Die Haut am Markt. Will Berthold

Die Haut am Markt - Will Berthold


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die im Angesicht der Guillotine den Finger auf die Lippen preßt.

      »Nerven haben Sie ja. Im Krieg dabeigewesen, was?«

      »Ja«, entgegne ich, »vier Jahre.«

      »Dreckskrieg!« brummt er, »aber für Sie vielleicht jetzt ganz gut.« Er mustert mich mit seinen lichtgrauen Augen. »Sind trainiert, wie?«

      Ich nicke.

      »Ihr Freund da drüben«, sagt er und spricht im Ton des Beamten, der als kleinen Gunstbeweis seine Pflicht verletzt, »ist nicht so in Form. Der Doktor war schon wieder bei ihm. Schreikrämpfe.«

      Einen Moment fürchte ich, der Anfall könnte den Termin aufschieben.

      Der Wärter deutet auf meine Schreibmaschine.

      »Vielleicht doch besser«, sagt er, »da sind Sie wenigstens abgelenkt. Werden Sie fertig?« fragt er.

      »Ja«, antworte ich.

      »Ein Buch?« will der Mann weiter wissen.

      »Ja.«

      »Über Ihren Fall?«

      »Ja.«

      »Schade«, stellt er ehrlich fest, »das hätte ich gerne mit Widmung gehabt.« Er zuckt mit den Schultern und steht mit dem Tablett unter dem Arm in der Tür. »Der Pfarrer läßt fragen, ob er kommen soll«, sagt er noch. Seine Pupillen richten sich auf mich, starr und gezielt wie der Zwillingslauf einer Jagdflinte.

      »Später«, erwidere ich.

      Der Aufseher nickt. Er ist ein Fetischist der Ordnung, der staatlichen wie der himmlischen.

      »Wenn wir uns nicht mehr sehen sollten –«, sagt er beiläufig und schließt die Tür.

      Ich bin wieder allein.

      Mit mir.

      Mit ihr.

      Mit uns.

      Mit Marcelle und mir, zu zweit und doch einsam.

      Einsamkeit: das ist der stumpfsinnige Ausfluß eines defekten Wasserhahns, der dumme Tropfen, der den Stein höhlt. Einsamkeit schmeckt wie der Speichel im Mund, wie die eigenen Zähne. Einsamkeit ist wie ein gläserner Mantel, hinter dem man sich versteckt, ist vielleicht die letzte Romantik unserer Zeit, die einzige Intimsphäre, vor der die Technik versagt, es sei denn, man verschleuderte sie an den Bildschirm, an den dummen Tropfen also, der das Gehirn wäscht.

      In der Todeszelle bevölkert sich diese Einsamkeit mit ungeladenen Gästen: mit Geräuschen und Gedanken, die auf abgegrasten Wegen dahinhasten, bis sie sich irgendwo im Sand die – Beine brechen und dann wie auf Prothesen weiterhumpeln, quer durch die Vergangenheit, wie blind durch dieses Labyrinth.

      Wieder steht man an den Verkehrsknotenpunkten seines Lebens, stolpert in die gleichen Fallen, wird zu seinem eigenen Abziehbild. Nur erkennt man es plötzlich, sieht sich unförmig in einem Spiegel besonderer Art, aufgequollen, häßlich. Man stemmt sich dagegen – und wird doch wieder genauso arrogant, gierig, oberflächlich, laut, edel, töricht, so schlichtweg menschlich, wie man war.

      So eine Todeszelle ist ein Treibhaus des Was Wäre, wenn …?

      Sooft ich an den letzten Weg über den grauen Gang denke, spüre ich, daß Gedanken noch viel gemeiner sind als die Wirklichkeit. Die Phantasie steigert alles, hebt es in die dritte Dimension. Meine Gegenwehr: ich schreibe.

      Vielleicht stößt sich der Leser daran, daß ich gelegentlich vom Thema abgleite – ich werde versuchen, dies ab jetzt zu vermeiden, so gut ich kann. Ich will auch larmoyantem Selbstmitleid nicht viel Platz geben. Sollte sich gelegentlich ein zynischer Unterton zwischen die Zeilen schmuggeln, so erinnere ich daran, daß ich dieses Manuskript in einer ganz besonderen Lage abschließe, in der angewandter Zynismus nichts anderes ist als geronnene Melancholie. Außerdem wird man verschroben, so man altert; in den Stunden vor dem Tod ist man immer ein Greis.

      Auch schon im Alter von einundvierzig.

      Hiermit bin ich bei meinen Personalien, die ich der Einfachheit halber gleich aus den Gerichtsakten zitiere:

      Name: Kerbach, Vorname: Paul, Autorenname: Gerhard Nobis, Alter: 41, Staatsangehörigkeit: deutsch, Vorstrafen: fehlen.

      Gezeugt, geboren, getauft, geimpft in München, Sohn des Beamten Martin Kerbach und seiner Frau Georgette, geborene Fabrizius, ordentliche Vermögensverhältnisse, keine Schulden, beide umgekommen beim Luftangriff vom 21. Dezember 1944.

      Vier Jahre Volksschule, 1939 Abitur des humanistischen Gymnasiums, Einberufung zum Arbeitsdienst, Mitte 1940 Abstellung zur Wehrmacht, vorwiegend Infanterie, Fronteinsatz. Verwundet, ausgeheilt. Kriegsschule, Beförderung zum Leutnant. Einsatz im Osten, verwundet. Zusammen geflickt Wieder abgestellt. Rückzug von Kiew bis Berlin. Nach Kapitulation der Reichshauptstadt russische Gefangenschaft, zuletzt Offizierslager Workuta. Entlassen als Spätheimkehrer, im Regierungsdurchgangslager Friedland eingetroffen am 2. Mai 1948.

      In der Heimat, in der Heimat, da gab’s ein Wiedersehn.

      Wiedersehen mit dem Gymnasialdirektor Dr. Dr. Kleber: jetzt nicht mehr im Braunhemd, sondern im weißen; Mitarbeiter des Kultusministeriums, längst entnazifiziert und befördert; Unruhe im Blick, Pathos im Ton, elegisch bis unter die Stirnglatze.

      »Ach Sie, Kerbach, na, alles gut überstanden? Freut mich für Sie. Wird schon werden. Nun hinein ins volle Leben!«

      Früher sagte er: Hinaus an die Front; und er berauschte sich am süßen Tod für das Vaterland. Aber das kann er heute nur noch den Schülern der Unterstufe beibringen, nicht einem Kriegsabiturienten: wie mir, einem der vielen, deren freiwillige Meldung zum Barras er bewirkt hatte, und einem der wenigen, die trotzdem wieder gekommen waren.

      »Sonst geht es gut?«

      Seitenblick, Händedruck, Lächeln, Ironie.

      »Werden die Demokratie aufbauen, was?«

      Demokratie: Konstruktion stimmt. Fundament schief, hängt nach rechts. Wartet auf den nächsten Windstoß.

      Wiedersehen mit dem Kreisleiter: sitzt für eine andere Partei im Landtag, hat Warschau zerstören helfen, jetzt christlich geworden, aber gleich laut geblieben.

      Wiedersehen mit dem kleinen Auer, der auf seinen Prothesen gerade zur Nachuntersuchung humpelt, weil das Versorgungsamt anscheinend befürchtet, es könnten ihm wieder richtige Beine nachwachsen. Der Dank des Vaterlands, in Holz.

      Wiedersehen mit den 131ern und den 175ern, mit der grünen Front und mit der braunen Bande.

      Wiedersehen mit der neuen Wehrmacht, jetzt Bundeswehr, geführt von den alten Generälen, Spezialisten für verlorene Kriege, Generation militärischer Versager, die sich auf Moltke berief und vor Hitler kuschte, aber sein Ritterkreuz weiter trägt, wenn auch ohne Hakenkreuz; alter Stiefel, neue Richtung, heraus aus der gestrigen Misere, hinein in die neue Karriere: Kerls, wollt ihr denn ewig leben?

      Bürger in Uniform jetzt, modulierter Stahlhelm, gereinigter Fragebogen, gesäuberter Lebenslauf, staatspolitische Umerziehung. Saum der freien Rede leicht gezähmt, Kreuzzuggesinnung sanft getönt, die Feinde von gestern Bundesgenossen von heute (teilweise). Man ist noch gefürchtet und schon wieder gefragt, lästig mitunter, führt leicht zu Mißverständnissen, atomare Sprengköpfe deutscher Mittelstreckenraketen stehen noch unter amerikanischem Verschluß. Wird sich geben, wie die dritte Strophe des Deutschlandlieds. Die gefährliche Irrlehre des Defätismus aus der Zeit zwischen den Kasernen ist längst vorbei.

      Wiedersehen also mit der Heimat, mit fremden Menschen im eigenen Land. Wiedersehen mit dem Wunderbürger zwischen Hungerödem und Entfettungspille: ein Volk, ein Haus, ein Kühlschrank!

      Früher Gauschulung, heute Weekend. Einst brauner Eintopf, jetzt internationales Schlemmerlokal.


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