Die Europäische Einigung. Von 1945 bis heute. Gerhard Brunn

Die Europäische Einigung. Von 1945 bis heute - Gerhard Brunn


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der europäischen sozialistischen Parteien dem Ereignis fern. Der Haager war im Übrigen der erste internationale Kongress nach dem Krieg, zu dem Deutsche eingeladen waren. Karl Arnold, der Ministerpräsident von NRW, gehörte mit einigen seiner Minister dazu. Auch Konrad Adenauer und Walter Hallstein hatten eine Einladung erhalten. Beide waren international noch völlig unbekannt. Hallstein nutzte die Gelegenheit, Schuhe zu kaufen, die er noch zehn Jahre später als Präsident der EWG-Kommission anzog.

      Der Kongress sollte die politischen Kräfte Europas davon überzeugen, dass die Bewegung für ein vereinigtes Europa eine wirkliche Kraft darstelle und das Ziel der europäischen Einigung von einem Großteil der europäischen Eliten aus voller Überzeugung unterstützt werde. Die Teilnehmer sollten aber außerdem praktische Vorschläge zur Verwirklichung der Einigung ausarbeiten. Diese sollten den Regierungen vorgelegt werden und sie zum Handeln ermutigen. Das erste Ziel erreichten die Organisatoren. Bei der Frage, welche konkreten Schritte auf dem Weg der Einigung getan werden sollten, zeigten sich tiefe Gegensätze, und nur nach langen Nachtsitzungen konnten zustimmungsfähige Formulierungen gefunden werden, bei denen sich im Wesentlichen die »Minimalisten« durchsetzten.

      In seiner politischen Resolution forderte der Kongress »mit aller Dringlichkeit« die Einberufung einer »Europäischen Versammlung«, deren Teilnehmer von den nationalen Parlamenten bestimmt werden sollten. Die Versammlung sollte wirtschaftliche und politische »Sofortmaßnahmen« empfehlen, die geeignet seien, nach und nach die »notwendige Einheit Europas« herzustellen, sowie die juristischen und verfassungsrechtlichen Probleme einer »Union oder Föderation« untersuchen (Congress, S. 412).

      Sandys, vom Erfolg dieser Manifestation des europäischen Einigungswillens beflügelt, ging energisch daran, das Einwirken auf die Regierungen zu organisieren und das Koordinationskomitee des Kongresses zu einer europäischen Dachorganisation auszubauen. Nationale Komitees legten den Parlamenten und Regierungen der Marshallplan-Länder am 18. Juli Memoranden zu dem Vorhaben der »Europäischen Versammlung« vor. Zwei Monate später wurde die »Europäische Bewegung« als Dachorganisation der Europaverbände gegründet.

      Der französischen Politik kam das Erstarken der europäischen Bewegung zu diesem Zeitpunkt gerade recht. Sie hatte erkannt, dass ihr die Mittel zur Durchsetzung einer an den machtpolitischen Rezepten von 1919 orientierten Politik zur nachhaltigen Schwächung Deutschlands fehlten. Ein westeuropäischer Zusammenschluss schien besser geeignet, um das Problem Deutschland zu lösen und das ehrgeizige Projekt zu vollenden, Frankreich zu einer modernen europäischen Wirtschaftsmacht aufzubauen, die mit der deutschen, nach deren Wiederaufrichtung, erfolgreich konkurrieren könne. »Frankreich sucht Kraftströme in sein Land zu lenken, um mit erborgter Macht die Vorherrschaft in Europa zu erstreiten«, charakterisierte die Zeit solche Vorstellungen (20. Mai 1948). Als sich Frankreich auf der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz im Frühjahr 1948 dem Druck der USA, Großbritanniens und der Beneluxstaaten beugen und der Gründung eines westdeutschen Staates zustimmen musste, suchte es sich im Gegenzug zum Vorkämpfer der europäischen Einigung zu machen. Wenn es nicht gelang, Deutschland weiterhin als besiegte Macht niederzuhalten, dann war es dringlich, einen Zusammenschluss der Staaten Westeuropas herbeizuführen und zu einem späteren Zeitpunkt Deutschland einzubeziehen, um es so unter Kontrolle zu halten und an einer unberechenbaren, den Westen gefährdenden Politik zu hindern.

      Schon zwei Tage nach der Entgegennahme des Memorandums zur Europäischen Versammlung entsprechend den Beschlüssen des Haager Kongresses appellierte der französische Außenminister Bidault am 20. Juli auf der zweiten Sitzung des Konsultativrats des Brüsseler Pakts an seine Kollegen, gemeinsam eine »Europäische Parlamentarische Versammlung« einzuberufen. Sie sollte über Fragen einer Wirtschafts- und Währungsunion beraten, aber nach einer prinzipiellen Einigung der Regierungen Entscheidungsvollmachten erhalten und zur Keimzelle eines föderativen Europas werden.

      Ernest Bevin war von der Vorstellung einer solchen Versammlung so entsetzt, dass er Metaphern der griechischen Mythologie durcheinanderbrachte: »Wenn man diese Pandorabüchse öffnet, wird man sie voller Trojanischer Pferde finden!« Die Büchse der Pandora war aber geöffnet, und Bevin musste sich nach einem formellen Antrag der französischen und belgischen Regierung mit äußerstem Unbehagen zu Verhandlungen bequemen und den Europäern eine Parlamentarische Versammlung, ihre »Schwatzbude«, zugestehen. Den britischen Unterhändlern kam es zu, die »Trojanischen Pferde« unschädlich zu machen. D. h., die zu schaffende Einrichtung durfte so gut wie keine Zuständigkeiten erhalten und musste unter die uneingeschränkte Kontrolle der Regierungen gestellt werden. Großbritannien war nicht bereit, mehr zuzugestehen als lose Formen der Kooperation zwischen souveränen Regierungen, die völlige Entscheidungsfreiheit in allen sie betreffende Fragen behalten sollten. Es wurde auch klar, dass Großbritannien (noch) weit davon entfernt war, sich eng an den europäischen Kontinent anzuschließen.

      In zähen Verhandlungen gelang es den Briten, die hochfliegenden Pläne auf ein für sie akzeptables Maß zurückzustutzen. Sie akzeptierten eine beratende Parlamentarische Versammlung mit nach nationalen Regelungen ernannten Abgeordneten, erhielten dafür aber die Zusicherung, dass dieser ein Ministerrat übergeordnet werden sollte. Am 5. Februar 1949 veröffentlichte das Generalsekretariat des Ständigen Ausschusses der Brüsseler Vertragsorganisation die ausgehandelten Empfehlungen zur »Organisation eines Europarates«. Zu den weiteren Beratungen wurden auch Italien, die skandinavischen Staaten und Irland eingeladen. In den abschließenden Verhandlungen setzten die Briten noch Straßburg als Sitz der neuen Institution und ihren Namensvorschlag »Europarat« gegen den Konkurrenzvorschlag »Europäische Union« durch. Am 5. Mai 1949 schließlich unterzeichneten zehn Staaten das Gründungsmanifest.

      Nach der Gründung des Europarats neigte sich die große Zeit der Europabewegung dem Ende zu und die Europapolitik ging in die Routine der Berufsdiplomatie über. In den folgenden Jahren begleitete die Europäische Bewegung den Europarat bei seinen Bemühungen, die ihm gesetzten engen Grenzen zu sprengen und doch noch zu der supranationalen Organisation mit souveränen Entscheidungsbefugnissen zu werden, wie sie ursprünglich gedacht worden war. Und sie hielt regelmäßig Kongresse ab, die aber nicht entfernt den Widerhall des Haager Kongresses fanden. Finanziell konnte sie nur mit Geldern überleben, die ihr der amerikanische Geheimdienst über einen Umweg zukommen ließ.

      Der Europarat – Große Hoffnungen und tiefe Enttäuschung

      Der Europarat war eine Staatengruppierung neuen Typs. Er gab der Idee eines Vereinten Europa, bildlich gesprochen, zum ersten Mal eine Gestalt und eine Seele. Artikel 1 der Satzung erteilte ihm den Auftrag, »[…] eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zum Schutze und zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, herzustellen und ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern«.

      Diese Aufgabe sollten die Organe des Rats erfüllen, und zwar »[…] durch Beratung von Fragen von gemeinsamem Interesse, durch den Abschluß von Abkommen und durch gemeinschaftliches Vorgehen auf wirtschaftlichem, sozialem, kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet und auf den Gebieten des Rechts und der Verwaltung sowie durch den Schutz und die Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten«.

      Gemessen an den Ausgangserwartungen der Kontinentaleuropäer brachten diese Aufgabenzuschreibung und die Konstruktion des Europarats eine Enttäuschung. Die Gründer schufen mit ihm keine neue, den nationalen Souveränitäten übergeordnete Autorität, sondern beließen ihn in den Händen der Regierungen. Das »Ministerkomitee«, das nur einstimmige Beschlüsse fassen durfte, erhielt die Zuständigkeit, »im Namen des Europarats […] zu handeln« (Artikel 13), während die »Beratende Versammlung« als das »beratende Organ« eingerichtet wurde, das seine »Beschlüsse dem Ministerkomitee in der Form von Empfehlungen« zu übermitteln habe (Artikel 22). Damit hatten die Briten (und Skandinavier) eine Instanz mit regierungsähnlichen Vollmachten verhindert. Wie sich schnell zeigen sollte, hatten sie den Europarat, wie ein sarkastisches Urteil lautete, »entmannt«, denn das zur Einstimmigkeit verpflichtete Ministerkomitee nahm nur das von den Berichten und Empfehlungen der Beratenden Versammlung auf, was ihm zusagte, und das war häufig so gut wie nichts.

      Die Beratende Versammlung des Europarates trat im August 1949 zu ihrer ersten Sitzung in der graunüchternen Aula der Universität Straßburg zusammen, deren schlechte


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