Das Awaren-Amulett. Carmen Mayer
Stadtmauer Quartier, was er bereits nach wenigen Stunden bereute. Nach einem einfachen Mahl hatte er sich in die ihm zugewiesene Kammer über dem Ziegenstall zurückgezogen, und zum ersten Mal in seinem Leben erfahren, welche Qualen ein verlaustes und von Flöhen besiedeltes Nachtlager bereiten konnte.
Als er nach einem Badehaus fragte, erntete er Hohnlachen. Badehäuser, so erfuhr er, gab es in Enns nicht. Dafür hätten die Katholischen gesorgt, die, um die Moral ihrer Schäflein besorgt, alle Einrichtungen dieser Art geschlossen hatten.
„Die Katholischen?“, fragte Johannes ungläubig. „Ich habe gehört, diese Stadt sei eher protestantisch?“
Der Wirt, an den diese Frage gerichtet war, lachte erneut laut auf.
„Da hast du was Falsches gehört. Enns war eher protestantisch“, gab er zurück. „Die Zeiten ändern sich. Aber wenn dir der Sinn nach Reinlichkeit steht, versuch es doch mal mit der Enns!“
Johannes schüttelte angewidert den Kopf. Er hatte gesehen, wie viel Unrat auf den Wogen des Flusses schwamm, den er an seinen Ursprüngen als klares, sauberes Gewässer kannte. Außerdem war das Wasser der Enns so kalt, dass der Fluss an vielen Stellen zugefroren war.
Also ließ er sich einen Schapf warmes Wasser auf seine Kammer bringen und reinigte seinen geplagten Körper, so gut es ging. Betrübt dachte er an die Vorräte an Salben und Tinkturen, die Bruder Anselm aus seiner Hütte mitgenommen hatte, und die er jetzt so gut hätte brauchen können.
Außerdem musste er feststellen, dass die blutrünstigen Biester sich auch in seinen Kleidern eingenistet hatten. Es schien beinahe unmöglich, sie wieder loszuwerden.
„Das liegt an den geistlichen Unwürdenträgern, die den Menschen eine gründliche Körperreinigung verbieten“, fluchte er, nachdem er Wams und Hose gründlich ausgeschüttelt und wieder übergezogen hatte. Wehmütig dachte er an das wohltuende Bad im Zuber seiner Mutter zurück, die sehr auf Sauberkeit bestand. Wie recht sie damit gehabt hatte, wurde ihm nach dieser Nacht erst so richtig bewusst.
Anderntags suchte er einen Händler auf, bei dem er sich neu einzukleiden gedachte. Die Ennser Waschweiber, zu denen ihn der Wirt geschickt hatte, beschieden ihn mit der Auskunft, erst am übernächsten Tag wieder Lauge anzusetzen und zu waschen. Das dauerte dem Jungen zu lange.
„Kannst du bezahlen?“, war die erste Frage des Mannes, der ihn bereits beim Betreten des düsteren Ladens argwöhnisch von oben bis unten gemustert hatte.
Johannes nickte nur und suchte sich ein Hemd, eine Hose, Strümpfe und eine Felljacke aus dem Angebot des mürrischen Händlers aus. Er feilschte erfolgreich um den Preis, den der Alte für seine Ware haben wollte, und verließ mit seinen zum Bündel zusammengeschnürten verlausten Kleidern unter dem Arm dessen Haus.
Bei einem Apotheker erstand er eine Salbe, die den Juckreiz auf seiner Haut beruhigen und die Entzündungen heilen sollte. Er trug sie gleich vor Ort auf, weil ihm bewusst war, wie übel sein Zustand werden konnte, wenn er die Stellen aufkratzte. Der Apotheker beobachtete ihn dabei kopfschüttelnd. Was für ein Aufhebens dieser Kerl machte wegen der paar Flohbisse!
Zu seinem Quartier kehrte Johannes nicht mehr zurück. Er befürchtete, die dort lebenden Quälgeister kröchen in seine neuen Kleider und brächten ihm erneut Kummer. Also suchte er ein anderes Gasthaus, in dem er nächtigen wollte. Er fand auch eines in der Nähe des Stadtturms, und bezog seine Kammer, nachdem er sie gründlich nach Spuren seiner kleinen Erzfeinde abgesucht hatte.
„Flöhe, Läuse und Wanzen findest du bei uns nicht“, hatte ihm die Wirtin gesagt, als er danach fragte. „Wir räuchern jede Woche alle Kammern aus.“
Für diesen Dienst verlangte sie auch einen deutlich höheren Preis als der Wirt in Johannes’ letztem Quartier. Der Junge überschlug seine Barschaft und beschloss, diese Nacht noch in Enns zu bleiben. Am nächsten Tag wollte er nach Linz weiterziehen, zunächst seine Tante aufsuchen und nach Arbeit zu suchen.
Als er am anderen Morgen die Hauptstraße entlang Richtung Westtor lief, durch das er die Stadt verlassen wollte, läuteten die Glocken vom Stadtturm. Eine schreiende Horde Menschen kam hinter ihm her und zwang ihn an eine Mauer gedrückt abzuwarten, bis der Weg wieder frei sein würde.
„Der Schwarze Tod!“, kreischte eine der Frauen, die in dem Pulk mitlief. „Rettet euch! Betet zum Herrn um Vergebung! Tut Buße! Der Schwarze Tod geht um!“
Weitere Stimmen fielen in ihr Geschrei ein.
Dem Haufen aufgeregter Bürger folgte eine klapprige Karre, die zwei stämmige Mannsbilder zogen. Ein Dritter schob sie von hinten an.
Es war der Henker mit seinen beiden Knechten, die sich mit ihrer Fracht einen Weg aus der Stadt bahnten.
Auf der Pritsche erkannte Johannes mehrere Leichen. Eine Hand ragte unter einem zerschlissenen Tuch hervor und hätte ihn beinahe gestreift. Die Finger dieser Hand waren schwarz und stanken faulig. Als Johannes einen weiteren Blick auf die Toten erhaschen konnte, wurde ihm schwindelig: Alle hatten schwarz verfärbte Beulen und teilweise in Fäulnis übergehende Gliedmaßen. Ein ekelerregender Gestank begleitete die Toten.
„Verschwindet!“, rief einer der Männer, die den Karren zogen. „Seid ihr verrückt geworden? Das sind Pesttote! Geht weg, steckt euch nicht an!“
„An Toten anstecken?“, keifte eines der Weiber, das vor dem knarzenden Gespann hergelaufen war. „Wie soll das denn gehen?“
Irres Gelächter begleitete ihre weiteren Worte, die im allgemeinen Lärm untergingen. Schon tauchten Stadtknechte auf, die sie in die angrenzenden Gassen zurückdrängten.
Die Pest war in Enns ausgebrochen! Johannes erkannte, dass es für ihn nur eine Möglichkeit gab: Er musste diese Stadt so schnell es ging verlassen.
Da scholl aus einer der Gassen ein Ruf an sein Ohr, der drohte, das Blut in seinen Adern gefrieren zu lassen. Eine Frauenstimme kreischte: „Verbrennt die Hexe zusammen mit ihren Opfern! Die Haußlerin hat die alle auf dem Gewissen, die böse Hex’! Fangt sie und verbrennt sie!“
Andere fielen in ihr Geschrei ein. Die Leute kamen ungeachtet der weiterhin um Ordnung bemühten Stadtknechte aus den Gassen zurück. Sofort bildete sich eine neue Menschentraube, und die Wachleute hatten Mühe, sie im Zaum zu halten. Johannes stieß und schob sich, so schnell er konnte, zum westlichen Stadttor. Durch den Tumult, der nach dem Aufschrei in den Gassen von Enns entstanden war, achtete niemand auf den Jungen, der sich an den Torwächtern vorbeidrückte. Ihm schoss die Hoffnung durch den Kopf, irgendwo eine Badestube zu finden, in der er sich von dem Unheil befreien konnte, das seit dem ersten Abend in Enns an ihm zu haften schien. Was für ein irrer Gedanke angesichts dessen, was er in den letzten Minuten erlebt hatte, zumal er doch wusste, dass es weit und breit keine Badestuben gab. Nur: Wie das alles loswerden, was ihn und die Bürger dieser Stadt mit Krankheit und Gestank überschwemmt hatte, wenn nicht mit viel Wasser?
Feuer.
Guter Herrgott.
Nicht mit Feuer!
Ein kleiner Teil der Meute war zusammen mit der Leichenkarre ebenfalls zum Stadttor geeilt. Dort verharrten sie schweigend, während die drei Männer mit ihrer grausigen Fracht weiterzogen.
Der weitaus größere Teil der Ennser hatte sich um die keifende Bürgerin geschart, die lauthals den Feuertod für die angebliche Hexe forderte. Immer lauter wurde das Geschrei des Pöbels, immer größer wurde ihr Zulauf. Die Stadtknechte hatten viel Mühe, die Leute davon abzuhalten, das Haus der Hebamme zu stürmen und sie herauszuzerren.
Johannes hatte die Stadt hinter sich gelassen. Er blieb atemlos am Rand der Straße stehen, die aus Enns Richtung Linz führte. Ursprünglich hatte er über die ein wenig marode gewordene Brücke zum linken Donauufer wechseln und die von Händlern gut befahrene Haudererstraße über Mauthausen nach Linz nehmen wollen. Aber nachdem er die Stadt auf dem schnellsten Weg hatte verlassen wollen, befand er sich auf dem unbefestigten Weg nach Asten. Fassungslos sah er zu, wie der Henker und seine Knechte die mit den fünf entstellten Leichen beladene Karre zu einem aufgerichteten Scheiterhaufen in seiner Nähe brachten. Die Männer kippten