Kalte Berechnung. Michael Rapp

Kalte Berechnung - Michael Rapp


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lose Kern bei seinem Transport verursacht hat, deuten auf Vibrationen hin, wie sie nur in einem simplen Raumfahrzeug wie einer Frachtkapsel beim Start auftreten. Diese Kapsel erreichte die Odyssee-Station vor der Grand Vision …«

      Eigentlich schmückt er nur das aus, was Die Antwort und ich schon gesagt haben, ärgerte sich Richard, ohne die Kraft zu finden, laut Einspruch zu erheben.

      »Sie werden sich erinnern«, fuhr Oda fort, »nach dem Boarding dauerte es noch neunundzwanzig Minuten bis zum Start. Das ist eine ungewöhnlich lange Verzögerung, außerdem nahm die Vision zeitweilig eine Aussichtsposition über der Erde ein …«

      »Ja, wer war es denn nun?«, rief Mann ungeduldig dazwischen. »Wer hat die Pilotin angegriffen und sie hierhergeschickt?« Der Gutachter versuchte, neugierig zu klingen, aber Richard hatte das Gefühl, dass er Oda vor allem provozieren wollte.

      »Bogart Wheelwright«, antwortete der, als wäre das selbstverständlich.

      »Der verschrobene Billionär?« Mann schüttelte den Kopf, aber Richard bemerkte auch ein unterdrücktes Lächeln.

      »Er oder jemand in seinem Auftrag«, sagte Oda. »Alles nur, um uns dieses kleine Rätsel zu präsentieren.«

      »Unsinn!«, meldete sich Chershi, woraufhin sie gleich errötete und den Blick senkte.

      Odas Stimme wurde ungeduldig. »Der Täter hatte Zugriff auf die gesamte Einrichtung des Raumhafens, er konnte den zeitlichen Ablauf der Ereignisse steuern und aus der Ferne den Stationscomputer manipulieren. Wer außer Wheelwright hätte das autorisieren können?«

      Richard hatte sich unwillkürlich nach vorn gelehnt und musste sich nun festhalten, um nicht von der Säule wegzuschweben. »Mag ja alles sein, aber der Täter war wütend!« Er bereute seinen Satz sofort, als sich alle (Kamera)Augen auf ihn richteten. Plötzlich kam ihm sein Einwand unwichtig und dumm vor. Alles nur, weil ihm Mikes emotionale Rückendeckung fehlte.

      »Bitte erklären Sie uns, was Sie meinen«, sagte Chershi freundlich.

      Zögernd fuhr er fort: »Man kann einen Kern auf viele Arten zerstören, ihn an die Wand zu schleudern ist nicht gerade die eleganteste, geheimnisvollste … oder sicherste. Wer sagt denn, dass er so zuverlässig zerstört wird?« Er schluckte. »Eigentlich zeigt das nur, dass der Täter etwas gegen Konsdotter hatte … Also speziell gegen ihr Ich …«

      »Er hat ihren Kern angegriffen, ihre Persönlichkeit«, half Chershi aus, als er ins Stocken kam. »Das, was ihr Auftreten menschenähnlich machte.«

      Richard nickte dankbar. »Ja, ihre Persönlichkeit scheint das eigentliche Ziel gewesen zu sein. Ihre menschliche Erscheinung hat er nicht zerstört. Normalerweise gehen die miesen Typen immer auf das Gesicht, wenn es persönlich wird, aber nicht hier. Das wollte ich noch sagen. Und ich finde es bemerkenswert, dass die Tat so grob ist, aber die folgenden Aktionen präzise und vorausschauend. In der Kriminalistik unterscheiden wir zwischen den Tathandlungen und den Handlungen zur Verschleierung der Tat. Im vorliegenden Fall wurde zwar nichts verschleiert, trotzdem gibt es zwei getrennte Handlungskomplexe: den der Tat und den des Transportes des Opfers und dessen Präsentation hier. Und letzterer scheint das größere Rätsel zu sein, obwohl unser Auftraggeber nach ersterem fragt. Auch wenn die Auflösung von Mr. Oda im ersten Moment logisch klingt, glaube ich nicht, dass beides so zusammenhängt. Ich denke, der Täter und der Auftraggeber sind verschiedene Personen.« Er hatte zuletzt wieder selbstbewusst gesprochen.

      »Viel Instinkt, wenig Theorie und kein Beweis«, widersprach Oda.

      »Ms. Chershi, bitte teilen Sie uns jetzt Ihre Erkenntnisse mit«, sagte das Hologramm.

      »Danke.« Die Entwicklerin wirkte nun doch wieder nervös. Sie senkte den Blick; Konsdotter anzusehen, schien sie irgendwie zu beruhigen. »Die Antwort und ich haben den Kern zerlegt, leider war er nicht zu retten – so ein PI-Kern ist ein hochintegriertes System, das sich anders als CPUs im Laufe seiner Funktion immer weiter umbildet, sodass man ihn nach einem Defekt nicht mehr vollständig rekonstruieren oder neu starten kann. Doch es gibt eine Chance: Man muss die unbeschädigten Volumina in unbelegte Areale eines speziell konfigurierten Zielkerns hineinklonen, und das so lange, bis man das Ergebnis stabil zum Laufen bringt. Dank eines stationseigenen Assemblers konnten Die Antwort und ich einen Zielkern fertigen und einen Teil des letzten Gespräches der Pilotin wiederherstellen …« Sie wischte über das Display ihres Coms und blickte auf. »Sie hören jetzt die Stimme des Angreifers:«

      »Doch ein Versprechen, dessen Einlösung nie geprüft werden soll, können wir nicht akzeptieren. Rätsel müssen …«

      »…gelöst werden«, vervollständigte sie den abgebrochenen Satz.

      »Ich kenne diese Stimme«, sagte Richard überrascht.

      »Jeder hier sollte sie kennen«, sagte Chershi. »Es ist die Stimme der Service-PIs aus der Lounge. Eine Stimmvariante, die speziell für diese Umgebung designt wurde. So wie auch alle PIs hier auf der Station eine einheitliche Stimme haben, die nur hier zum Einsatz kommt.«

      Die Antwort richtete sich auf. »Passend dazu habe ich etwas an Konsdotters Nacken entdeckt. Eine Verschmutzung an der Kunsthaut in Form eines Teilabdrucks aus gezuckertem Kaffee. Verursacher war kein menschlicher Finger, sondern der geriefte und mit Mikrocodes versehene Fingerüberzug einer Maschine.« Bei diesen Worten bewegte er seine eigenen Finger. »Präzise gesagt: ein Jarlberg sieben S, genau wie mein gegenwärtiger Körper und auch die Roboter der Clipper Corporation. Ich konnte die eingeprägte Seriennummer zuordnen, sie gehört zu der Servicemaschine an der Bar.«

      Chershi wirkte, als höre sie das zum ersten Mal. So viel zu der Partnerschaft der beiden.

      Die Antwort fuhr fort: »Da aber eine gewöhnliche PI nicht ohne legitimen menschlichen Befehl eine andere PI zerstören kann, bedeutet das, der 7er war nur das Tatwerkzeug, eine ferngesteuerte Waffe …«

      Das Zombiegefühl verschwand, und Erschrecken und Verwirrung stürzten auf Richard ein. Er richtete sich auf. »Mike!« Noch nie war er so froh gewesen, die Gefühle seines Partners zu empfangen. Wie war das möglich? Er blickte sich um, während Die Antwort weiter über die Möglichkeiten sprach, eine PI bzw. ihren Roboterkörper zu hacken. Mike entspannte sich schon wieder. Vielleicht schickte er das Gefühl auch absichtlich, um Richard zu beruhigen, dessen Aufregung er nun auch spüren musste.

      »Wir sind mit Hilfe einer Simulation zum gleichen Ergebnis gekommen«, meldete sich Staroll. »Den wahren Täter konnten wir aber auch nicht identifizieren, dafür wären Aufzeichnungen des Datenfunks notwendig gewesen, und die existierten nur in dem Kern, den Chershi in Beschlag hatte.« Der letzte Satz klang nach Vorwurf.

      Bevor die Ingenieurin antworten konnte, ging Victor Mann dazwischen. »Mich wundert nicht, dass Sie keinen Verdächtigen vorzuweisen haben. Schließlich hat Ihr Captain gute Gründe, die Aufklärung zu behindern. Herr Turner, Sie spielen hier den Detektiv, dabei haben Sie Lotte Konsdotters Kern zerstört, als Sie vor aller Augen mit Ihren Teamkameraden spielten. Ihr Motiv war Hass auf besondere PIs. Das immerhin hat der Inspektor richtig erkannt.«

      »Können Sie das beweisen?«, wollte Die Antwort wissen.

      »Jedes Wort. Ich habe alles mitgehört und kann Ihnen …«

      »Das reicht jetzt!« Division-By-Zero flog vom Durchgang heran wie ein beleibter Pfeil. Der alte Mann bremste mit dem Fuß geschickt an einer Säule ab, schwebte sich drehend zu Konsdotters Schlafkapsel, breitete dabei die Arme aus und verankerte sich magnetisch am Boden. »Verzeihung, die Herrschaften, aber es hat etwas gedauert, einen Weg zurück auf die Station zu finden, nachdem Herr Mann mich in die kalte Weite hinausbefördert hatte!« Er wandte sich an Richard. »Ohne die Hilfe Ihres Partners hätte ich es vielleicht nicht geschafft, meine Geschichte zu erzählen.« Sein freundliches, aber verschlissenes Kunstgesicht erinnerte den Detektiv an einen aufgeplatzten Schaumstoffball.

      »Wo ist Mike?«

      »An der Schleuse. Seine Muskeln sind festgefroren wie auch sein Kühlsystem, Sie hätten ihn für die Reise nachrüsten sollen. Aber keine Sorge, bald ist er wieder


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