Das Awaren-Amulett. Carmen Mayer
von hier! Los, verschwinde!“, herrschte der Henker den Jungen an, der mit weit aufgerissenen Augen dastand und sich nicht vom Fleck rührte. „Los, hau ab, bevor sie dich erwischen und zurück in die Stadt bringen! Es ist die Pest!“
Johannes rang nach Luft.
„Ihr dürft das nicht“, flüsterte er entsetzt. „Man darf die Toten nicht einfach so verbrennen! Ihr versündigt euch an ihnen. Es sind doch keine …“
Trümmer einer Mühle.
Verkohlte Leichen.
Ein verkrustetes Amulett.
„Hörst du nicht?“, fuhr der Henker ihn an. „Es ist die Pest! Sei froh, dass du noch aus der Stadt gekommen bist, weil die Stadtwache mit dem verfluchten Mob beschäftigt war. Niemand darf mehr hinein oder heraus. Also verschwinde!“
„Ich hab nur kurz Rast gemacht in eurer Stadt und muss weiter nach Linz“, flüsterte Johannes. „Ich hab mich bestimmt nicht angesteckt.“
Der Henker kam bis auf ein paar Schritte auf ihn zu und maß ihn mit Blicken von Kopf bis Fuß.
„Woher willst du das wissen?“
„Ich bin kerngesund, das weiß ich bestimmt. Lasst mich weiterziehen“, bettelte Johannes verzweifelt.
„Ich müsste dich mit zurücknehmen, Junge“, sagte der Henker beinahe väterlich.
„Mit zurück? Ich habe hier nichts mehr zu schaffen. Ich will nach Linz! Enns war nur …“
„Die Pest kommt mit Soldaten wie denen da“, unterbrach ihn der Henker und zeigte auf den brennenden Holzhaufen.
„Ich hab keine Soldaten gesehen.“
„Du musst keine Soldaten gesehen haben, um dich anzustecken! Warst du im Hurenhaus?“
Johannes schüttelte entgeistert den Kopf. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Er begann, die Zusammenhänge zu begreifen: Die Soldaten hatten unbemerkt die Krankheit in die Stadt und zu den Huren geschleppt. Waren weitergezogen und hatten die Pest dagelassen.
„Unter den Huren und ihren Freiern gab es die ersten Kranken“, bestätigte der Henker, was Johannes sich gerade zusammengereimt hatte, und musterte ihn argwöhnisch.
„Ich war da nicht!“, beteuerte Johannes jetzt verzweifelt. Er wollte auf keinen Fall zurück in die verseuchte Stadt.
Der Henker wiegte nachdenklich den Kopf.
„Verschwinde von hier. Hau ab, hörst du?“, wiederholte er schließlich. „Aber der Teufel soll dich holen, wenn du mich angelogen hast und den Tod mit nach Linz schleppst!“
Johannes war noch immer unfähig, sich zu rühren. Er hatte eine Hand über die Stelle seines Wamses gelegt, unter der er das Andenken an seine Mutter Anna wusste. An sie und zwei andere Frauen, deren Schicksal ihm in diesem Augenblick näher gekommen war als jemals zuvor.
Das Geschrei des Pöbels aus der Stadt war noch immer deutlich zu hören. Nur diejenigen, die den Leichenwagen begleitet hatten, standen nach wie vor stumm vor dem Tor und schauten mit vor Entsetzen gezeichneten Gesichtern zu ihnen herüber.
„Lass dich nicht vom Gekeife der Weiber anstecken, die gleich an der Haußlerin ihr Mütchen kühlen werden.“ Der Henker warf einen verächtlichen Blick über die Schulter zurück zur Stadt. „Hatte schon viel mit angeblichen Hexen zu tun. Keine von ihnen hat auch nur ein Fünkchen der Macht, die man ihnen unterstellt.“ Er zuckte die Schultern. „Woher auch? An den Teufel glaube ich schon lange nicht mehr. Nur an die Dummheit der Leute.“
„Aber trotzdem kümmerst du dich um die Hexen“, brummte Johannes missgelaunt, den der Henker gerade noch zum Teufel gewünscht hatte, an den er angeblich nicht glaubte.
„Kümmern? Wenn du meinst. Wir sind eine alte Freimann-Familie“, knurrte der Henker zurück. „Da wirst du hineingeboren und kommst nie heraus. Wir sind geächtet, geschmäht. Glaubst du, uns gefällt das? In so einer Familie und mit diesem Beruf lernst du sehr schnell, deine eigenen Schlüsse zu ziehen – und dann zu tun, was man von dir erwartet. Ob du und ich das für richtig halten oder nicht, ist eine andere Sache. Darüber entscheiden nicht wir, sondern die Richter. Und jetzt verschwinde, bevor ich es mir anders überlege!“
Der Henker wandte sich von ihm ab und kümmerte sich um den brennenden Scheiterhaufen. Johannes schaute ihm regungslos zu. Erst als einer der Knechte des Freimanns ihm einen Stoß gab, dass er beinahe in den matschigen, inzwischen rußgeschwärzten Schnee gefallen wäre, kam wieder Leben in ihn. Wie von Sinnen lief er los, rannte die Straße hinunter, die Stadt weit hinter sich lassend, von deren Turm immer noch der warnende Ruf der Glocke Unheil verkündete. Dabei hatte er ständig das Bild einer der Leichen vor Augen, die nicht nur von Pestbeulen übersät war, sondern auch von unzähligen Flohbissen. Jetzt ekelte er sich nicht mehr nur vor den Blutsaugern, er begann auch, sich vor ihnen zu fürchten. Eine von Anselms Vermutungen tauchte in seinem Kopf auf.
‚Die saugen das kranke Blut aus den Körpern, und bei jedem Biss verbreiten sie ein wenig davon im Blut anderer weiter und verderben es‘, hatte er einmal gesagt. ‚Das ist genau so, als wenn einer mit dreckigen Händen eine Wunde versorgt, und das Blut des Patienten vergiftet. Deshalb wäscht sich jeder anständige Heilkundige die Hände, bevor er sich um eine Verletzung kümmert. Aber weil es schwierig ist, einem Floh beizubringen, sich nach jeder Blutmahlzeit das Fresswerkzeug zu waschen, verbreiten sie das kranke Blut weiter und stecken andere damit an.‘
Johannes hätte gerne gewusst, was Bruder Anselm dazu gesagt haben würde, dass er in diesem Augenblick seine Ansicht teilte. Außerdem beschäftigte ihn der Gedanke, weshalb der Henker die Leichen verbrannt, und nicht ordentlich begraben hatte, wie es sich für Christenmenschen gehörte. Wusste er auch um das alles und schützte damit die Leute in der Stadt? Oder beseitigte er auf diese Weise und von den Stadtoberen so angeordnet die unliebsamen Soldaten und Huren, die an dieser Krankheit gestorben waren?
Stunden später erreichte der Junge über das südliche Donauufer eines der Tore von Linz. Er fragte die Stadtwachen nach dem Herrn Astronomen Johannes Kepler, da er sich nicht an den Namen seiner Tante erinnern konnte. Vielleicht wusste der Meister, wo sie zu finden war, wenn er Bruder Anselm so gut kannte, wie dieser ihm erzählt hatte.
Einer der beiden Männer zeigte ihm den Weg zur Rathausgasse, in der Kepler seine Studierstube hatte.
„Es ist schon spät, da wird dir keiner mehr aufmachen“, meinte er. „Falls du ein Quartier brauchst …“
Aber Johannes war schon losgelaufen. Vielleicht schaffte er es ja, den großen Meister noch an diesem Abend zu sehen.
Vergebens.
Die Fensterläden waren verschlossen, und niemand kam an die Tür, um ihm zu öffnen. Johannes musste wohl oder übel erneut Quartier in einem kleinen Wirtshaus nehmen, und den nächsten Tag abwarten. Wenigstens plagten ihn hier nur ein paar Wanzen, die er zwischen den Fingern zerdrückte.
Seine Ersparnisse waren bis auf wenige Kreuzer zusammengeschmolzen. Er brauchte dringend Arbeit.
5
Kepler hatte nach dem Tod des ihm wohl gesonnenen habsburgischen Kaisers Rudolf II. in Linz eine Stelle als Provinzmathematiker angenommen, und wurde 1621 als Kaiserlicher Mathematiker bestätigt. Er war mit den Rudolfinischen Tafeln und den Harmonices mundi libri V, den Fünf Büchern über die Harmonik der Welt, fertig geworden und im Herbst nach Wien gereist, um Geld für den Druck seiner Werke zu sammeln. Erst vor Kurzem war der Meister nach Linz zurückgekehrt, um seine Arbeit als Landesmathematiker wieder aufzunehmen. Außerdem warteten seine Studiosi an der Landschaftsschule darauf, weiter von ihm unterrichtet zu werden. Ganz zu schweigen von den hochherrschaftlichen jungen Männern, denen er privaten Unterricht gab.
Johannes stand am nächsten Tag zitternd vor Aufregung erneut vor dem Haus in der Rathausgasse. Ein Holzknecht humpelte gerade heraus und hielt ihm die Tür auf.
„Der ist nicht gut zu sprechen heut’, der Herr“,