Das Awaren-Amulett. Carmen Mayer

Das Awaren-Amulett - Carmen Mayer


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auch nicht ständig mit einem dicken Bauch herumlaufen müssen wie die Schwestern seines Freundes Jakob. Kaum einer ihrer Säuglinge lebte länger als ein paar Wochen, und trotzdem liefen wenigstens ein Dutzend rotznasiger, plärrender Bälger auf dem Hof herum, von dem keiner so recht zu wissen schien, wem er denn nun eigentlich gehörte.

      Wenn Johannes beim Nachbarn auf dem Hof war, um die Ziegen abzugeben, die er für ihn gehütet hatte, machte er jedes Mal, dass er schnell wieder fortkam. Der Alte hatte schon einmal im Rausch versucht, ihn windelweich zu prügeln, weil angeblich seine Lieblingsziege dürrer nach Hause gekommen sei, als er sie ihm anvertraut habe. Johannes entkam ihm nur deshalb, weil sein Freund Jakob den dicken Ziegenbock auf den Vater gehetzt hatte, der diesem mit gesenktem Kopf einen so deftigen Stoß gegen die Rippen versetzte, dass der Alte wie ein nasser Sack umfiel und im Dreck lag. Dort schlief er sofort röhrend wie ein brunftiger Hirsch ein.

      Einmal erwischte Johannes ihn im Schafstall dabei, wie er sich besoffen und mit offenem Hosenladen an seiner ältesten Tochter zu schaffen machte, die er zuvor grün und blau geprügelt hatte.

      „Was stierst du mich so an, du Hurensohn?“, hatte er ihn mit glasigen Augen angeschnauzt, ohne von dem armen Mädchen abzulassen, das er grob an eine der Stallwände drückte. „Die ist so gut wie jede andere auch. Dafür sind sie doch da, die Weiber! Darauf kommst du schon auch noch.“

      Johannes hatte sich voller Entsetzen abgewandt und war vom Hof gerannt, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her.

      Unten am Wasser stieß er auf Jakob, der mürrisch Steine in den Bach warf.

      „Er ist der leibhaftige Satan!“, schrie Johannes ihm von Weitem zu. „Weißt du, was er deiner Schwester angetan hat?“

      „Der Alte?“ Jakob zuckte die Schultern. Dann drehte er sich um und packte den atemlos vor ihm stehenden Johannes unvermittelt an dessen Hemd. „Ich werde zu den Söldnern gehen. Beim nächsten Jahrmarkt lasse ich mich von den Werbern mitnehmen!“, schrie er. „Die nehmen jeden, der nur will.“

      „Was willst du denn bei den Söldnern?“, fragte Johannes entsetzt. „Die nehmen doch keine Kinder!“

      „Ich bin elf Jahre alt!“, hielt Jakob dem Freund wütend entgegen.

      Johannes schwieg und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.

      „Die Kerle sind auch nicht besser als dein Alter“, sagte er schließlich, weil ihm nichts weiter einfiel.

      Jakob schob die Unterlippe vor. Der Rotz lief ihm herunter und sein Gesicht war völlig verschmiert und verschwollen.

      Längere Zeit schwiegen die beiden Jungen. Johannes hoffte, das alles sei lediglich dummes Zeug, das der Freund jetzt nur sagte, um von seiner eigenen Situation abzulenken.

      Das war lange her, und vieles war inzwischen geschehen. Johannes konnte damals nicht ahnen, unter welchen Umständen er den Freund eines Tages verlieren würde.

      Johannes rieb sich fröstelnd Arme und Beine und hoffte, dass sie auf diese Weise wieder warm würden. Aber die Kälte war tief in ihn hineingekrochen und saß so fest, dass seine Zähne klapperten. Er schüttelte die Gedanken an das Vergangene ab. Das war ein für alle Mal verloren. Er würde nichts davon zurückholen können.

      Seine Erinnerungen stimmten ihn unendlich traurig. Doch noch weitere Gedanken quälten ihn.

      Wenn er in der Mühle geblieben wäre …

      Vielleicht hätte er das Unglück verhindern können.

      Vielleicht wäre er jetzt tot wie die anderen.

      Er war hier.

      Er hatte sie im Stich gelassen.

      Er war ein elender Feigling.

      Noch einmal ging er zum Höhleneingang, versuchte, das feuchtkalte Weiß davor mit allen Sinnen zu durchdringen – vergebens. Nur das Tropfen von den Bäumen war zu hören, deren Kronen bis zum Eingang der Höhle heraufragten, sonst nichts.

      Als er nach einem mühsamen Abstieg den schmalen, steinigen Weg erreicht hatte, der entweder nach rechts den Berg hinauf zur Hütte eines Einsiedlers oder nach links talwärts zur Mühle führte, zauderte er einen Augenblick, welche Richtung er einschlagen sollte. Nach unten zur Mühle oder nach oben zur Hütte?

      Was auch immer sein Verstand ihm einzuflüstern versuchte: Etwas zwang ihn, sich nach links zu wenden und bergab zu laufen. Er glaubte, das Klappern des Mühlrades zu hören, und blieb mehr als einmal lauschend stehen, weil er Stimmen zu vernehmen meinte.

      Es war jedoch weder jemand zu sehen noch deutlich zu hören.

      Aber es war noch immer etwas zu riechen.

      Es roch nach verkohltem, feucht gewordenem Holz.Nach kaltem Rauch. Nach …

      Tränen stiegen ihm in die Augen, liefen die blassen Wangen hinunter. Seine Beine bewegten sich mechanisch. Er spürte weder die Steine unter den dünnen Sohlen noch kümmerte er sich darum, dass er mehrmals rutschte und fast gefallen wäre. Je näher er der Mühle kam, umso deutlicher drang ihm der unverkennbare Geruch in die Nase, der ihm sagte, was er vorfinden würde.

      Da war die Weggabelung. Der Fußweg traf in spitzem Winkel auf einen Ochsenweg, und genau gegenüber begann das Anwesen der Nachbarn.

      Johannes verharrte einen Augenblick lauschend, konnte aber nichts mehr hören. Kein Klappern. Keine Stimmen.

      Der Nebelschleier hatte sich etwas gehoben und gab den Blick frei auf das Nachbargrundstück. Der Junge erstarrte. Das verkohlte Gebäude sah aus wie das vermodernde Gerippe eines verendeten Tieres. Der Zaun, der das Grundstück zum Weg hin begrenzt hatte, grinste ihn an wie eine lückenhafte Zahnreihe.

      Johannes lief weiter wie in Trance, erreichte das schief in den Angeln hängende Tor zum Anwesen der Mühle und sah im selben Augenblick, dass es sie nicht mehr gab. Man hatte Feuer gelegt, das Mehl war explodiert, hatte die Mauern gesprengt, die Steine ringsum verstreut, das Holz bersten lassen.

      Der laute Knall vom gestrigen Abend.

      Das Klappern, das ihn den Weg herunter begleitet hatte, kam von lose hängenden Balken, die sich hin und wieder im Wind bewegten.

      Er stand reglos da und nahm nur schemenhaft in sich auf, was der Nebel ihn sehen ließ. Aber es reichte, um ihn wie einen Blinden taumelnd den Weg zurücklaufen zu lassen, den er zuvor gekommen war.

      Johannes erreichte die Hütte des Einsiedlers, ohne richtig zu wissen, wie. Anselm war nicht da, das konnte er sofort sehen, weil der Laden vor dem einzigen Fenster lag und kein Rauch aus dem kleinen Schornstein quoll. Da der Mönch öfter für einige Zeit verschwand, war das an und für sich nichts Außergewöhnliches.

      Sein Instinkt ließ Johannes jedoch zunächst einen Bogen um die Hütte schlagen und den Felsenkeller suchen, in dem Bruder Anselms Vorräte sein mussten. Ja, er hatte auch Hunger. Aber mehr noch als das hatte er Angst. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er panische Angst. Deshalb wagte er auch nicht, in der Hütte zu übernachten, wo sie ihn sehr schnell fänden, wenn sie nach ihm suchen sollten.

      Er verkroch sich in Anselms Vorratskeller, ohne die bereithängende Laterne anzuzünden. Dort verharrte er lange Zeit beinahe regungslos, bis er sicher sein konnte, dass niemand ihm gefolgt war. Dann erst begann er, vorsichtig tastend nach etwas Essbarem zu suchen.

      Was er fand, hätte für längere Zeit ausgereicht, aber er konnte keinen Bissen hinunterkriegen.

      So lehnte er sich gegen die gepolsterte, mit Rupfensäcken verhängte Steinwand und heulte hemmungslos.

      Nach einer endlos scheinenden Zeit drückte er vorsichtig die Luke auf, die sein Versteck nach oben abschloss, und warf einen prüfenden Blick hinaus. Es dämmerte bereits. Der Nebel hatte sich verzogen. Der Wind war stärker geworden und trieb kalten Regen fast waagerecht vor sich her.

      Aufmerksam beobachtete er die Hütte des Einsiedlers und die Umgebung bis zum Waldrand, bevor er sich aus seinem Unterschlupf


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