Die Europäische Einigung. Von 1945 bis heute. Gerhard Brunn
dem Züricher Ereignis habe der Premierminister im Ruhe- und Wartestand die Führung in der Bewegung für ein Vereinigtes Europa übernommen, sei Wortführer und vorderster Kämpfer geworden.
Die aktive Arbeit in der europäischen Bewegung überließ Churchill seinem Schwiegersohn, Duncan Sandys, der nach dem Verlust seines Unterhausmandats genügend Zeit hatte, professionell die von Churchill inspirierte »United Europe Movement« zu leiten, unter deren Führung nicht »Idealisten«, sondern »Realisten« die Strategie und Taktik des weiteren Vorgehens der privaten oder nichtgouvernementalen Europavereinigungen bestimmen konnten.
Die »United Europe Movement« (UEM) war das Instrument der »Unionisten«, wie sie im Sprachgebrauch der Zeit hießen. Sie wollten keinen europäischen Bundesstaat, sondern über den Weg der formellen zwischenstaatlichen Zusammenarbeit einen immer engeren Zusammenhalt der Staaten (Union) erreichen. Eine auslegungsfähige Begrifflichkeit überdeckte differierende Zielvorstellungen der Europavereinigungen und ermöglichte die Zusammenarbeit. Eine der zentralen Aussagen des »statement of policy«, der werdenden »United Europe Movement« – »Wenn Europa weiterleben will, muß es sich vereinigen« (zit. nach: Niess, S. 131) –, konnten die Europaaktivisten aller Richtungen unterschreiben.
Die Gründungsversammlung der UEM am 14. Mai 1947 in der mit fünftausend illustren Gästen voll besetzten Royal Albert Hall in London war ein gesellschaftliches Großereignis mit einem so weithallenden Echo in der Weltpresse, wie es keine andere Europainitiative bis dahin gefunden hatte. Unter dem riesigen Transparent mit der Aufschrift »Europe arise«, »Europa empor«, hielt Winston Churchill eine noch farbigere und glanzvollere Rede, als er sie in Zürich gehalten hatte, und eröffnete damit eine Kampagne, die einige begeisterte Zeitgenossen einen Kreuzzug nannten. Die UEM besaß gemessen an ihren Zielen und Zielgruppen, an ihrer sozialen Zusammensetzung und ihren Methoden einen ganz anderen Charakter als die »Union Européenne des Fédéralistes« (UEF). Die UEM dachte nicht im Geringsten daran, die Nationalstaaten weitgehend zu entmachten, wie es die Föderalisten wollten. Sie warb nicht für eine supranationale Föderation, sondern für eine »Union« der Nationalstaaten, eine Art »europäisches Commonwealth«, in dem die Völker immer enger zusammenarbeiten würden. Die Föderalisten stellten an sich den Anspruch einer Volksbewegung und hatten die Vorstellung, die Massen für Europa und einen revolutionären Verfassungsakt mobilisieren zu können. Die UEM dagegen war durch und durch eine Honoratiorenbewegung, man könnte sogar sagen, eine Bewegung der High Society. Von den fünfundsiebzig Mitgliedern ihres »Rats« waren nicht weniger als siebzig im Lexikon der oberen Zehntausend, dem Who is who, verzeichnet.
Die UEM war weder an einer großen Mitgliederzahl noch an einer »grass-root«-Organisation interessiert, und es ging ihr auch nicht darum, Massen für die europäische Idee zu mobilisieren. Ihre einzige nennenswerte Unterorganisation war ihre Studentenvereinigung. Die UEM wollte die öffentliche Meinung beeinflussen, Lobbyarbeit betreiben, auf die Regierungen und Parlamente einwirken und sie auf den Pfad immer engerer zwischenstaatlicher Zusammenarbeit drängen. Um ihrer Lobbyarbeit auch eine öffentliche Legitimation zu verschaffen, veranstaltete sie stark besuchte öffentliche Versammlungen mit prominenten Rednern, an denen sie keinen Mangel besaß. Sie blieb aber in ihrer Reichweite beschränkt, weil sie trotz einiger Bemühungen um Überparteilichkeit eindeutig mit der Konservativen Partei verbunden war. Damit entfremdete sie die Labourpartei der Europabewegung, und da diese unter den demokratischen sozialistischen Parteien im westlichen Europa die unbestrittene Führungsposition innehatte, konnte sie die übrigen ebenfalls zu Distanz bewegen.
Neben UEF und UEM entstanden viele kleinere und größere Vereinigungen zur Propagierung der Europaidee. Nach dem britischen Vorbild, in engem Kontakt mit Duncan Sandys, gründete der Mitherausgeber der Tageszeitung Le Monde, René Courtin, im Juli 1947 den konservativen »Conseil Français pour l’Europe unie«. Im Umkreis der Sozialistischen Internationale entstand im Februar 1947 das »Comité International pour les Etats-Unis Socialistes d’Europe« (ab Oktober 1948 umbenannt in »Mouvement Socialiste pour les Etats-Unis d’Europe« (MSEUE). Wegen der Obstruktion der Labourpartei und der Ablehnung aller »bürgerlichen« Vorstellungen eines Vereinten Europa geriet die sozialistische Variante der Europabewegung allerdings ins Abseits.
Die christkatholischen Europaaktivisten trafen sich ab März 1947 in den »Nouvelles Equipes Internationales« (NEI). Die NEI bildeten eine Art europäischer Internationale katholischer Führungskräfte. Über ihre Kongresse und »Genfer Treffen« kam jenes für die frühe Integrationsphase so wichtige Netzwerk europäischer Spitzenpolitiker (Schuman, de Gasperi, Adenauer) zustande. Schon im Mai 1946 hatte in Brüssel der mehrfache belgische Ministerpräsident Paul van Zeeland als eine Art exklusiven »braintrust« von Wirtschaftsführern die »Ligue Européenne de Coopération Economique« (LECE) gegründet und ihr den Auftrag gegeben, Studien über die ökonomischen Probleme Europas und einer zukünftigen europäischen Union anzufertigen.
Einen eigenen originellen Weg schlug Graf Coudenhove-Kalergi nach seiner Rückkehr aus den USA ein. Er schrieb einen Brief an alle Parlamentarier der demokratischen Länder Westeuropas mit der Frage, ob sie für die Errichtung einer Europäischen Föderation im Rahmen der Vereinten Nationen seien. Insgesamt 43 Prozent der Angeschriebenen sprachen sich im Prinzip für eine Europäische Föderation aus. Das ermutigte ihn, im September 1947 an seinem Wohnort Gstaad eine Zusammenkunft von über einhundert Abgeordneten aus zehn Ländern zu organisieren. Die Abgeordneten billigten die Gründung der »Europäischen Parlamentarier-Union« (EPU) und erklärten sich bereit, für die Einberufung einer Europäischen Verfassunggebenden Versammlung zu arbeiten. Die EPU zerfiel schon drei Jahre später, da sich Coudenhove-Kalergi mit seinem Anspruch, wie in den zwanziger Jahren eine elitäre Führungsposition in der Europäischen Bewegung zu besetzen, ins Abseits manövrierte.
Die Reaktion auf die Umfrage Coudenhove-Kalergis spricht für eine in Westeuropa verbreitete positive Einstellung zugunsten des europäischen Zusammenschlusses. Ergebnisse von Meinungsumfragen stützen die Annahme. Auf die Frage im Juli/September 1947: »Sind Sie für oder gegen die Bemühungen für eine Einigung Europas?«, erklärten 61 Prozent der Franzosen, sie seien dafür, aber nur 10 Prozent, sie seien dagegen. In den Niederlanden waren 55 Prozent der Befragten dafür, 5 Prozent dagegen.
Der Europakongress von Den Haag (1948)
Wie auf der Insel, so zog Duncan Sandys auch auf dem Kontinent die Fäden. Er hielt die Europabewegung unter Kontrolle. Im Juli 1947 überredete er fünf Organisationen, ein locker konstruiertes gemeinsames »Verbindungsbüro« einzurichten, und im November erreichte er ein Übereinkommen für eine gemeinsame »Konferenz europäischer Repräsentanten« im Frühjahr 1948 in Den Haag. Föderalisten wie »Unionisten« hatten schon im Sommer 1947 jeweils eine aufwändige repräsentative Veranstaltung ins Auge gefasst. Die Föderalisten hatten die »kühne« Idee, nach dem Muster der französischen Generalstände von 1789 »Generalstände Europas« (Etats-Généraux de l’Europe) mit dem Auftrag nach Versailles einzuladen, einen europäischen verfassunggebenden Prozess in Gang zu setzen. Das war, so kann man wohl sagen, eine spinnerte Idee, und der Pragmatiker Sandys hatte im November/Dezember im gemeinsamen Büro wenig Schwierigkeiten, einen Beschluss zur Einberufung eines repräsentativen Treffens prominenter Europäer nach Den Haag herbeizuführen. Die Europäische Bewegung sollte mit einer Heerschau die öffentliche Meinung und die Regierungen beeindrucken. Sandys behielt auch bei den Vorbereitungen das Heft fest in der Hand. Er bestimmte die Einladungspolitik und sorgte dafür, dass die Leitung der Kommissionen und die Verantwortung für die Ausarbeitung der Berichte und Resolutionen Personen aus dem Kreis der Unionisten übertragen wurde.
Der Haager Kongress unter dem Ehrenpräsidium Churchills wurde ein glanzvolles propagandistisches Ereignis, über das nicht nur die politische Publizistik, sondern auch die illustrierten Zeitungen ausführlich berichteten. Als in der Schlusssitzung Winston Churchill im historischen Rittersaal mit seiner Stimme gegen das draußen donnernde Gewitter ankämpfte, habe man das Gefühl gehabt, historische Minuten zu erleben, erinnerte sich dreißig Jahre später Hendryk Brugmans, einer der führenden Föderalisten. Die laut Teilnehmerverzeichnis siebenhundertneunzehn Delegierten und einundvierzig Beobachter bildeten eine erlesene Versammlung aus Politik, Wirtschaft, Geist und Kultur; nicht weniger als sechs ehemalige Ministerpräsidenten, vierzehn amtierende