Das Awaren-Amulett. Carmen Mayer
überzeugt davon, den Tod des Vaters eines Tages sühnen zu müssen. Auf ihre Weise.
Jetzt hatten sie ihren lang gehegten Plan endlich umsetzen können. Ein Plan, der nicht nur den Raub des awarischen Goldes einschloss, sondern hinter dem noch etwas weitaus Größeres stand. Etwas, das König Karl nicht einmal ansatzweise wissen konnte.
Pippin.
Pippin lag seit einigen Wochen in einem Spital in der Nähe von Rom. Er hatte sich eine üble Verletzung zugezogen, die er dort auskurieren wollte.
Bertulf würde nie wieder von ihm und den beiden Frauen hören.
Er schob seine finsteren Gedanken beiseite. Es galt, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen, nach vorne zu schauen.
Ada würde von seinen Getreuen zu Abt Adalbrand gebracht werden, in dessen Obhut sie und ihre Mutter vor möglichen Nachstellungen des Königs sicher waren.
Karl lebte ohnehin in Glauben und Hoffnung, dass die Familie seines Bruders seit der Einnahme Veronas vor mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr am Leben war.
Aber Karl hatte fürwahr nicht nur Freunde.
Der Prinz würde das für seine Zwecke zu nutzen wissen.
Bertulf richtete sich müde auf und warf einen letzten Blick auf das Kleinod in seiner Hand. Es war das einzige Stück aus dem vergrabenen Schatz, das er zurückbehalten hatte.
Er drückte seine Lippen auf die geheimnisvollen Schriftzeichen, fuhr mit den Fingerspitzen die Konturen des magischen Tieres auf der Vorderseite nach. Er wollte das wundervoll gearbeitete Amulett als Zeichen seiner aufrichtigen Liebe in die Hand der Frau zurücklegen, deren Volk König Karl beinahe ausgelöscht hatte. Mit ihr zusammen und den versprengten Resten dieses Volkes würde er ein Heer aufstellen und gegen den Onkel ziehen. Der sollte dieses Volk nicht umsonst zerschlagen haben wie die anderen Völker, die nur noch in Ausnahmefällen wagten, sich gegen ihn zu erheben. Die Männer, die um die geliebte Fürstentochter noch übrig geblieben waren, würden weitere Verbündete finden und mit ihm zusammen den Mann in die Knie zwingen, der sie in ein gemeinsames Schicksal gedrängt hatte, indem er versuchte, sie mitsamt ihren Familien auszurotten. Mit dem Gold, das Karl den Awaren geraubt hatte, und das er, Bertulf, ihnen eines Tages wieder zurückgab, würde er seine Mitstreiter reichlich belohnen.
Jetzt galt es, die Frau seines Herzens aufzusuchen, die sich mit ihrem kleinen Gefolge in einem Nebental jenes Flusses versteckt hielt, der Enisa genannt wurde. Bislang war er die anerkannte Grenze zu Baiern gewesen. Aber dieses Land war inzwischen, wie so viele andere, in fränkische, in Karls Hände geraten.
Eines Tages würde er zurückkehren und den Schatz heben.
Er würde zusammen mit der awarischen Fürstentochter Grundlage sein für eine neue Welt.
Eine, in der Männer wie Karl keinen Platz hatten.
Es sollte alles ganz anders kommen.
1
Der Regen tropfte schwer von den Bäumen, bildete Rinnsale und kleine Pfützen zwischen den braunen Blättern, und versickerte schließlich leise glucksend im aufgeweichten Waldboden. Dichter Nebel waberte langsam talaufwärts, kroch zwischen Gestrüpp und Felsen immer weiter in den Wald und die schroff aufragenden Felsen hinein und schluckte jedes Geräusch. Modriger Pilzgeruch vermischte sich mit brandigem Gestank, dem Duft der letzten würzigen Kräuter am Gehölzrand und dem Hauch von Angst, der dem Jungen folgte.
Eine ohrenbetäubende Explosion riss ihn fast von den Beinen.
Er wusste, was das bedeutete.
Was es für sie bedeutete.
*
Die Menschen in den kleinen Seitentälern des Geseis, dem wilden Teil der Enns zwischen Admont und Hieflau, hatten sich von der frühherbstlichen Stille noch nie täuschen lassen. Jeder kannte die Vorboten der gewaltigen Herbststürme, die seit Menschengedenken in den Bergen tobten, die an den Hausdächern rüttelten, Mensch und Vieh ängstigten. Stürme, die riesige Bäume wie dünne Reiser umknicken konnten, dass sie krachend über die Felsen herunterbrachen, sich über die tosend zu Tal stürzenden Bäche legten und deren Wasser bedrohlich anstauten.
Die Leute wussten um die strengen Winter, die den stürmischen Herbstwettern folgten, und sorgten bereits in den Spätsommern für trockenes Holz und dafür, dass für den Ernstfall alle Ritzen und Löcher ihrer Häuser zugestopft und dicht waren, dass die Dächer hielten.
Besonders schlimm war der Hunger, der jeden der strengen Winter unweigerlich begleitete, vor allem in den vergangenen Jahren. Missernten hatten Land und Leute ausgezehrt, die Lebensmittel waren oftmals bereits im Sommer knapp – aber im Winter reichte es kaum noch für eine einzige warme Mahlzeit am Tag.
Dazu kam, dass die Steuerlasten erdrückend geworden waren. Schmerzhaft vor allem für die einfachen Leute, für Bauern, Tagelöhner und Handwerker. Der Kaiser brauchte Geld für seine Kriegszüge, das er nicht selbst aufbringen konnte. Seitdem das Land ob der Enns 1620 als Pfand für seine großzügige finanzielle Unterstützung an Herzog Maximilian von Baiern verpfändet worden war, wurden sogar noch Abgaben für den Unterhalt der Besatzungstruppen erhoben. Die Soldaten des bairischen Herzogs hatten das Land förmlich überschwemmt, und quälten die Menschen in jeder denkbaren Weise, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Im Gegenteil.
Kaiser Ferdinand billigte das Vorgehen der herzoglichen Spießgesellen, die seinen Befehl zur Rekatholisierung der überwiegend protestantischen Bevölkerung des Landes unterstützten. Er ließ sie gewähren und hoffte, das widerspenstige Volk auf diese Weise einschüchtern und sich und seinem Willen unterwerfen zu können.
Der Kaiser mochte diesen ungeheuerlichen Kraftakt in weiten Teilen seines Landes zuwege gebracht haben, aber im Land ob der Enns stieß er auf eisernen Widerstand. Die Menschen dort ließen sich nicht vorschreiben, welcher Religion sie angehören sollten.
Katholisch werden? Die Anordnungen des Klerus befolgen, ihrem Fressen, Saufen und Huren zusehen und dafür auch noch bezahlen müssen? Ihren unverständlichen, weil lateinisch genuschelten Predigten lauschen? Beichtzettel an Ostern abholen? Sich bespitzeln, frönen, gängeln lassen von diesem selbstgefälligen, scheinheiligen Gesindel? Niemals!
Noch bissen die Leute im Land ob der Enns die Zähne zusammen und hielten still.
Aber das würde sich bald ändern.
*
Ein kurzes Knacken durchbrach die Stille. Der Junge verharrte erschrocken in geduckter Haltung, angestrengt nach allen Seiten lauschend.
Aber nichts rührte sich.
Johannes hastete vorsichtig und behände wie eine Katze weiter bergan. Er war sich im Klaren darüber, wie gefährlich sein Weg zu dieser Jahreszeit war. Der Boden war mit nassem Laub bedeckt, auf dem man unversehens ausglitt. Er hatte sich oft genug verletzt, wenn er zwischen den Bäumen am Bachufer entlanglief, einem entlaufenen Schaf, einer vorwitzigen Ziege auf der Spur, die sich von den übrigen abgesondert hatten.
Bei einer dieser Gelegenheiten hatte Johannes eine Höhle in einem der steil aufragenden Felsen entdeckt, die den Bergbach begleiteten. Sie war jetzt sein Ziel. Er musste sich beeilen, um rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit zu seinem Versteck zu gelangen.
Keuchend und immer wieder auf allen Vieren vorwärts hastend erreichte er über ein schmales Geröllfeld schließlich den Felsen. Mit klammen Fingern hielt sich der Junge an der unsicheren Steinwand fest, schob sich Stück für Stück nach oben, immer darauf bedacht, mit den dünn beschuhten Füßen festen Halt zu finden. Es gab keine Möglichkeit, auch nur einen Fußbreit unter sich zu erkennen. Er musste sich ganz an den Fels gedrückt aufwärts bewegen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, eine unbedachte Bewegung zu machen und in die Tiefe zu stürzen.
Erschöpft und mit blutenden Händen erreichte er den engen Durchschlupf und ließ sich entkräftet auf den Boden sinken.
Lange Zeit war er unfähig, die schmerzenden Arme und Beine zu bewegen.