rechtzeitig und verhinderte den Zusammenstoß. Lange Bänder erfassten sie, zogen sie herum und nach unten, sodass sie sanft auf ihren Füßen landete.

      »Ich habe dreißig Jahre lang Tötungsdelikte untersucht, wenn ich also sage zurücktreten, dann heißt das verdammt noch mal zurücktreten! Und ja, es ist mir scheißegal, dass wir hier in der Schwerelosigkeit sind! Dann schwebt halt zurück!« So schimpfend klammerte sich der Engländer vor der Schlafkapsel an einem Band fest. Die drei V-Fighter kamen der Aufforderung nach, erschrocken über den Anblick des leblosen Körpers. Auf der gegenüberliegenden Kapsel stand die hüllenlose Parallele, die Amanda schon in der Lounge aufgefallen war. Die PI begrüßte sie mit leichtem Kopfnicken. Division-By-Zero? Mit fachkundigem Blick auf die Bauteile erkannte sie ein 7er-S-Modell in Vorserienausführung. Seltsam, das war ihr vorher gar nicht aufgefallen. Hinter den Rippenbögen der Parallelen, zwischen Akku und der Pumpe des Kühlsystems, hing ein Fetzen blauen Kunststoffs, der da eigentlich nicht hingehörte. Eine Spezialisolierung? Vermutlich eine Einheit der Wheelwright Clipper Corp., ausgerüstet für den Einsatz im Weltraum. Ein Stück rechts von ihr klammerte sich der bärtige Mann in Jeans und Turnschuhen an einem Band fest. Er wirkte mitgenommen, seine starr blickenden Augen lagen tief in ihren Höhlen. Oda Toshio ging um die Kapsel herum. Er benutzte dabei keine Bänder, trotzdem bewegte er sich fast so, als sei er auf der Erde. Magnetschuhe, vermutete sie. »Näher heran«, befahl sie den Bändern. Amanda schwebte zu der Kapsel, hielt sich an dem Deckel fest und blickte auf den leblosen Körper. Konsdotter lag scheinbar entspannt da, die Augen geschlossen und die Finger auf dem Bauch verschränkt. Amanda wunderte sich über die unnatürliche Haltung. Sie griff in ihre Tasche und zog ihre Wartungssonde hervor.

      »Das gilt auch für Sie, Miss!«, fuhr der alte Polizist sie an und versuchte verzweifelt, die Rollbewegung zu unterdrücken, die seine allzu hastigen Bewegungen ausgelöst hatten. »Bitte lassen Sie mich meine Arbeit machen!«

      Der Kerl kam ihr wie ein Hund vor, der seinen Knochen verteidigte und dabei nicht zu zeigen versuchte, dass er selbst Angst hatte. Doch die Geruchskombination, die er auslöste, war eine andere: Leder und Kaffee, als sei er kein Mensch, sondern ein altgedientes Büromöbel. Durchaus nicht unangenehm. Sie lächelte.

      »Verzeihung, Inspektor, aber das hier ist meine Arbeit.«

      »Und wie kommen Sie darauf?«, knurrte er.

      »Erstens bin ich von Wheelwright Artificial Intelligence, und das gehört genauso wie die Clipper Corp. zur Wheelwright-Gruppe. Und zweitens meine ich es wörtlich: Ich habe an dem Entwurf dieser PI mitgearbeitet. Ich designte die Basisstruktur ihrer höheren Persönlichkeit und war für die Abstimmung ihrer Sensoren verantwortlich, damit das System seine Umgebung möglichst menschenähnlich wahrnimmt …« Sie bemerkte seinen verständnislosen Blick und erklärte: »Die gestellte Aufgabe war es, eine PI zu entwickeln, die sich so natürlich wie möglich an die Parameter eines normalen Menschen anpasst, ohne sich selbst oder ihre Aufgabe zu hinterfragen.« Er schaute immer noch etwas hilflos. »Ihnen ist doch klar, dass unsere Pilotin eine Parallele ist?« Sie schwenkte die Sonde, Licht flimmerte. Konsdotters Körper richtete sich auf und packte die Ausstiegshilfen der Kapsel. Nur wenige der Umstehenden wirkten so überrascht wie der Inspektor. Ein weiterer Befehl der Sonde und Konsdotters Hinterkopf öffnete sich. Aber nur halb, etwas blockierte den Mechanismus.

      Die beiden V-Fighter lachten erleichtert, aber nicht ihre Kameradin, die sich an der Lichtsäule festhielt und deren kurzes rot gefärbtes Haar sich wie Feuerschein um ihren Kopf ausgebreitet hatte.

      »Ich habe noch nie eine so menschengleiche Maschine gesehen«, sagte sie nachdenklich.

      »Menschenähnlich, nicht gleich«, verbesserte die PI ohne Außenverkleidung. Ihre sanfte männliche Stimme war nicht die von Division-By-Zero.

      Amanda schwebte an der Kapsel entlang und blickte in den Kopf der Pilotin. Der Kern klemmte zwischen Gehäuse und der Schiene des Öffnungsmechanismus. Er war schwer beschädigt.

      »Normalerweise sieht man es an der Kunsthaut und den Augen«, sagte die Rothaarige. »Auch die Bewegungen stimmen nicht ganz, wenn man weiß, worauf man achten muss. Aber sie wirkte vollkommen echt.«

      »Auch ich muss Sie zu Ihrer Arbeit beglückwünschen«, sagte der Hüllenlose zu Amanda. »Ohne die überlegenen Sinne dieses Körpers hätte selbst ich der Täuschung unterliegen können. Wie sie sich bewegte und Emotionen simulierte, war mit das Beste, was ich bisher gesehen habe.«

      »Schön und gut, aber was ist nun mit ihr geschehen?«, fragte der Inspektor ungeduldig.

      »Ihr PI-Kern wurde entfernt, anschließend zerstört und das beschädigte System wieder in den Kopf gestopft«, sagte Amanda. »Ohne aktiven Kern ging der Roboterkörper in den Wartungsmodus. Jemand muss ihm befohlen haben, sich so hinzulegen … Allerdings gibt es da noch ein Rätsel: Ich habe den Clipper als Erste verlassen, und während ich nach oben schwebte, sah ich, dass diese Kapsel belegt war. Wie konnte die Pilotin bereits hier sein und in der Kapsel liegen?« Sie sah sich um. »Wer hat sie überhaupt gefunden?«

      »Das war ich«, sagte Oda.

      »Und Sie sind?«, fragte der Engländer.

      »Oda Toshio, verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Als ich mich der Schlafkapsel näherte, ging der Deckel hoch, und ich sah dieses technische Spielzeug.« Er streifte Amanda mit einem emotionslosen Blick.

      Sie sammelte ihren Mut und fragte: »Und warum haben Sie sich der Kapsel genähert?«

      »Ich sah das Licht


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