Eine Kultur des Friedens. Eleanor Kreider
weil das Wort „Kultur“ ein ungemein reicher Begriff ist. Anthropologen verstehen Kultur als ein „Bedeutungsgewebe“, worin wir leben und das wir selbst „gesponnen“ haben. Das Gewebe von Sprache, Überzeugungen, Institutionen und Praktiken gestattet uns, so zu leben, dass wir gedeihen und uns zuhause fühlen können.4 Deshalb fragen wir die dynamischen, sich verwandelnden Kulturen, in denen wir leben: Sind sie gastfreundlich? Können wir und andere uns ganzheitlich heimisch in ihnen fühlen? In diesem Buch stellen wir eine Vision der Kirche als eine Kultur des Friedens dar. Wir glauben, dass dies eine Kultur ist, die Gott schafft – eine wohnliche Kultur.
Drittens, weil Kultur aus unseren Geschichten heraus entsteht. Der britische baptistische Theologe Paul S. Fiddes ist überzeugt, dass Kulturen aus Erzählungen entstehen; sie seien verwurzelt „in den Geschichten, die Menschen über sich selbst erzählen“.5 In diesem Buch beschreiben wir die Überzeugungen und Handlungen, die zur Entwicklung von Kulturen des Friedens erforderlich sind.
In den verschiedenen Familien und erst recht Ländern werden nicht die gleichen Geschichten erzählt. Doch für Christen entwickeln sich Überzeugungen und Verhaltensweisen aus einer ergreifenden universellen Geschichte – der Geschichte von Gottes Gnade und Liebe. Sie zieht sich quer durch die hebräischen Schriften und das Neue Testament und findet ihren Höhepunkt in der Menschwerdung, in Leben und Lehre, Tod und Auferstehung von Jesus Christus. Das ist die Geschichte, die Petrus (inzwischen Mitglied der jüdischen Bewegung, die in Jesus den Messias sah) dem heidnischen Soldaten Kornelius erzählte. Dabei nannte er sie die „Friedensbotschaft Gottes“ (Apostelgeschichte 10,36). Die Kultur des Friedens, die unser Buch beschreibt, erwächst aus zahlreichen Geschichten aus vielen Teilen des Globus. Aber diese Geschichten sind alle derselben übergreifenden Erzählung untergeordnet.
Letztlich haben wir über „Kulturen des Friedens“ geschrieben, weil der Begriff „Friedenskirche“ einen begrenzten und privaten Beigeschmack hat – als ob er sich auf Menschen aus historischen pazifistischen Gruppierungen beschränkte. Wir schreiben aus der weltweiten mennonitischen Glaubensfamilie, einer der historischen Friedenskirchen, und viele unserer Geschichten erzählen von mennonitischen Erfahrungen und Bemühungen. Doch die „gute Nachricht“ des Friedens, die in Jesaja 52,7 erstmals erwähnt wird, war eine gute Nachricht für das gesamte Volk Gottes. Das Evangelium und die Praxis von Friedensstiften, Gottesdienst, Arbeit, Zeugnis und Leben in einer Welt, die sich im Kriegszustand befindet – gehören den Christen aller Traditionen.
Von den Überlegungen und Aktionen von Christen aus den verschiedensten Traditionen haben wir viel gelernt. Wir freuen uns darüber, ein Teil der weltweiten Kirche zu sein! Wir bekennen zugleich, dass wir noch viel von anderen Christen zu lernen haben. Wir haben versucht, dieses Buch in der biblischen Überlieferung zu verwurzeln, die uns alle vereint, und im Evangelium, das uns alle mit Leben erfüllt. In diesem Sinn ist dieses Buch ein Angebot an die weltweite Kirche Jesu Christi.
Wir beten, dass das, was Sie hier lesen – das Ergebnis der Zusammenarbeit eines Indonesiers mit zwei Amerikanern, eines Ehepaares mit seinem Freund – für Sie hilfreich ist. Wir drei haben schon oft gehört, dass das Thema Frieden Probleme in die Gemeinden trägt. Das ist zweifellos wahr. Wir haben aber auch das Empfinden, dass das Evangelium des Friedens, wenn es in alle Bereiche von Leben und Praxis der Gemeinde aufgenommen wird, lebensverändernden Nutzen mit sich bringen kann – eine Friedensdividende! Es erfordert Einfallsreichtum und harte Arbeit, sich das Friedenstiften anzugewöhnen. Und es hat seinen Preis – Jesus wirklich nachzufolgen, hat stets seinen Preis. Aber es lohnt sich. Kein Wunder, dass in beiden Testamenten der Bibel ständig von der „guten Nachricht des Friedens“ die Rede ist!
Wir sind überzeugt, dass die Neuentdeckung des Friedens zur Lebendigkeit der Kirche beiträgt. Doch was ist dazu erforderlich? Die folgenden Kapitel vermitteln beides, eine Vision sowie eine Vielzahl praktischer Vorschläge. Jedes Kapitel ließe sich beliebig ausweiten – wir haben gerade erst begonnen, uns der Herausforderung zu stellen, heute Kulturen des Friedens zu sein. Wir laden Sie ein, Beispiele und Ergänzungen hinzuzufügen, während Ihre Gemeinde das Abenteuer entdeckt, sowohl Gnade als auch Frieden zu lehren und zu leben.
Ich wünsche euch nun von Herzen, dass Gott selbst euch hilft, das Gute zu tun und seinen Willen zu erfüllen. Er ist es ja, der uns seinen Frieden schenkt. … Jesus Christus wird euch die Kraft geben, das zu tun, was Gott gefällt (Hebräer 13,20–21).
Alan Kreider Elkhart, Indiana/USA Pfingsten 2005
Anmerkungen
1Alan Kreider, „Is a Peace Church Possible?“; „Is a Peace Church Possible? The Church’s ‚Domestic‘ Life“; „Is a Peace Church Possible? The Church’s ‚Foreign Policy‘ – Worship“; „Is a Peace Church Possible? The Church’s ‚Foreign Policy‘ – Work, War, Witness“, in: Anabaptism Today, Ausgaben 19–22 (1998–1999).
2London, New Ground, 2000.
3Johannes Paul II., Enzyklika „Evangelium vitae“ [Evangelium des Lebens] (1995), http://www.vatican.va/edocs/DEU0073/_INDEX.HTM; Elise Boulding, Cultures of Peace – The Hidden Side of History (Syracuse, NY, Syracuse University Press, 2000); Fernando Enns, Scott Holland, und Ann Riggs (Hrsg.), Seeking Cultures of Peace – A Peace Church Conversation (Telford, PA, Cascadia Publishing House, 2004).
4Clifford Geertz, The Interpretation of Cultures – Selected Essays (New York, Basic Books, 1973), 5.
5Paul S. Fiddes, „The Story and the Stories, Revelation and the Challenge of Postmodern Culture“, in Paul S. Fiddes (Hrsg.), Faith in the Centre – Christianity and Culture (Oxford, Regent’s Park College, with Macon, GA, Smyth & Helwys, 2001), 77.
1. Die Kirche als eine „Kultur des Friedens“
Kann „Friede“ die Kultur der Kirche beschreiben?
Wenn jemand Sie nach Ihrer Gemeinde fragt, was antworten Sie dann? „Die ist in der Nähe vom Supermarkt.“ „Die Gottesdienste bringen einem wirklich was, Woche für Woche.“ „Die Mitglieder haben mir geholfen, als ich meinen Job verlor.“ „In meiner Gemeinde darf ich ich selber sein, weil auch andere sich offen und verletzlich zeigen.“
Vielleicht fallen unsere Erfahrungen mit Gemeinde auch weniger ermutigend aus. „Unsere Gemeinde ist gerade ziemlich angespannt.“ „Bei uns gibt es Gruppen, die nicht miteinander reden.“ „Mit der realen Welt haben unsere Gottesdienste nicht viel zu tun …“
Ganz gleich, ob unsere Erfahrungen positiv oder negativ sind, ist es doch eher unwahrscheinlich, dass wir unsere Gemeinde mit dem Wort „Frieden“ beschreiben. Vielleicht überkommt uns ein Gefühl des Friedens, wenn wir zur Kirche gehen. Aber den meisten von uns würde es wahrscheinlich nicht einfallen, unsere Kirche als eine „Kultur des Friedens“ zu bezeichnen.
Doch genau so haben viele Christen der ersten Jahrhunderte über ihre Gemeinden gedacht. Der Lehrer Justinus, der im Rom des zweiten Jahrhunderts aufgrund seines Glaubens umgebracht wurde, formulierte ein frühchristliches Verständnis, indem er festhielt, dass Jesaja 2,2–4, die Stelle, wo der Prophet das Verwandeln von Schwertern zu Pflugscharen voraussieht, bereits in der Gemeinde ihre Erfüllung gefunden habe. Die Christen sind zu Jesus gekommen, um zu lernen, wie man leben soll. Justinus hat über ihre Erfahrungen berichtet:
„Obwohl wir uns so gut auf Krieg, Mord und alles Böse verstanden hatten, haben wir alle auf der weiten Erde unsere Kriegswaffen umgetauscht, die Schwerter in Pflugscharen,