Das Awaren-Amulett. Carmen Mayer

Das Awaren-Amulett - Carmen Mayer


Скачать книгу
die Schurken an einem Balken im Stall aufgeknüpft, mit dem er abgestürzt war, als das Gebäude zusammenfiel. Reste des Strickes hatte er noch um den Hals, als Johannes ihn unter den Trümmern fand. Auch über seinem Leichnam konnte er mangels Schaufel und Hacke nur einen Hügel aus jenen Steinen errichten, die einstmals das Fundament zum Stall einer meckernden Ziege und einer Schar gackernder Hühner gewesen waren.

      Hühner.

      Elisabeths Lieblinge.

      Johannes erstarrte.

      Wo war die Leiche seiner Schwester?

      Er suchte alles ab, räumte Steine zur Seite, grub mit bloßen Händen in der Asche, konnte sie jedoch nirgends finden.

      Hatten die Mörder seiner Eltern das Mädchen mitgenommen?

      Er ahnte, was dann mit ihr geschehen sein mochte, und kotzte sich bei den Bildern in seinem Kopf beinahe die Seele aus dem Leib.

      Warum nur waren sie nicht alle geflohen, als noch Zeit dazu war? Warum hatten sie ihn einen dummen Jungen genannt, als er sie vor dem Haufen verkommener Kreaturen warnte, die er Tage zuvor bereits im Holz auszumachen geglaubt hatte?

      So etwas gebe es nicht, beschied man ihn. Nie hatte man von umherziehenden Mordbrennern im Ennstal oder hier im Tälchen gehört. Räubergeschichten seien das, nichts sonst. Sie glaubten nicht, dass jemand das kleine Seitental der Enns und seine Bewohner für so interessant halten könnte, dass man es überfiel. Jeder wusste, dass es bei den wenigen Bewohnern nichts zu holen gab, also würden sich marodierende Banden nicht hierher verirren.

      Man wusste auch von bairischen Soldaten, die auf der Suche nach ketzerischen Protestanten waren und die unter dem Schutz des Statthalters Adam Graf von Herberstorff hin und wieder plündernd durch das Land ob der Enns zogen. Aber hier im Ennstal wähnte man sich vor ihnen sicher. In diese unwegsame Gegend würden sie nicht kommen. Außerdem stünde das Stift Admont wie ein Schutzschild vor dem Gesäuse, hatte man ihm gesagt.

      Hatte das nicht auch ihr ehemaliger Prädikant Jeremias Mitterer behauptet? Und war er dann nicht über Nacht abgehauen und hatte seine kleine Gemeinde im Stich gelassen?

      Die erhoffte Sicherheit war ein tödlicher Irrtum gewesen.

      Als Johannes aus Admont zurückgekommen war, wohin man ihn zum Bezahlen der fälligen Abgaben geschickt hatte, stand die Mühle seiner Eltern bereits in Flammen. Rauch und Nebel hatten vor dem Jungen verhüllt, was die Mordbrenner angerichtet hatten. Aus Nebel und Rauchschwaden hatte er die Meute brüllen und lachen gehört. Ihm war nur die Flucht in seine Höhle geblieben mit dem Wenigen, das er dabeihatte.

      Zitternd vor Angst um seine Schwester durchsuchte er noch einmal alles so gründlich es eben ging, stieß jeden verkohlten Balken zur Seite, kroch unter eingestürzte Mauerreste. Aber er fand weder sie noch ihren Leichnam. Schließlich wagte der Junge es sogar, in der Asche des Nachbaranwesens zu stöbern, fand dort aber lediglich die teilweise bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Leichen der ehemaligen Bewohner. Er hatte keine Kraft mehr, sie auch noch unter Steinen zu begraben, und überließ ihre sterblichen Überreste dem Schicksal.

      In Johannes glomm ein Funke Hoffnung bei dem plötzlichen Gedanken auf, Jakob habe sich und das Mädchen in Sicherheit gebracht. Immerhin wusste er, wie gern der Freund seine Schwester gehabt hatte. Der hätte trotz seiner grobschlächtigen Art niemals zugelassen, dass ihr ein Leid geschah. Wobei ihn die Zweifel wie Fieber schüttelten, nachdem er die im Feuer teilweise auf Kleinkindgröße zusammengeschrumpelten Körper seiner Nachbarn gesehen hatte. Man hatte sie allem Anschein nach ins Haus getrieben, in dem sie schließlich verbrannten.

      Unmöglich sie auszugraben, herauszufinden, ob es sich bei allen Leichen um seine Nachbarn handelte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie viele auf dem Anwesen waren, als die meuchelnde Bande über sie herfiel, konnte nur ahnen, welches Schicksal sie erleiden mussten, hoffte, dass sie ein schnelles Ende gefunden hatten. Seine Schwester konnte durchaus unter den Toten sein. Vielleicht hatte sie Hilfe holen oder sich bei den Nachbarn verstecken wollen.

      Es war sinnlos, weiter nach ihr zu suchen.

      Johannes stolperte schließlich zum Bach hinunter, um ein wenig Wasser zu trinken und seine wunde Kehle zu beruhigen. Laut heulend sank er zwischen Steinen und Morast nieder, und fühlte nur noch Schmerz und Verzweiflung.

      Warum taten Menschen so etwas?

      Er konnte nicht ahnen, dass er im Laufe der Zeit immer wieder mit solchen Bildern konfrontiert sein würde. Europa stand mitten in den Wirren eines großen Krieges, von dessen Ausmaß sich in jenen Tagen niemand ein Bild zu machen imstande war.

      Kurz vor Einbruch der Dämmerung hatte er sich wieder einigermaßen gefasst. Mit den Händen schöpfte Johannes noch einmal das eiskalte Wasser des Baches und trank davon. Dann reinigte er Gesicht und Hände und überlegte, was er weiter tun sollte. Dabei steckte er die klammen Finger in seine Jackentasche, und spürte durch den dünnen Stoff das Amulett, das einmal seiner Mutter gehört und das er an seiner Hosenschnur befestigt hatte. Er musste es erst gründlich von der schwarzen Kruste reinigen, mit der es überzogen war. Johannes wusste, dass er nicht nur verbrannten Stoff von dem Kleinod wusch. Tapfer schluckte er das Würgen in seinem Hals hinunter.

      Er hatte nie so genau darauf geachtet, was Anna trug. Ein Goldstück wie das, welches er jetzt in der Hand hielt, wäre ihm aber sicherlich aufgefallen, hätte sie es offen getragen. Es war ihm ein Rätsel, woher eine so einfache Frau wie seine Mutter ein so wertvolles Stück haben sollte. Warum hatte sie es nicht verkauft und damit ihre spärlichen Einnahmen aufgebessert? Hatte sie die seltsame Münze tatsächlich als Schutz vor Unheil getragen?

      Er fror vor Erschöpfung und Grauen, und da er außer ein paar Schlucken Wasser nichts zu sich genommen hatte, fühlte er sich nur noch matt und zerschlagen.

      Johannes beschloss, aus der Nähe des ehemaligen Mühlhäusler-Anwesens zu verschwinden, und sich am nächsten Morgen Gedanken darüber zu machen, was weiter zu tun sei.

      Der Hunger trieb ihn zunächst wieder bergwärts zur Hütte des Einsiedlers. Dabei waren alle seine Sinne aufs Höchste angespannt, da er nicht sicher sein konnte, dass die Bande das Tälchen tatsächlich wieder verlassen hatte. Während er am gestrigen Tag aus Richtung Admont gekommen war, mussten sie an der Enns entlang aus Richtung Hieflau heraufgezogen sein, sonst wäre er ihnen begegnet. Oder sie waren vor ihm flussabwärts gezogen und dann in das Tälchen eingedrungen. Oder sie kamen aus dem Süden über die Berge, wohin sie auch wieder verschwanden.

      Die Spuren, die sie zurückgelassen hatten, ließen nicht erkennen, woher sie gekommen und wohin sie gezogen waren, nachdem sie ihr unheilvolles Werk vollendet hatten.

      Die Hütte des Einsiedlers war immer noch unversehrt, stellte er erleichtert fest, als er sie keuchend erreichte. Also waren sie bestimmt nicht bergauf gezogen oder von dort gekommen, sonst hätten sie sich hier vermutlich noch einmal ausgetobt. Oder aber sie waren hier durchgekommen und hatten die Einsiedelei eines katholischen Mönchs nicht antasten wollen. Oder …

      Der Junge erstarrte bei dem Gedanken daran, dass sie Bruder Anselm mitgenommen haben könnten, wenn nicht gar noch Schlimmeres, dass er nämlich mit ihnen kollaboriert hatte. Dagegen aber sprach, wie ordentlich er seine Behausung verlassen hatte.

      Zu viele ungelöste Rätsel, zu viele wirre Gedanken kreisten durch seinen Kopf und ließen ihn nicht zur Ruhe kommen.

      Johannes wagte nicht, Holz zu sammeln und Feuer anzuzünden oder sich länger als unbedingt notwendig in der Hütte aufzuhalten. Eine Nacht blieb er, schlief endlich einen erschöpften Schlaf auf seiner alten Lagerstatt, aus der er immer wieder auffuhr, weil er ein beunruhigendes Geräusch zu hören glaubte.

      Nachdem er sich in der Dämmerung des nächsten Morgens so viel aus dem Keller des Mönchs eingesteckt hatte, dass er gerade mal einen Tag lang etwas zu essen hatte, machte Johannes sich auf den Weg, den Bruder Anselm vielleicht auch genommen hatte: bergauf. Es war eine Möglichkeit, nach Graz zu gelangen, von wo aus der Mönch vor Jahren ins Tälchen gezogen war. Vielleicht war er in sein Kloster zurückgekehrt, und würde dem Jungen


Скачать книгу