Das Awaren-Amulett. Carmen Mayer
schweigend zugehört. Jetzt sah er dem Mönch gerade ins Gesicht und sagte mit belegter Stimme: „Ich nehme an, dass Ihr dieser Onkel seid?“
„So ist es, mein Junge.“
„Verräter!“, zischte Johannes und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust.
„Es steht dir frei, es so zu sehen“, antwortete Bruder Anselm verständnisvoll. „Vielleicht siehst du das eines Tages anders.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen“, antwortete ihm der Junge trotzig.
Bruder Anselm ging nicht weiter darauf ein.
„Ich bin damals zu den Kapuzinern gegangen, weil ich sie als das kleinere Übel betrachtete.“ Er schüttelte gequält den Kopf. „Die Jesuiten und ihre Machenschaften waren mir nur zu gut bekannt. Sie hatten schon seit Jahren versucht, unsere Arbeit an der Schule zu stören, und immer wieder alles getan, um die wenigen Katholiken in der Stadt gegen die Protestanten aufzubringen. Das gelang ihnen gelegentlich auch, wenngleich ihr Vorgehen dabei mehr als schändlich war für einen christlichen Orden.“
„Davon habe ich gehört“, murmelte Johannes nachdenklich.
„Sie haben die schlecht gehenden Geschäfte der Handelsleute geschickt ausgenutzt“, fuhr Bruder Anselm fort. „Ihren verleumderischen Hetzreden zufolge konnten daran nur die ketzerischen Protestanten schuld sein, die der Teufel geschickt habe, um den Anhängern des wahren, des katholischen Glaubens das Leben schwer zu machen. Eine Prüfung unseres Allerhöchsten HErrn wollten sie darin sehen, die ein aufrechter, frommer Katholik jedoch zweifelsfrei zu bestehen wusste. Manche haben daran geglaubt, weil sie einfach daran glauben wollten. Manche, weil sie froh waren, endlich einen Sündenbock für ihre missliche Lage gefunden zu haben, den sie zur Verantwortung ziehen konnten. Du kennst das doch aus eigener Erfahrung: Die Leute haben keine Arbeit, werden viel zu hoch mit Abgaben belegt, sind verarmt und krank. Dazuhin sind sie nicht gebildet genug, die Ursache für ihre Misere zu begreifen, die oftmals in ihnen selber steckt – meistens aber auch in der Obrigkeit, in den Landesherren, an die sie nicht herankommen und die sie ja auch nicht ungestraft angreifen können. Wenn dann einer kommt, der diesen Leuten laut genug sagt, diese oder jene seien schuld an ihrem Elend, und ihnen noch zusichert, es geschehe ihnen selber nichts, wenn sie die anderen an den Pranger liefern, laufen sie ihm sofort nach und schreien noch lauter und sind noch grausamer in ihrem Wahn als der, der sie dazu angestiftet hat.“
Er schwieg einen Augenblick und schüttelte Gedanken ab, die ihn offenbar quälten. Dann nahm er einen großen Schluck aus seinem Becher, den er beinahe unablässig in den Händen gedreht hatte.
„Wenn man genauer hinsieht“, fuhr er schließlich fort, „kann man erkennen, wessen Geistes Kind diese Menschen sind. Nicht selten die versoffensten, heruntergekommensten Elemente, die Gottes Erdboden jemals betreten haben. Ohne jegliche Bildung und den Kopf voller Bohnenstroh und Unrat. Es ist kein Wunder, dass diese geistig verkümmerten Kreaturen anfällig sind für Aberglaube und Hetze. Es lenkt sie von ihren eigenen Unzulänglichkeiten und Kümmernissen ab. Außerdem bietet es ihnen die Möglichkeit, sich ungestraft an wehrlosen Unschuldigen auszulassen und abzureagieren. Dazu kommt dann noch die Unzufriedenheit, weil sie keine Arbeit finden, Hunger haben und allen erdenklichen Ungerechtigkeiten ausgesetzt sind, die ihnen das Leben bietet. All das sind Dinge, die die Menschen schließlich in die weit offenen Arme all derer treiben, die ihnen ein besseres Leben oder eine Erlösung von ihren Plagen versprechen. Dass es Lügen sind, will keiner sehen. Zu aufregend sind die Möglichkeiten, die sich diesen Armen im Geiste bieten.“
Er hatte sich so aufgeregt, dass er erst einmal tief durchatmen musste. Lange starrte er in das flackernde Licht der Unschlittkerze auf dem Tisch. Die Erinnerung an Erlebtes war plötzlich wieder wach geworden und machte ihn heute so betroffen wie damals, bevor er die Menschen schließlich floh und sich in die Einsiedelei zurückzog.
„Es wird erzählt“, fuhr Anselm schließlich müde fort, „dass auf Betreiben der Jesuiten viele rechtschaffene Bürger von ihren Nachbarn verleumdet und daraufhin verhaftet und ins Loch geworfen wurden. Wenn man den Berichten der wenigen wieder Entlassenen glauben darf, ging man nicht gerade zimperlich mit ihnen um. Du wirst verstehen, dass ich mit diesen Menschen nichts zu tun haben will, die sich auch noch Christen nennen.“
„Und die Kapuziner?“
„Zuerst ließen sie sich recht gut an, aber bald merkte ich, dass sie den Jesuiten in nichts nachstanden, was die Verfolgung und Vertreibung der Protestanten betraf.“
„Und was wurde aus dem Kind?“, hakte Johannes ungeduldig nach, der merkte, dass sein Lehrer zögerte, über das zu reden, was der eigentliche Grund für das Gespräch gewesen war. Der stand auf und schaute nach der Suppe, während Johannes Schüsseln und Brot vorbereitete und sich dann wieder setzte. Der Mönch schöpfte für sie beide etwas von der Suppe in die Schüsseln, brach das Brot darüber und sprach seinen Segen. Dann begann er, schweigend zu essen.
„Ach ja, das Kind“, sagte er, als er fertig gegessen, und die Reste in seiner Schüssel mit Brot ausgestrichen hatte. Er trank noch einen Schluck aus seinem Becher und stellte ihn auf die Tischplatte zurück. Dann sprach er ein kurzes Dankgebet, rülpste ein paar Mal und faltete die Hände über der Brust.
„Eines Abends steckte mir jemand die Nachricht zu, dass meine Schwester an einem gewissen Ort auf mich warten würde, sie benötige meinen Beistand in einer dringenden Sache. Ich fuhr unter einem guten Vorwand nach Bruck, und suchte die bezeichnete Stelle auf. Als ich dort ankam, lag nur ein Bündel mit dem Kind in einem verlassenen Hausflur, und ich konnte gerade noch sehen, wie sich ein Schatten, ganz an die Wand gedrückt, davonstahl. Ich fand einen Zettel bei dem Bündel und erfuhr, dass es sich bei dem Kind um meinen Neffen handele und was zunächst zu tun sei. Ich verstand, dass meine Schwester berechtigte Bedenken hatte, mit dem Balg eines Protestanten die weite Reise anzutreten, und annahm, es sei in der Obhut eines Katholischen sicherer.“
„Was war so übel daran, mit dem Kind eines Protestanten zu reisen?“, wollte Johannes wissen.
„Es waren zu viele unterwegs, die es den Protestanten schwer machten“, versuchte der Einsiedler eine Erklärung. „Das muss dir erst einmal reichen. Es gelang mir jedenfalls, den Kleinen zu seinem Vater ins Tälchen zu bringen, und seine zweite Frau nahm ihn sofort an Kindes statt an. Sie war inzwischen selber guter Hoffnung. Die beiden lebten in recht beschwerlichen Verhältnissen, wie ich dir erzählt habe, aber ich konnte feststellen, dass sie einander sehr zugetan waren und eine außergewöhnlich gute Ehe führten. Der Junge wurde am darauf folgenden Sonntag in der protestantischen Dorfkirche im Tälchen getauft, da dies in Bruck nicht möglich gewesen war.
Zum Andenken an meinen Freund in Graz und mit dem Wunsch, das Kind käme ganz nach ihm, nannten wir es – Johannes.“
Er sah auf. Johannes saß wie vom Donner gerührt mit offenem Mund vor ihm und war nicht in der Lage, etwas zu sagen. Bruder Anselm erhob sich und holte seinen Krug mit Wein vom Bord, dessen restlichen Inhalt er zur Hälfte in seinen, zur anderen Hälfte in Johannes’ Becher füllte.
„Sagt das noch einmal!“, flüsterte Johannes. In seinem Gesicht lag der Ausdruck eines gequälten Tieres.
„Du warst von Anfang an willkommen bei der Anna“, sagte Bruder Anselm beschwichtigend und hob seinen Becher. „Trink einen Schluck.“
„Das weiß ich“, gab Johannes zu, „das weiß ich doch!“ Er sank weinend auf seinem Hocker zusammen. „Aber ich verstehe nicht, warum mir das niemand gesagt hat!“
„Weil es nicht notwendig war“, entgegnete Bruder Anselm ruhig.
„Nicht notwendig? Habe ich nicht ein Recht darauf …“
„Recht?“ Bruder Anselms Stimme wurde laut. „Worauf hast du ein Recht? Du weißt jetzt, wer deine Mutter war und wie alles gekommen ist. Du bist der leibliche Sohn des Mannes, den du bislang Vater genannt hast, und es gibt keinen Grund, dich über irgendetwas daran aufzuregen, hast du mich verstanden? Jetzt beruhige dich wieder!“
„Ich weiß nicht, wer meine Mutter war!“ Johannes schniefte und wischte den Rotz am Ärmel