Kalte Berechnung. Michael Rapp

Kalte Berechnung - Michael Rapp


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Haaren. Er war bleich, und der Gestank von Seetang klebte an ihm. Amanda erinnerte sich, dass er während des Fluges eine VR-Brille getragen hatte. Aber kann man in einer Raumstation Flugangst haben? »Ich wollte mich in einer der Kapseln ausruhen«, erklärte er. »Ich hatte gehofft, dass das Schlafassistenzsystem auch gegen Übelkeit hilft. Deshalb war ich nur wenige Meter hinter Herrn Oda, als sich die Kapsel öffnete. Er hat sie definitiv nicht berührt.« Er bemerkte den Blick des Inspektors. »Na schön, machen wir es wie in der Schule … Ich heiße Victor Mann und arbeite als selbstständiger Versicherungssachverständiger für PIs.«

      »Danke, Mr. Mann«, sagte der Kommissar. »Alles hier lässt sich fernsteuern. Dass Mr. Oda die Kapsel nicht berührt hat, bedeutet also nicht, dass sie sich ohne sein Zutun öffnete.«

      »Noch beweist es das Gegenteil«, sagte Oda unbeeindruckt.

      Eine Service-PI der Station flog herbei, bremste geschickt und hielt Mann eine Tablette und ein Getränketütchen mit Saugventil hin.

      »Das wird Ihnen helfen. Bitte zögern Sie nicht, sich mit Ihren Wünschen an uns zu wenden.«

      »Danke.« Mann steckte die Tablette in den Mund und trank aus dem Tütchen, dann gab er das Getränk zurück. »Ich bin so einen Luxus nicht gewohnt.«

      »Könnte es sein, dass diese Pilotin eine Kopie ist?«, fragte der Inspektor Amanda. »Oder das Ersatzmodell? Schließlich hat irgendjemand uns hergeflogen.«

      »Soweit ich weiß, gibt es nur das Original. Das gehörte zum Konzept.«

      »Sie ist das Original«, sagte die hüllenlose PI. »Ich konnte sie anhand der Mikrospuren auf der Verkleidung eindeutig identifizieren. Selbst der beste Assembler könnte die nicht nachbilden.«

      »Kein Zweifel, sie ist es«, sagte Oda.

      »Meine Bezeichnung ist Die Antwort«, sagte der Hüllenlose. »Und der Clipper kann uns sehr wohl ohne Pilotin nur mit dem Autopiloten hergebracht haben. Die Kunstfigur Lotte Konsdotter diente nur der Außendarstellung des Unternehmens. Für den technischen Betrieb war sie entbehrlich. Ich gehe sogar noch weiter: Unsere sogenannte Pilotin war während des Fluges nicht mit an Bord der Grand Vision, vielmehr wurde sie bereits in der Bodenstation angegriffen und anschließend hierherbefördert.«

      »Woraus schließt du das?«, fragte Amanda und überlegte, wo sie den Namen Die Antwort schon einmal gehört hatte …

      »Ich nehme an, aus dem zeitlichen Ablauf?«, dachte der Inspektor laut. »Die Pilotin kann nicht im Clipper gewesen sein, wenn sie schon vor uns auf der Station war. Wie also ist sie hergekommen? Vermutlich mit einer Versorgungskapsel. Ich erinnere mich, bei der Busfahrt zum Clipper-Feld auf der rechten Seite eine gedrungene Rakete gesehen zu haben. Das würde bedeuten, jemand mit Zugriff auf die Technik der Clipper Corp. hat sich verdammt viel Mühe gegeben, damit wir sie hier finden und uns wundern. Derjenige hat sie für uns platziert und in eine bestimmte Position gebracht.«

      »Sehr gut, Mr. Harris«, lobte Oda gönnerhaft. »Ihr Instinkt zumindest funktioniert, auch wenn Ihre Logik etwas holprig daherkommt. Denn natürlich wäre es möglich, dass der Körper im Laderaum des Clippers war und von einer Drohne in die Station gebracht wurde, als wir noch andockten. Doch zugegeben, die Zeit dafür wäre sehr knapp gewesen.«

      »Außerdem konnte ich den Aufzeichnungen des Stationscomputers entnehmen, dass die Kapsel bereits dreiundvierzig Minuten vor unserer Ankunft belegt war«, sagte Die Antwort. »Das wird auch durch die Daten der Kapsel bestätigt. Seltsam ist nur, dass die Service-PIs behaupten, es habe weder eine Lieferung gegeben, noch habe jemand den Körper in die Kapsel gelegt. Das ist natürlich unmöglich und lässt an eine Manipulation der Daten denken.«

      »Es müsste Spuren geben, die das belegen.« Die Rothaarige hatte bisher gespannt gelauscht. »Jenna Staroll, besser bekannt als JStar, ich betreibe V-Fight in der Euro League, die beiden Nichtsnutze hier sind meine Teamkameraden.«

      »Ulrich Turner alias UTurn«, stellte sich der lange Gamer vor. »Teamcaptain und Teilzeitgenius.«

      Staroll verdrehte die Augen.

      Die Nummer drei grüßte mit der Faust an der Schläfe. »Tim Fischer alias HeavyMec … Star hat recht, es gibt doch immer Datenspuren, besonders in einem PI-Kern. Da kann man nicht einfach Teile löschen und formatieren, ohne den Persönlichkeitsprozess zu beschädigen. Jedenfalls nicht ohne sehr gründliche Systemanalyse.«

      Turner nickte bekräftigend.

      »Die Annahme ist logisch«, sagte Die Antwort. »Trotzdem konnte ich nichts finden. Und das ist beunruhigend. Eigentlich bin ich recht erfolgreich in diesen Dingen.«

      »Im Knacken fremder Systeme?«, fragte Harris. »Das ist ja interessant, Mr. Antwort

      Die Kunstmuskeln im Gesicht der Maschine bewegten sich, Amanda vermutete, dass sie grinste.

      »Ich kenne das«, sagte sie und dachte an den Datenspeicher, der auf ihrem Krankenhausbett gelegen hatte. Sie hatte die PI des Klinikroboters geknackt und alle Daten ausgelesen, aber keinerlei Hinweise auf eine Manipulation gefunden. Als wäre der Speicher tatsächlich aus dem Nichts aufgetaucht. »Unser Auftraggeber ist sehr gründlich, wenn es um das Verwischen seiner Spuren geht. Er muss über außergewöhnliche Mittel und Kenntnisse verfügen.«

      »Sie denken, der Kerl, der uns eingeladen hat, zerstörte die Pilotin?« Harris musterte sie misstrauisch. »Warum sollte er das tun? Wissen Sie etwas über ihn und seine Motive, das Sie das vermuten lässt?«

      Amanda wollte gerade erklären, dass sie nichts von Motiven wisse, wohl aber die Vorgehensweise wiedererkannt habe, als über der Schlafkapsel ein Hologramm aufleuchtete. Das überlebensgroße Gesicht der PI Lotte Konsdotter blickte wohlwollend auf sie herab. Amanda hielt sich die Nase zu, weil der Gestank unerträglich war. In ihrer Vorstellung waren es tausend Dinge, die wie in einem surrealistischen Kunstwerk zu Konsdotters Gesicht verschmolzen. Niemand kann so viel auf einmal fühlen, dachte sie spontan.

      »Ein ermutigender Anfang«, sagte das Hologramm. »Das Wo und das Wie glauben Sie schon zu kennen, aber es sind das Wer und das Wieso, die in diesem Aufwärmspiel den Sieg bringen. Wer diese beiden Fragen am überzeugendsten beantwortet und so den Täter überführt, erhält als Preis das, was sie oder er sich am meisten wünscht. Geben Sie sich Mühe. Für Ermittler ohne Ehrgeiz und Geschick endet die Reise hier.«

      »Wer sind Sie?«, fragte der Kommissar laut. »Haben Sie uns eingeladen?«

      »Was passiert mit den Verlierern?«, wollte Mann wissen.

      Das Hologramm ging nicht auf die Fragen ein. »Sie haben zwei Stunden, dann erfolgt die Bewertung Ihrer Bemühungen.« Es erlosch.

      Das folgende Schweigen wurde von Der Antwort gebrochen: »Falls jemand es falsch verstanden haben sollte: Das hier ist kein simples Aufwärmspiel. Wer hierbleibt, darf sich auf einen dreiwöchigen Aufenthalt einstellen.«

      »Ist klar«, knurrte Harris. »Der Mistkerl will uns testen und gleichzeitig den Druck erhöhen.« Er blickte sich um, vermutlich auf der Suche nach seiner Antiope. Er fluchte leise.

      »Sie sagen Kerl«, sagte Die Antwort. »Wissen Sie etwas darüber?«

      »Das ist nur ein Gefühl.«

      Die Antwort nickte. Oda schmunzelte selbstgefällig.

      Die V-Fighter hatten eine Runde gebildet und diskutierten ihr weiteres Vorgehen. Überraschenderweise wirkten sie recht entschlossen, der Lange roch sogar nach Rosen. Ein recht verfrühter Triumph, fand Amanda. Doch zumindest schienen die drei einen Plan zu haben, was sie von sich nicht behaupten konnte. Ihr Blick streifte Oda, der auf die erstarrte Pilotin blickte.

      Mann sagte etwas zu seinem Transportband, worauf es sich in Bewegung setzte. Wortlos ließ er sich Richtung Schacht ziehen. Sie rieb sich die Augen.

      »Haben Sie Mike gesehen?«, fragte der Inspektor. Sie roch seinen Ärger und die Sorgen und wandte hastig den Blick ab. »Der Nichtsnutz sollte sich langsam mal melden.«

      Seltsam,


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