Die Haut am Markt. Will Berthold

Die Haut am Markt - Will Berthold


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er und behielt die Hände in den Taschen. Sein Hals wurde lang, er schraubte den Kopf hoch, der sich den anderen zuwandte, in selbstherrlicher Überlegenheit, die nicht sprach, sondern befahl. Der starre Ausdruck der Augen gab ihm etwas Fischiges, etwas Raubfischiges.

      »Ich hörte, du seist gefallen«, sagte ich schließlich.

      »Irrtum.«

      »Gratuliere.«

      »Danke. Einen Schnaps?«

      »Bitte«, erwiderte ich.

      »Kognak?«

      »Ja.«

      »Zwei Doppelte«, rief er dem Barmädchen zu.

      »Nein«, wandte er sich dann wieder mir zu, »ich bin rechtzeitig verschwunden. Kleiner Umweg via Waffen-SS zur Fremdenlegion.«

      »Warum?«

      Er winkte ab.

      »Wo warst du?«

      »In russischer Gefangenschaft.«

      »Wie lange?«

      »Drei Jahre.«

      »Darum«, sagte er mit Betonung, nickte und assistierte seine Lektion mit einem blasierten Lächeln.

      Wir tranken aus. Seine Hand zitterte leicht. Das war neu. Sonst war er ganz der alte geblieben. Der beste Soldat und der gefühlsarmste Mensch, dem ich je begegnet bin. Nicht nur ich. Auch die anderen Kameraden des Regiments hatten es so empfunden. Soldaten, von denen er nicht wenige aus verzweifelten Lagen herausgeboxt hatte; auch hinterher konnten sie ihn nicht leiden.

      »Was machst du?« fragte ich ihn.

      »Oh«, erwiderte er, »Neugierde oder Teilnahme?«

      »Ganz wie du willst.«

      »Du bist recht kühl zu einem alten Kameraden«, antwortete er spöttisch.

      »Ich bin in Eile.«

      »Nein«, sagte er lachend, »wir bleiben noch ein Weilchen zusammen. Oder hältst du nichts mehr von Zufällen?«

      Es war eine Anspielung auf die Szene im brennenden Panzer – er strich sie mit einer Geste gleich wieder weg. Damals wollte ich mich hinterher bedanken. »Warum?« hatte er gefragt und wie jetzt die Brauen über seinen leicht mongoloiden Augen hochgezogen: »Das hättest du doch für mich auch getan. Oder nicht?«

      Ich bestellte die nächste Runde.

      »Wo lebst du?« fragte ich, weil mein Schweigen peinlich wurde.

      »Teils in Cannes, teils in Paris.«

      »Als was?«

      »Ganz gut.«

      »Ist das ein Beruf?«

      »Nein, aber ein Leben.«

      »Verheiratet?«

      »Wer nicht? Du bist übrigens neugieriger geworden.«

      Ich sah in sein ungesundes Gesicht mit den tiefen Furchen, betrachtete die Haut, die das Leben gegerbt hatte. »Wir werden eben alle einmal älter«, sagte ich mit Nachdruck.

      Er winkte ab, hatte die Anspielung begriffen.

      »Indochina«, erläuterte er, »gemessen daran war Rußland fast ein Vergnügen, alter Kriegskamerad.«

      Wir schwiegen wieder. Teller klapperten, Registrierkassen tickten, ein Glas wurde umgeworfen, ein Hund winselte nach seinem Herm, eine Schnulze schmalzte, der Besitzer machte die Honneurs, ein Kurzatmiger reklamierte seine Erbsensuppe.

      Erbsensuppe. Witebsk. Stellung nicht zu halten. Temperatur 18 Grad unter Null! Eiserne Verpflegung vor drei Tagen aufgegessen. Zuckerrüben ausgegangen. Schließmuskel entzündet. Darm leergeschissen. Hohle Augen. Nebel im Hirn. Schwäche in den Gliedern. Hunger. Würgender, bohrender, beißender, lähmender, wahnsinniger Hunger. Dicht am Kannibalismus vorbei. Pferdekadaver: drei Tote durch Fleischvergiftung. Nacht. Kälte. Der Soldat beißt ins Gras. Gras gibt es hier nicht, bloß Sumpf, Eis, Dreck, Raben, Krähen, Wölfe, Frost. Die Gedanken in der Hexenküche. Zu Hause. Am gedeckten Tisch. Kerzenlicht. Silberbesteck. Leibspeise. Mutters Küche, eine Fata Morgana. Kalte Küche Rußlands. Hunger wie Wölfe. Schlappe Wölfe. Gierige Wölfe. Bis auf den Leitwolf: frißt nicht und hat keinen Hunger, friert nicht und hat keine Nerven: Oberleutnant René Debring, Beutedeutscher aus dem Elsaß, hockt im Loch, gähnt, reißt Witze, soll die Stellung zurücknehmen, weigert sich, hält sie, nur so aus Zeitvertreib. Ihm schmeckt der Krieg. Er will marschieren, schießen, kämpfen, töten, niederbrennen. Frei von Haß. Sachlich, intelligent. Sein Metier.

      Der Wind dreht, kommt von drüben, von den Iwans, säuselt leicht, jetzt nicht nur zu hören, auch noch zu riechen: Erbsensuppe. Dicke Erbsensuppe. Hausrezept: man nehme 500 Gramm Erbsen, 200 Gramm Speck, zwei Liter Wasser, eine Zwiebel, etwas Salz und Pfeffer. Man esse bei den Russen mit und werde satt davon.

      Musik. Lautsprecher, Verstärker, Rückenwind. »Gute Nacht Mutter, gute Nacht.« Kitsch, egal. Sehnsucht frißt Hunger. Augen flackern. Einer weint. Tränen gefrieren bei minus 18 Grad.

      Musik aus. Durchsage. Propaganda. Klares Deutsch:

      »Kommt zu uns, werft eure Waffen weg! Wir behandeln euch gut. Es gibt Erbsensuppe.«

      »Erb – s en – sup – pe –«, wirft der Wald den Schall zurück.

      Sie schlucken die Silben. Werden nicht satt davon. Kauern im Loch. Vergessen Gott, die Mutter, die Braut. Wollen nicht mehr hoffen, nicht beten, nicht träumen, nicht warten; wollen fressen. Nichts wie fressen. Gierig. Bis sie umfallen. Bis es sie zerreißt. Fressen auch aus einem Schweinetrog, bereit zu allem: Baumrinde, Wurzeln, Kartoffelschalen, Ratten, Mäuse, Kadaver, Regenwürmer, alles – nur kauen, schlingen, würgen, fressen, beißen, schlucken.

      Oberleutnant René Debring grinst mit gelben Raucherzähnen, stumm, geht nach rechts, auf die andere Seite, verschwindet in der Nacht, verschwommener, gehaßter Schatten, der immer wiederkommt. Scheißrussen, haben zu fressen – und treffen diesen Kerl nicht.

      Marschmusik. Musik aus. Neue Durchsage. Worte, Propagandaworte.

      »Kommt zu uns, habt keine Angst. Freßt euch satt! Werft die Knarre weg, Kameraden! Erbsensuppe mit dicken Speckbrocken, gebräunten Zwiebeln, gewürfelten Kartoffeln, appetitlich zubereitet, dick eingekocht, Wodka als Nachtisch. Erbsensuppe! Schickt einen Mann! Wir tun ihm nichts! Ihr werdet heute satt. Unsere Küche ist die ganze Nacht offen. Die Suppe ist dick. Der Löffel bleibt stecken.«

      Erb – sen – sup – pe.

      Einer dreht durch, springt auf, haut ab, geht nach drüben, gierig, aufrecht, breitbeinig. Am Angelhaken des Hungers, gezogen von der russischen Gerte, tut weh, beiß drauf! Kann man auch nicht fressen.

      Noch 50 Meter. Der Narr mit den Kochgeschirren lebt noch. Es klappert. Blech auf Blech. Gleich Eisen ins Fleisch, in den Bauch, oder in den Hals, oder durch den Mund, oder sonstwohin.

      Noch 30 Meter. Der Narr lebt, schreit, verschwindet in der russischen Stellung. Ende. Pause. Keine Gefangenen an diesem Frontabschnitt. Weder hüben noch drüben.

      Marschmusik. Neue Durchsage:

      »Wartet auf den Gefreiten Kumrich. Er kommt gleich zu euch zurück. Mit zehn vollen Kochgeschirren. Folgt seinem Beispiel. Kommt zu uns! Werft die Scheißknarre weg!«

      Ein Scheinwerfer. Ein Schatten, Musik. Viervierteltakt. Die Zeit ist Blech. Der Narr kommt zurück. Erreicht die Stellung. Aus den Kochgeschirren steigt der Dampf. Die Erbsensuppe. Der Narr feixt breit, rutscht in den Graben, setzt die Beute ab, genau vor den Schatten – Oberleutlant Debring, der Kompaniechef, der auf einmal wieder da ist.

      Kein Wort, ein Wink. Der Narr stellt die Kochgeschirre am Boden ab. Die anderen kommen näher. Wölfe, hungrige Wölfe, brutale Wölfe. Kein Fleisch mehr im Gesicht. Augen klein, tief in den Höhlen. Ein ganzes Rudel umgibt den Leitwolf, atmet schwer.

      Oberleutnant Debring lächelt lautlos mit den gekrümmten


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