Das Awaren-Amulett. Carmen Mayer
noch?“, fragte der Vater barsch.
„Alles, was du mir beigebracht hast, Vater“, versuchte es der Junge vorsichtig weiter.
„Du gehst zu ihm“, antwortete der Vater bestimmt. „Ich dulde keinen Widerspruch.“
Der Gedanke, von einem Katholischen etwas lernen zu müssen, das so gar nicht in seine protestantische Welt passen wollte, schien Johannes ungeheuerlich. Mochte er den Einsiedler noch so wertschätzen und mögen – das hier war etwas völlig anderes.
„Wann soll ich denn gehen?“, fragte er vorsichtig einlenkend, als er sah, dass Widerspruch keinen Sinn hatte.
„Nach Pfingsten.“
„Nach Pfingsten? Im Mai? Vor dem Sommer? Ich dachte … Sollte ich nicht …“
Sein Vater fasste ihn fest an den Schultern. Sein Blick ließ den Jungen verstummen.
„Nach Pfingsten“, wiederholte er.
So packte Johannes Mitte Mai des Jahres 1622 sein Bündel und verließ das elterliche Haus.
Von Elisabeth verabschiedete er sich, als er sie beim Hühnerfüttern traf. Er zog sie neckend an den Zöpfen, dass sie ihn verärgert wegstieß.
„Ich bin froh, dass du endlich gehst“, rief sie und schlug mit der flachen Hand auf seine Brust. Dann drehte sie sich um und lief davon, um sich hinter dem Haus auszuheulen.
„Mach’ dir keine Sorgen, Johannes“, sagte die Mutter zum Abschied. „Vater wird zum Frühsommer seine Arbeit im Holzschlag aufgeben und hierbleiben. Die Bauern haben gesagt, dass sie wieder einen Müller haben wollen. Deshalb werden wir die Mühle herrichten und versuchen, den Betrieb deines Großvaters wieder aufzunehmen. Wir haben gestern die Erlaubnis des Pflegers aus Admont bekommen, der für das Tälchen zuständig ist.“
„Ist das wahr?“ Johannes schaute seine Mutter überrascht an. Dann kam ihm der scheinbar rettende Gedanke. „Braucht Vater denn keinen starken Burschen, der ihm dabei behilflich ist?“
„Doch, den braucht er. Du kannst im Spätherbst wieder herkommen und ihm zur Hand gehen – du bist ja nur eine Wegstunde von uns entfernt.“ Sie küsste ihn auf die Stirn.
Johannes ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Einerseits wusste er jetzt, warum seine Eltern sich für diesen Zeitpunkt entschieden hatten, um ihn in die Obhut des Mönchs zu geben: Über den Sommer gab es keine Arbeit für ihn, wenn er nicht gerade die Ziegen der Nachbarn hüten wollte. Im Holzschlag brauchte man ihn über die Sommerzeit auch nicht.
Andererseits haderte er mit seinem Schicksal. Ein Lutherischer, der bei einem katholischen Mönch in die Schule ging! Was wollte ihm der denn beibringen, das ihnen allen nützlich sein konnte? Beten vielleicht? Psalmen herunterleiern? Eine ungeheuerliche Vorstellung.
Aber er musste sich der Entscheidung seiner Eltern fügen, auch wenn er sie nicht verstand.
Johannes wusste, am meisten würde er Elisabeth vermissen – und mit Sicherheit auch ein wenig die Mutter.
Er war heilfroh, dass der Vater zu Hause war.
*
Das, was Bruder Anselm als sein Zuhause bezeichnete, bestand aus einer alten, vom Wetter silberblank gegerbten Holzhütte, die der Mönch sehr sorgfältig in Ordnung hielt. Johannes konnte die neu eingefügten Hölzer erkennen, die der Einsiedler im Laufe der Jahre gegen brüchig gewordene ausgetauscht hatte. Sie waren allesamt roh belassen, nur die Rinde war entfernt worden. In die Fugen hatte Bruder Anselm Moos und Erde gestopft, und dann sauber mit einem dunklen Brei unbestimmter Zusammensetzung zugeschmiert.
Es war also nicht so, dass der Alte sich nur mit geistigen Dingen beschäftigte. Er war offenbar auch handwerklich begabt und kannte sich mit weitaus mehr aus, als Johannes geglaubt hatte.
In der Hütte gab es einen einzigen Raum mit zwei Strohlagern, die neu aufgeschüttet und mit frischem Tuch bezogen worden waren. An der Wand gegenüber dem Eingang befanden sich Borde mit etlichen Büchern, die reichlich mitgenommen aussahen. Einige größere und kleinere Töpfe und Pfannen hingen sauber geputzt und aufgereiht an der Wand neben dem Herd, über dem eine grob geschmiedete Esse den Rauch ins Freie abführte. Daneben stand ein Tisch mit drei Hockern. Ein Holzverschlag diente als Schrank, in dem der Einsiedler seine paar Habseligkeiten aufbewahrte. Ein weiteres Bord war vollgestellt mit tönernen Trinkbechern und Krügen, Tellern, Schüsseln, verkorkten Flaschen und etlichen Tiegeln.
Bruder Anselm hieß seinen Schüler, sich zu setzen, nachdem er ihn freudig begrüßt hatte. Zuerst briet er für sich und den Jungen zwei dicke Streifen Speck und ein paar Eier in einer Pfanne, die er zusammen mit einem halben Laib Brot und einem Topf dampfender Gemüsesuppe auf den Tisch stellte. Dann sprach er einen Segen, und legte Johannes die Hälfte des Speckgerichtes auf ein Holzbrett. Ein erstaunlich üppiges Mahl für einen Einsiedler.
„Mein letzter Speckvorrat“, sagte Anselm schmunzelnd, als er Johannes’ erstaunten Blick sah. „Hat mir ein Bauer gegeben, dessen Frau ich behandelt habe. Hatte sich bei einem bösen Sturz die Schulter ausgerenkt und eine Rippe gebrochen. Nimm dir von der Suppe, so viel du magst.“
Sie tranken Wasser aus einem Krug, den die Mutter Bruder Anselm einmal mitgegeben hatte. Er brachte dem Jungen plötzlich in Erinnerung, dass er zum ersten Mal in seinem Leben für längere Zeit nicht unter dem Dach seiner Eltern nächtigen würde. Überrascht stellte er fest, dass ihn nur der Gedanke an Elisabeth und ihr Wohlergehen beunruhigte. Um die Eltern war ihm nicht bang.
In den kommenden Wochen lernte der Junge neben den praktischen Dingen, die der Mönch ihm zeigte und die vom Brotbacken in einem aus groben Feldsteinen sorgfältig errichteten kleinen Backhaus über das Zubereiten von einfachen Mahlzeiten reichten, auch flüssig und fehlerfrei zu lesen und zu schreiben. Dazu bediente sich der Einsiedler seiner zerlesenen Bücher und eines Stücks Schiefer, auf das Johannes mit ungelenker Hand Buchstabe für Buchstabe kritzelte, bis er schließlich mühelos kurze Passagen aus der Bibel lesen und abschreiben konnte.
Ganz anders als Jeremias Mitterer, der ehemalige Lehrer und Prädikant unten im Dorf, legte der Mönch viel Wert auf eine saubere Schreibweise, und ließ seinem Schüler nicht den kleinsten Fehler durch.
Nebenbei lernte Johannes noch Latein, da der Mönch selbstverständlich nicht die übersetzte Bibel der Lutheraner, sondern die einzige von der katholischen Kirche autorisierte Version in der lateinischen Fassung besaß.
Bruder Anselm freute sich insgeheim darüber, wie leicht seinem Schüler das Lernen fiel, womit sich seine lange gehegten Vermutungen in dieser Richtung vollkommen bestätigten.
*
Der Blick des Jungen fiel wieder auf den golden schimmernden Anhänger seiner Mutter. Ihrem Grab oder gar Leuten etwas zu überlassen, die heraufkommen und die Ruine nach Brauchbarem durchsuchen würden, erschien ihm noch unwürdiger, als das Schmuckstück mitzunehmen und später zu entscheiden, was damit geschehen sollte.
„Verzeih mir, Mutter“, flüsterte er in Tränen aufgelöst und nahm ihr die Münze vorsichtig ab. Sie musste an einem Stoffband befestigt gewesen sein, das sich in die Haut eingebrannt hatte, wie auch die Münze selber, die er nur mit Mühe von der verkohlten Haut lösen konnte. Vermutlich hatte die Mutter sie als Amulett benützt, um sich vor Unheil zu schützen, wie das manche Menschen hin und wieder machten, mutmaßte der Junge. Dann hatte sie ihr allerdings wenig genützt.
Johannes setzte sich mit dem seltsamen Schmuckstück in der Hand mitten in die Reste dessen, was einmal sein Heim gewesen war, und starrte wieder vor sich hin. Die Welt stürzte über ihm zusammen. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, auf der Hut vor denen zu sein, die das alles angerichtet hatten und sich womöglich noch in der Nähe befanden. Im Gegenteil. Scham überfiel ihn, nicht mit seiner Familie unter den Trümmern begraben zu liegen.
Er nestelte die Münze an eine Schnur, die seiner Hose Halt gab, und verbarg beides unter seinem Hemd.
Nachdem Johannes Stein auf Stein über der Toten aufgeschichtet hatte, suchte er die Ruine nach den