Das Awaren-Amulett. Carmen Mayer

Das Awaren-Amulett - Carmen Mayer


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Ärmel über das verschwitzte Gesicht. Jetzt war er zunächst einmal in Sicherheit. Hierher kamen sie heute Nacht nicht, und der Regen, der die nebelig-rauchige Stille abgelöst hatte, würde seine Spuren bis morgen verwischt haben, sollten sie ihm gefolgt sein.

      Er zog sein aus grobem, hellem Wollstoff geschneidertes Hemd fest um sich, knöpfte sein Wams zu und schob seine Hose sorgfältig über die Beine. Dann rollte er sich auf dem Boden zusammen und schlief erschöpft ein.

      Mitten in der Nacht erwachte Johannes frierend. Ein wütender Wind rüttelte in den Kronen der Bäume vor der Höhle. Johannes kroch zum Eingang und lauschte mit angehaltenem Atem in die Dunkelheit hinaus.

      Der Wind trieb erbarmungslos eiskalten Regen vor sich her, den er dem Jungen wie spitze Nadeln ins Gesicht sprühte. Noch immer stank es nach Verbranntem. Johannes spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Er zog sich rasch wieder zurück.

      In der Höhle war es ungemütlich kalt, aber wenigstens trocken. Weil sie zum Eingang hin etwas abknickte, war der Wind nicht allzu sehr zu spüren. Allerdings hatte sich klamme Feuchtigkeit in den Kleidern des Jungen festgesetzt, dass sie ihn kaum noch wärmten.

      Johannes kauerte sich eng zusammen und lauschte zitternd und mit vor Kälte klappernden Zähnen auf das Heulen des Windes. Schlafen konnte er nicht mehr.

      Steif gefroren und benommen rappelte er sich in der Dämmerung des neuen Tages auf und warf einen vorsichtigen Blick hinaus. Nichts rührte sich. Der Wind hatte sich gelegt. Inzwischen schloss erneut dichter Nebel das Tälchen ein.

      Mit eiskalten Fingern nestelte Johannes seinen mitgebrachten Stoffbeutel auf und kippte den Inhalt auf einen flachen Stein. Ein Restchen Brot, ein paar getrocknete Pilze, Apfelringe und ein wenig Käse kamen zum Vorschein: der Rest des Proviants, den er am vergangenen Morgen eingesteckt und nicht aufgegessen hatte. Hastig stopfte er sich das Wenige in den Mund, da er nicht wusste, wann er jemals wieder etwas zu essen bekommen würde.

      Er zog sein feuchtes Wams wieder eng um sich und überlegte, wie es weitergehen sollte. In der Eile hatte er keine Zeit gehabt, sich darüber Gedanken zu machen.

      Plötzlich überkam ihn eine Traurigkeit, die ihm den Hals zuschnürte, dass er glaubte, ersticken zu müssen. Er sank schluchzend auf den Boden und verbarg den Kopf in den Armen. Seine Erinnerung gaukelte ihm vor, wieder zu Hause zu sein, auf seinem Strohlager zu liegen. Das erneut einsetzende Prasseln des Regens draußen verwandelte sich in das Prasseln des Herdfeuers im Hause seiner Familie.

      *

      Der Vater arbeitete, so weit Johannes zurückdenken konnte, als Holzknecht für die Köhlereien in und um Hieflau. Wie die anderen Männer der Passen blieb auch er sechs Tage in der Woche im Holzschlag und kehrte erst am Samstagabend nach Hause zurück. Meistens war es schon reichlich spät, wenn der Vater zur Tür hereinkam. Weil er recht müde und hungrig war, wollte er nur etwas essen, sich gründlich waschen und dann schlafen gehen.

      Ihr Zuhause war eine alte Mühle. Sie stammte noch vom Großvater und war nach dessen Tod an seine Tochter übergegangen. Der Grundbesitz gehörte dem Kloster Admont, und dass Anna mit ihrer Familie weiter dort leben konnte, kostete sie jährlich einen gerade noch akzeptablen Batzen Geld.

      Der Mühle wegen waren deren Bewohner unter dem Hausnamen Mühlhäusler bekannt.

      Das kleine Dorf an der Mündung des Bergbaches in die Enns kannte Johannes gut. Eng zwischen den Fluss und den daran anschließenden Berg eingezwängt, bestand es nur aus wenigen Holzhäusern.

      Jeden Sonntag gingen sie die gute halbe Stunde hinunter in die kleine protestantische Kirche: Johannes, der Vater, die Mutter und Johannes’ kleine Schwester Elisabeth. Jeremias Mitterer, ein konvertierter Mönch aus dem Kloster Admont, hatte sich dort eine kleine Prädikantenstelle eingerichtet. Er wurde von seiner protestantischen Gemeinde vor allem deshalb geschätzt, weil er noch immer gewisse Verbindungen pflegte, durch die er seine Schäfchen über die wichtigsten Veränderungen im Land auf dem Laufenden halten konnte.

      Johannes’ Mutter Anna war zwar streng, was die täglichen Dinge betraf, darüber hinaus jedoch sehr liebevoll und niemals laut. Schon gar nicht bediente sie sich zur Bekräftigung ihres Willens der Flüche und Ausdrücke, die Johannes von anderen Weibern kannte.

      Die Mutter unterschied sich ohnehin in vielen Dingen von den anderen Frauen seiner Umgebung. Sie war von zierlicher Gestalt, hatte trotz der täglichen Mühsal einen auffallend aufrechten Gang, ein rundes Gesicht und große, klarblaue Augen, die in aufregendem Kontrast zu ihren dichten, dunklen Haaren standen.

      Johannes war nur zwei Jahre älter als die Schwester, aber er hatte sich um sie gekümmert, seit er denken konnte. Manchmal neckte er sie damit, dass er sechs Tage in der Woche den Vater ersetzte. Was seiner Meinung nach bedeutete, dass sie ihm ohne Widerspruch zu gehorchen hatte. Elisabeth bekam dann jedes Mal einen wutroten Kopf, dass ihre braunen Zöpfe wie kleine Mäuseschwänzchen abstanden, und ihre wasserblauen Augen wie zwei große, funkelnde Edelsteine aussahen.

      Der Junge hatte niemals in seinem Leben einen Edelstein gesehen. Er kannte sie nur aus Geschichten, die er während der Jahrmärkte von den umherziehenden Gauklern hörte, welche ihre Erzählungen mit Bildern und Musik begleiteten. Da sah er dann die schönsten Frauen und die tapfersten und berühmtesten Männer der Welt auf bunte Tafeln gemalt. Die Damen auf diesen Bildern trugen edles Geschmeide und wunderschöne Kleider, die Männer die feinsten Hemden unter einem bestickten Wams, bunte Hosen und kniehohe Stiefel. Johannes kümmerte es nicht, welches Schicksal sie ereilt oder welch unfassbares Glück oder Unglück sie getroffen hatte. Er nahm nur die Bilder wahr und träumte seine eigenen Geschichten hinein.

      Elisabeth war eine richtige kleine Persönlichkeit, soweit es die ‚gute Ordnung‘ zuließ. Manchmal schon hatte der Herr Prädikant Jeremias Mitterer die Mutter gescholten, weil sie der Kleinen durchließ, Dinge infrage zu stellen, die zum Donnerwetter noch mal von keinem Frauenzimmer infrage zu stellen waren. Weiberleute seien dazu da, sich dem Manne zu unterwerfen („Schon in der Bibel steht es: Der Kopf der Frau sei ihr Mann! Sie sei ihrem Manne untertan, wie auch der Körper unter dem Kopfe stehe und nicht umgekehrt!“), sich um ihn, seine Kinder, sein Heim und das Wohl der Familie und um sonst gar nichts zu kümmern. Sie hätten Kinder zu gebären und großzuziehen, aber nicht das Recht, dauernd Fragen zu stellen, die nicht einmal die Männer stellten. Wohin kämen wir denn, wenn alle Weiber sich so aufführten? Hoffärtige und neugierige Weiber seien dem Herrn, dem Allmächtigen, ein Gräuel!

      „Glaubt Ihr wirklich“, fragte die Mutter einmal ungerührt zurück, „der Herrgott hätte unsere Elisabeth so geschaffen, wie sie nun mal ist, wenn er es anders lieber gesehen hätte?“

      „Solche Frauensleute sind erschaffen worden, um Seine Herde zu prüfen“, antwortete der Prädikant stirnrunzelnd.

      „Hat nicht sogar unser Herr Jesus eine Frau neben sich geduldet, die kein unbescholtenes Leben führte?“, fragte die Mutter zurück.

      „Nun, wir alle wissen, dass nicht nur unser Herrgott, sondern auch sein Widersacher …“

      „Den hat doch wohl auch unser allmächtiger Herrgott erschaffen, oder etwa nicht?“, hielt die Mutter dagegen.

      Jeremias Mitterer holte mehrmals tief Luft und ließ sie dann grollend stehen.

      Betrachtete sich Johannes im Wasserspiegel seiner Waschschüssel, konnte er kaum Ähnlichkeit zwischen sich und den beiden Weiberleuten finden, dafür aber umso mehr zum Vater, dessen Gesichtszüge sich Jahr für Jahr deutlicher im Antlitz des Sohnes erkennen ließen. Beide hatten sie braune Augen unter buschigen Brauen in einem schmalen Gesicht mit langer Nase. Ihre Haare waren glatt und dunkel, ihr Mund schmal. Sie waren nicht sehr groß, dafür kräftig gewachsen und mit zäher Ausdauer gesegnet.

      Was seine Schwester betraf, so würde er dafür sorgen, dass sie nicht hierbleiben musste. Sie sollte keinen der Burschen aus dem Tälchen oder vom Dorf unten an der Enns zum Manne nehmen müssen, der ihr jedes Jahr ein Kind machte, das wiederum höchstens ein halbes Jahr alt werden würde. Ein Mann, der nicht genug Geld verdiente, um sie anständig einkleiden zu können, oder der sie und ihre Bälger sogar hungern lassen musste.

      Nein.


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