Die Haut am Markt. Will Berthold

Die Haut am Markt - Will Berthold


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unmenschlich – das wußte ich längst, bevor ich im Prison de Santé zur Partei wurde.

      Aber ich benutze meinen Fall keineswegs, um gegen die Todesstrafe zu polemisieren, obwohl ich im grauenden Morgen ihr Objekt bin. Sie hat sich nicht nur moralisch überlebt, sondern zudem auch noch praktisch als zwecklos entlarvt. Kein Mensch mit Kopf tritt heute ernsthaft für sie ein, was nicht ausschließt, daß in vielen Ländern weitergeköpft wird, und in anderen dieser schlicht-rohe Strafmodus wieder eingeführt werden soll – eine Forderung, die biedere Demagogen jeweils kurz vor den Wahlen vorbringen, wenn sie mit dem atavistischen Ressentiment der Masse auf die Addition der Stimmzettel spekulieren.

      Daß meine Geschichte in Frankreich spielt, ist einer der vielen Zufälle, die sie mit Pikanterie würzen. Ich bin Deutscher, aber ich sterbe morgen in Paris, da auch Bonns Auswärtiges Amt nach Rückgabe der Akten die formaljuristische Korrektheit des Urteils nicht bestritten hat. In der Bundesrepublik gibt es keine Todesstrafe oder, besser gesagt: noch keine. Ausgerechnet in Frankreich, dem klassischen Land der Freiheit und des Fortschritts, wurde das Fallbeil noch nicht pensioniert, als könnte man sich hier, wo man die Guillotine erfand, von dem Relikt der Französischen Revolution noch nicht trennen.

      Damit endet der theoretische Teil meiner Pathographie, dem sich morgen der praktische anschließt.

      Morgen gäbe es nicht ohne Marcelle.

      Sie war die berühmte Frau, der man nur einmal begegnet.

      Der berühmte Gemeinplatz.

      Aber Gemeinplätze können, wie mein Fall beweist, tödlich werden.

      Marcelle war die Frau, die einem das Mitleid mit der eigenen Vergangenheit beibrachte und die gesammelten Erlebnisse eines halben Lebens wie wertlosen Ballast über Bord werfen ließ. Die Frau, deren Hände beruhigten und aufpeitschten. Die Frau, auf die man Durst hatte, während man trank; die von der Erotik die abgeschmackte Banalität wegwischte und einen Mann vergessen ließ, daß zur selben Zeit Hunderte oder Tausende das nämliche sagen oder tun, nach gleichem Modus, in verschiedenen Betten, als eine Art müden Gesellschaftssports, dessen Antrieb die Gewöhnung ist.

      Mit Marcelle und mir war das alles ganz anders.

      Marcelle war die Frau, die ich nicht verlieren wollte.

      Mein Fall ist die Geschichte Marcelles, und vielleicht preist die Boulevardpresse, wenn erst alles überstanden ist, diese ihren Lesern als eine faszinierende und abscheuliche Story an oder als einen hinterhältigen, egozentrischen Liebesroman, freilich ohne die süße Langeweile dieser parfümierten, bestrumpften Produkte.

      Das Rätsel dieses Falles aber könnte kein noch so findiger Reporter lösen. Deshalb hinterlasse ich mit diesem Manuskript mein Geständnis als Vermächtnis. Ein Freund soll nach meinem Tod über seine Verwendung befinden. –

      Diesmal kommt ein Mann offen über den Gang. Laute Schritte, klare Schritte, Schritte mit der sauberen Sohle staatlicher Gerechtigkeit. Das meine ich keineswegs sarkastisch; denn an mir vollzieht sich ja kein Justizmord. Meine Richter konnten nicht anders handeln; sie haben in meinen Fall mehr Menschlichkeit investiert, als ihnen die Paragraphen vorschrieben.

      Paragraphen sind aus Granit. Paragraphen sind wie Findlinge der Steinzeit im Leben der Neuzeit. Paragraphen sind seelenlos und kahl und zudem die einzigen Mörder, die kein Gewissen haben.

      Alle, die mit diesen Taggespenstern des Rechts zu tun haben, beschworen mich, ein Gnadengesuch einzureichen: meine Richter, mein Anwalt, der Gefängnisdirektor, die Kriminalbeamten, selbst ein paar meiner Aufseher, die in ihren unbehauenen Gesichtern ihre schlichten Gefühle nicht verstekken können.

      Ein Gesuch dieser Art wäre schon im voraus bewilligt gewesen.

      Ich reichte es nicht ein.

      Vielleicht bereue ich diesen Umstand in den nächsten Stunden wie nichts zuvor in meinem Leben.

      Ich weigerte mich, um Gnade zu bitten, obwohl mir zum Helden der Exhibitionismus, zum Märtyrer der Fanatismus fehlt. Deshalb ist die Exekution von morgen ein halber Selbstmord mit fremder Hand.

      Selbst das Urteil wäre ohne meine altruistische Mithilfe nicht zustande gekommen. Mir kam es auch nur darauf an, daß mein Mitangeklagter, der als Haupttäter verurteilt wurde, morgen den gleichen Weg gehen muß wie ich; vor mir, wie mir der Gefängnisdirektor versicherte.

      Nur das wollte ich erreichen. Nicht der Richter hatte den Haupttäter verurteilt, sondern ich. Ich war ihm und mir gegenüber schärfer als der Staatsanwalt, als dessen Kronzeuge ich im übrigen fungierte; weshalb die Geschworenen mit ihrem Todesurteil die Empfehlung aussprachen, mich zu begnadigen. Dazu wäre aus formellen Gründen ein schriftlicher Antrag zu stellen gewesen. Da ich befürchtete, ein summarischer Gnadenerweis könnte auch den Haupttäter mit einbeziehen, wollte ich ganz sicher sein; sicher noch um den Preis meiner eigenen Vernichtung.

      Ich habe Marcelle verloren. Er war daran schuld. Deshalb muß er die gemeinste Strafe erleiden, die es gibt – somit werde ich ihm morgen in die Todeskammer folgen, gestützt auf den Wahn, nach Marcelle nichts mehr verlieren zu können.

      Deshalb hatte ich auch während der Verhandlung des Schwurgerichts befriedigt erlebt, wie seine hysterischen Anfälle mit Beruhigungsspritzen behandelt werden mußten. Ich stand neben ihm, sah unbeteiligt zu, wie er nach der Verkündung des Todesurteils zusammenbrach, so erfüllt von meinem Haß, daß ich mein eigenes Todesverdikt überhörte.

      Noch jetzt, am Vorabend des Vollzugs, stehen zwischen diesem Mann und mir ein paar leere Zellen und dampfender Haß. Die Konsequenz heißt nunmehr: morgen früh um fünf oder sechs, im grauenden Tag, in feierlicher Prozession, über den düsteren Gang, in die Dunkelheit hinein.

      Wieder kommen Schritte auf mich zu.

      Dann steht der Mann in der Tür, der mir das Essen bringt, die legendäre Henkersmahlzeit. Kein Gänsebraten übrigens. Er betrachtet mich von unten herauf. Sein Mund wirkt wie ein schiefgetretener Absatz. Seine Augen sind auf der Flucht,

      »Levez-vous«, sagt er, »faites place, s’il vous plaît.« Der Mann deutet auf die Schreibmaschine, die mir amtliche Gunst beließ.

      Ich nehme die Zigaretten von dem Tablett und gebe dem Wächter einen Wink, alles andere wieder hinauszutragen.

      »Nein«, protestiert er, »Sie essen das!« Seine Menschlichkeit ist derb. »Besser so für Sie«, setzt er hinzu, als hätte er es schon einmal erprobt.

      »Für was?« frage ich.

      Der Aufseher schüttelt den Kopf.

      »Vielleicht bin ich gerade nicht in Stimmung«, antwortet er dann, »mit Ihnen einen längeren Plausch zu halten.«

      Dann setzt er sich auf einen Hocker, schiebt seine Mütze nach hinten und zündet sich eine Zigarette an.

      Um ihn nicht zu verärgern, nehme ich zögernd meine letzte Mahlzeit ein. Sie schmeckt nach Angst und Maggi.

      »Sie muß man zu allem anschieben«, knurrt der Mann, »besser, man hätte Sie auch zum Gnadengesuch gezwungen.« Er steht auf, betrachtet den eingespannten Bogen in der Schreibmaschine. »Aus Ihnen werde ich nicht klug«, fährt er fort, »aber einen Dachschaden haben Sie in jedem Fall.« Der Aufseher tippt an seine Mütze. »Ich weiß schon, was Sie vorhaben.« Er wirft ohne Absicht meine Manuskripte durcheinander. »Das da.«

      Er drückte seine »blaue Gauloise« aus, »Es soll einmal so ein Bursche eine Kirche angezündet haben, nur damit man auf ihn aufmerksam würde.«

      »Ja«, antworte ich, »Herostratos, dreihundertsechsundfünfzig vor Christus. Es war übrigens keine Kirche, sondern ein Tempel.«

      »Ihnen vergehen die Feinheiten auch noch«, versetzt der Wärter. Dann betrachtet er mich erschrocken. »Wenn Sie etwas wollen?« setzt er rasch hinzu.

      Der Mann steht leicht vornübergebeugt, in der Pose eines Lauschers. Dabei ist es für ihn still. Er hat nicht das geschärfte Ohr des Delinquenten. Er hört nicht, wie sich in diesen Stunden in allen Ecken und Winkeln des Hauses die Spinnen in ihren Netzen rühren


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