Die Europäische Einigung. Von 1945 bis heute. Gerhard Brunn

Die Europäische Einigung. Von 1945 bis heute - Gerhard Brunn


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auf internationaler Ebene. Auch waren sie gegen eine technokratische Diktatur und sahen in dem geplanten Zusammenschluss eine Gefahr für die geplante Wiedervereinigung.

      Alle Länder, die für eine Beteiligung in Frage kamen, stimmten zu, wenn auch mit Zurückhaltung. Selbstverständlich waren überall die Kommunisten dagegen. In Frankreich gab es den Stolz auf die gelungene französische Initiative. Die Beneluxländern akzeptierten den Plan aus politischen Gründen; es gab aber wirtschaftliche Bedenken. In Belgien z. B. fürchtete man die Konkurrenz für die unrentabel arbeitenden Gruben. Die italienische Politik begrüßte Schumans Ankündigung enthusiastisch. Italien hoffte, wie die Bundesrepublik, über die Beteiligung zu einem gleichberechtigten Mitglied in der europäischen Völkerfamilie zu werden. Aber auch hier äußerte man Befürchtungen wegen der Konkurrenz für die wenig entwickelte Stahlindustrie. Insgesamt also ist zu sagen, dass die Zustimmung vor allem aus politischen Gründen erfolgte und kein Land abseitsstehen und aus dem werdenden Europa ausgesperrt werden wollte, obwohl in jedem Befürchtungen laut wurden, dass die eigene Industrie Opfer bringen müsse.

      Ganz anders sah es in Großbritannien aus. Bevin hatte vor dem 9. Mai nicht das geringste Zeichen seines französischen Kollegen Schuman erhalten. Erst am Vormittag des 9. Mai – am Nachmittag fand die Pressekonferenz in Paris statt – überreichte der französische Botschafter Bevin das Schriftstück. Acheson berichtet, danach sei Bevin schäumend vor Wut zu ihm gekommen. Der Plan sei eine Verschwörung gegen den britischen Handel. Er werde die so genannte Kohle-Stahl-Gemeinschaft mit allen Kräften bekämpfen. Bevins Zorn kühlte sich ab. Es kam in den folgenden Wochen noch einmal zu Versuchen der Annäherung der Standpunkte. Frankreich ging jedoch nicht davon ab, dass vor der Aufnahme der Beratungen das Prinzip der supranationalen Behörde akzeptiert werden müsse, während Großbritannien deutlich machte, dass es prinzipiell nicht bereit sei, über jene Formen zwischenstaatlicher Zusammenarbeit hinauszugehen, wie sie mit der OEEC installiert worden waren. Die Labourregierung sah außerdem in der vorgeschlagenen Organisation ein Hindernis für die Weiterführung ihres sozialistischen Wirtschaftsmodells. Gerade konzentrierte sie sich auf die Verstaatlichung der Stahlindustrie, nachdem dies bei Kohle und Elektrizität schon geschehen war. In diese Pläne wollte sich die Labourregierung unter keinen Umständen von einer europäischen Autorität hineinreden lassen. Der Premier sagte im Unterhaus, es sei für Großbritannien unmöglich, irgendetwas zuzustimmen, das die wichtigsten wirtschaftlichen Kräfte des Landes einer Behörde überantworte, die gänzlich undemokratisch und niemandem verantwortlich sei.

      »Kombinat Europa«

      Der von Schuman vorgelegte Plan hatte den Charme, sich pragmatisch auf Machbares zu begrenzen. Und Monnet, der zum französischen Verhandlungsführer bestimmt worden war, ging davon aus, dass die Verhandlungen in wenigen Wochen abgeschlossen sein könnten. Er sollte sich täuschen. Die Verhandlungen waren mühsam, zum einen, weil es darum ging, die supranationale Institution wenigstens ansatzweise demokratisch zu legitimieren und sie nicht gänzlich aus der Kontrolle der Regierungen der Partnerstaaten zu entlassen, und zum anderen, weil in allen Ländern die mächtigen Vereinigungen der Kohle- und Stahlindustrie ihre jeweiligen Interessen gewahrt wissen wollten.

      Das größte Hindernis bildete in der ersten Phase der Verhandlungen die von Monnet konzipierte Hohe Behörde. Für Monnet stellte sie das Herzstück der geplanten Gemeinschaft dar. Er hatte sie als kleines, völlig unabhängiges, mit großen Machtbefugnissen ausgestattetes Zentralorgan konzipiert. Er war ein Technokrat und wollte mit seiner Konstruktion der Behörde ständige politische Interventionen in Planungsvorhaben, wie er sie in Frankreich erlebte, ausschließen. Vor allem die in Fragen ihrer Souveränität besonders empfindlichen kleinen Länder opponierten gegen diese Behörde, die den Mitgliedsstaaten verbindliche Entscheidungen auferlegen sollte. Sie verlangten eine Reduzierung der Machtbefugnisse der Behörde und institutionelle Gegengewichte. Wortführer waren die Niederlande. Auf ihren Vorschlag ging die Errichtung des Ministerrates zurück. Ebenfalls wurde erst während der Verhandlungen die Institution der Parlamentarischen Versammlung eingeführt. Die Absicht war, der Gemeinschaft eine politisch-demokratische Dimension und Legitimation beizufügen.

      Zeitgenossen wie Historiker haben die Errichtung von Kontrollgremien als eine Niederlage des supranationalen Prinzips interpretiert. Das Bestehen auf Gegengewichten gegen die Hohe Behörde folgte aber den Prinzipien von Machtkontrolle und demokratischer Legitimation. Die kleinen Länder weigerten sich, einem praktisch jeder Kontrolle entzogenen technokratischen Expertengremium so weitreichende Entscheidungsbefugnisse zu übertragen. Außerdem mag man füglich bezweifeln, ob eine solche Behörde in der Lage gewesen wäre, ihre Entscheidungen in den Mitgliedsstaaten durchzusetzen, schon deshalb, weil sie so gut wie keine Mittel in der Hand gehabt hätte, sich gegen die Verweigerung der Regierungen und Obstruktion der Interessenvereinigungen durchzusetzen.

      Im September waren sich die Delegationen grundsätzlich über die Organe einig. Mitte Dezember lag der erste Vertragsentwurf vor. In der Zwischenzeit hatten sich aber neue Schwierigkeiten ergeben. Der Koreakrieg war ausgebrochen. Damit war die Gefahr einer Überproduktion auf dem Stahlmarkt vorbei. Die Nachfrage nach Stahl wuchs sprunghaft. Gedanken über eine Marktregulierung waren nicht mehr aktuell. Jetzt interessierte nur noch die rasche Erweiterung der Produktion. Damit waren die Voraussetzungen, auf die sich der Schumanplan gründete, bis zu einem gewissen Grade überholt. Die Ruhrkonzerne benötigten die Kohle- und Stahlgemeinschaft nicht mehr, um die Produktionsbeschränkungen loszuwerden. Sie verlangten selbstbewusst, die Dekartellisierungs- und Entflechtungsbestimmungen zu streichen. Sie seien eine unzeitgemäße Diskriminierung der Ruhrindustrien. Mit einem Verzicht darauf wäre für Jean Monnet der Sinn und Zweck der Gemeinschaft verkehrt worden, und es wurde deshalb umso notwendiger, Vorsorge gegen die Zusammenballung wirtschaftlicher Macht zu treffen. Nur indem Jean Monnet mit seinen ausgezeichneten Verbindungen zu dem amerikanischen Hochkommissar in Deutschland, John McCloy, die Amerikaner zu massivem Druck auf die Deutschen bewegen konnte, gelang es, ein weitgehendes Fusionsverbot durchzusetzen. Am 18. April konnten die sechs Außenminister den Vertrag zur Errichtung der »Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl« (EGKS) unterzeichnen, für die sich in Deutschland der Name »Montanunion« einbürgerte.

      Die parlamentarische Zustimmung zu dem Vertrag stieß nur in Frankreich auf einen kritischen Widerstand. Die Wahlen vom Juni 1951 hatten die Gegner, Kommunisten und Gaullisten, gestärkt und die Unabhängigen standen unter dem Druck der Stahlindustrie, die ihre Interessen nicht genügend verwirklicht sah. Schließlich erhielt der Vertrag in beiden Kammern des Parlaments aber doch eine komfortable Mehrheit, wenn auch mit der Auflage eines nationalen Entwicklungsprogramms und der Aufnahme von Verhandlungen zur Mosel-Kanalisierung. In Deutschland stimmten die Sozialdemokraten gegen die »Europa-AG« und »das supranationale Herrschaftsorgan«, das den staatlichen Parlamenten die Kontrolle auf »politischem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet« entziehe.

      Die Montanunion in Aktion – Bilanz

      Die EGKS nahm am 10. August 1952 in Luxemburg ihre Arbeit auf. Ihr übergreifender Auftrag war, auf der Grundlage eines gemeinsamen Marktes für Kohle und Stahl »zur Ausweitung der Wirtschaft, zur Steigerung der Beschäftigung und zur Hebung der Lebenshaltung in den Mitgliedsstaaten beizutragen« (Artikel 2). Als Erstes sollten Zollbarrieren und andere Handelshemmnisse abgebaut werden. Nur danach würde es möglich sein, einen wirklichen gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl zu errichten.

      An der Spitze stand die »Hohe Behörde«, deren neun Mitglieder von den Regierungen in gegenseitigem Einvernehmen benannt wurden. Erster Präsident wurde Jean Monnet. Trotz ihrer in den Verhandlungen gestutzten Vollmachten besaß sie noch einen großen Handlungsspielraum. Neben der Hohen Behörde wurden andere Organe eingerichtet. Der Ministerrat war für die wirtschaftspolitische Koordination zuständig und musste u. a. bei der Ausrufung einer Krisensituation seine Zustimmung erteilen. Die parlamentarische Versammlung, deren Mitglieder von den nationalen Parlamenten entsandt wurden, hatte nur das Recht, Berichte anzufordern und die Hohe Behörde mit 2⁄3-Mehrheit zu stürzen. Monnet wertete sie jedoch später auf, um sie gegen den Ministerrat auszuspielen. Ein Gerichtshof amtierte als Verfassungsgericht, Verwaltungsgericht und auch Schlichtungsinstanz. Er konnte nicht nur von den Organen der Montanunion und den Mitgliedsstaaten, sondern auch von allen natürlichen und juristischen Personen der Gemeinschaft


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