Verbrechen und Wahrheit (eBook). Alex Marzano-Lesnevich
werden wir ein neues Zuhause haben. Das Haus wird von seiner Vergangenheit befreit sein.
Es gibt nur eine größere Straße, die nach Tenafly führt. Sie beginnt auf der anderen Seite der Stadt und schlängelt sich in gemächlichen Windungen einen großen Hügel hinab. Dort sind die Straßenränder begrünt und lassen den Bäumen daneben Platz, sich gähnend auszustrecken. Jenseits der Baumkronen breiten sich große Anwesen mit sorgfältig gepflegten Gärten, säulenbestückten weißen Häusern und schmiedeeisernen Toren aus. Winzige Steinbrücken führen über künstlich angelegte Bäche.
Die Straße verengt sich. Das Gebäude der ehemaligen High School beherbergt jetzt ein Bestattungsunternehmen, die Klassenzimmer sind zu Schauräumen geworden. Daneben ist die katholische Kirche. Direkt dahinter liegt eine alte Bahntrasse. Die Züge sind schon Jahrzehnte, bevor wir hierhergezogen sind, nicht mehr durch die Stadt gefahren; zu dem Zeitpunkt, als ich meinen Collegeabschluss mache, werde ich die Metamorphose des einstigen Bahnhofs zu einem Zeitungsladen, dann zu einem Frisör, dann zu einem Café, in dem Sandwiches für zehn und Kaffee für vier Dollar serviert werden, miterlebt haben. Aber jetzt als Kind kann ich nur den Atem anhalten, als die Autoreifen kurz an den Schienen hängen bleiben. Dann berühre ich mit dem Finger das feste Glas der Fensterscheibe, damit die Geister keine Lücke finden in meiner Verbindung zur Welt, keinen Weg, um in sie einzudringen.
Die Schienen lassen das Auto los, und von hier ab verändert sich das Gesicht der Stadt, wird enger. Ein einsames Apartmenthaus mit winzigen Wohnungen, unpassend für einen Ort, der so offensichtlich für Familien gedacht ist. Ein einzelner Magnolienbaum steht dort auf dem Rasen, und seine blassen, hängenden Blüten wirken im Kontrast zu den Eichen und Ulmen des Nordostens exotisch und wundervoll. Dann werden die Grundstücke kleiner, und zwischen die Häuser passt nur noch eine Auffahrt. Ein zweiter Hügel kommt in Sicht, nicht einmal halb so hoch wie der erste. Auf seinem Kamm liegt unser großes viktorianisches Haus. Jenseits davon senkt sich die Straße hinab in eine andere Stadt – eine Stadt, in der Verbrechen verübt werden, die es bei uns nicht gibt, und mit Schulstatistiken, die wir einander wie Warnungen zuflüstern.
3
Louisiana, 1992
Die Telefonleitung im Haus ihres Bruders ist dauernd besetzt, es hört nicht auf mit dem ständigen Piep-Piep-Piep. Lorilei ist müde. Sie will nicht den ganzen Weg bis zu seinem Haus laufen. Richard hat einen weißen Zaun um sein Grundstück aufgestellt, als wolle er sich von den anderen abgrenzen, die nicht all das haben, was er besitzt. Von Häusern wie dem, das Lorilei gemietet hat und für das sie nicht einmal die Stromrechnung bezahlen kann. Der Zaun geht ihr gegen den Strich. Das Tor befindet sich auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses, und um zur Tür zu kommen, muss sie außen herumlaufen, vorbei an der schmucken Einfahrt und den glänzenden weißen Pfosten und dem Spielzeug und den Fahrrädern seiner Kinder. Aber es hilft nichts, Jeremy ist verschwunden, und so dankt sie dem Mann in dem weißen Haus dafür, dass sie sein Telefon benutzen durfte, zieht den Reißverschluss ihres Kapuzenshirts zu und geht los. Ein kleiner Gehsteig führt zu Richards Haus, aber neben der Straße steht das Unkraut, und die Abflussrinne ist nichts als eine Furche im Schmutz. Lorilei, die neunundzwanzig und stämmig ist, auch wenn man ihr die Schwangerschaft noch nicht ansieht, vergräbt ihre Hände in den Taschen ihrer Jeans, um sie warmzuhalten, und bewegt sich mit gesenktem Kopf vorwärts. Ihre dünnen Halbschuhe, die im Februarmatsch stecken bleiben, sind nicht zum Laufen gedacht. Es hätte ein geruhsamer Abend werden sollen, nur mit Melissa und dem Baby.
Die Sonne gießt orangefarbene und rote Strahlen über dem Horizont aus. Es ist kurz vor sechs Uhr abends, und die Straße wirkt gespenstisch ruhig. Haus um Haus zieht mit heruntergelassenen Rollläden an ihr vorbei, wie fest zusammengepresste Lippen sehen sie aus. Dahinter versammeln sich gerade Familien zum Abendessen. In einem Vorgarten liegt ein umgekipptes Kunststoffdreirad, dessen Pedale in die Luft ragen, als wollten sie jeden Moment ins Nirgendwo losstrampeln. Lorilei hat Jeremy das Dreiradfahren beigebracht, als er drei Jahre alt war. Die Stadtzeitung veröffentlichte damals ein Bild von ihnen beiden, wie sie in die Kamera grinsen, ihre Hand auf seinen kleinen Schultern. Lorilei Guillory und ihr Sohn Jeremy Guillory. Jeder in der Stadt wusste, dass das ihr Mädchenname war. Dass es da keinen Mann gab.
Sie erinnert sich auf einmal daran, wie sie und Richard als Kinder in die Pedale traten, auf die Straßenbiegung zufuhren, und die Stunden sich vor ihnen ausdehnten, so weit wie die Sonnenstrahlen.
Der Hügel, auf dem er wohnt, liegt im Westen. Sie sieht sein Ranchhaus in einiger Entfernung. Am Ast einer Eiche ist eine Reifenschaukel für seinen Sohn und seine Tochter aufgehängt. Daneben befindet sich Richards Werkzeugschuppen. Und ein Auto steht in der Einfahrt, ein rotes, das Mary gehört, Richards Frau. Als sie und Mary am Morgen miteinander sprachen, sagte Mary, sie werde am Abend zum Einkaufen fahren, und wenn Jeremy ihr Auto kommen sähe, sollte er schnell herüberlaufen, dann würde sie ihn mitnehmen. Jeremy war so aufgeregt gewesen, als er Lorilei mit ihr telefonieren hörte, dass Lorilei nicht Nein sagen konnte. Es ist schwer für sie, dass Mary diejenige mit dem Auto und dem Geld ist, diejenige, die ihn mit zum Einkaufen nehmen kann. Aber vielleicht bedeutet das ja immerhin, dass er jetzt hier ist.
Doch als Mary mit frisch aufgetragenem Lippenstift die Tür öffnet, sieht Lorilei es ihrem verblüfften Gesicht an, dass er nicht da ist. Sie fragt trotzdem.
»Hab ihn nicht gesehen«, sagt Mary. »Und ich bin gerade am Gehen.«
Das ist der Moment, in dem Lorilei klar wird, dass er sich verlaufen haben muss.
Zehn Minuten später hat sie sich Marys Auto ausgeliehen und ist damit zum Waldrand gefahren, die Scheinwerfer auf das Wäldchen gerichtet. Es ist mittlerweile fast dunkel. Jeremy weiß, dass er vorher heimkommen muss. Als sie stehen bleibt, bemerkt sie im Lichtkegel die angerostete Karosserie eines Fahrzeugs. Manchmal sitzen Jeremy und der Junge der Lawsons, Joey, dort drin und schießen mit ihren Luftgewehren stundenlang in die Bäume. Aber jetzt ist der alte Wagen verlassen, das Wäldchen ganz still. Sie steigt aus dem Auto und lehnt sich gegen die Karosserie. »Jeremy!«, ruft sie. »Jeremy, ich bin es, deine Mama! Hörst du mich? Jeremy!«
Nichts als Schweigen. Nicht einmal ein Vogel ist zu hören.
»Jeremy!«
Hinter sich hört sie ein Fahrzeug anhalten. »Alles in Ordnung, Lori?« Terry Lawson, Joeys Vater, sitzt am Steuer, zwei Nachbarn sind bei ihm.
»Jeremy ist weg«, hört Lorilei sich selbst sagen. Ihre Stimme klingt rau.
Die Männer holen Taschenlampen aus dem Kofferraum und verschwinden im Wald.
Das ist der Moment, in dem später Lorileis Erinnerung abbricht.
Aber die Aufzeichnung der Feuerwehr belegt, dass der erste Notruf um 18.44 Uhr eingeht. Die Anruferin weist sich als Lorilei Guillory aus, die Mutter des Jungen, den sie als vermisst meldet. Der Mann am Ende der Leitung notiert ihre Angaben und verspricht, eine Polizeistreife nach Iowa zu schicken.
»Io-way«, sagt Lorilei in den Hörer. »Bitte. Sie wissen, wo das ist?«
»Ja, Madam. Io-way«, erwidert der Koordinator.
Der zweite Anruf folgt um 18.57 Uhr. Der Anrufer ist ein junger Mann, der mitteilt, dass bislang noch niemand aufgetaucht sei, und fragt, wann die Polizei kommen werde. Die Mutter des Jungen hat gerade von diesem Anschluss aus angerufen, aber er weiß, dass die Gegend verwirrend ist, wenn man nicht von hier ist. »Es gibt zwei Straßen hier raus, die nebeneinander verlaufen«, sagt er. »Und die hier wird Watson Road genannt, aber eigentlich hat sie keinen Namen. Das ist die richtige Straße. Das Haus ist weiß und hat zwei Stockwerke.« Sie würden es an der Waschmaschine vor dem Haus und an der Treppe, die von der Rückseite des Hauses aus zum Wald führt, erkennen, sagt er. »Ich gebe Ihnen die Nummer von hier, falls Sie sich verfahren.«
»Ich brauche noch Ihren Namen, Sir«, sagt der Vermittler.
»Ricky Langley«, antwortet der Anrufer.
In dieser Nacht sitzt Lorilei auf der Treppe vor dem weißen Haus, und zumindest eine der Geschichten, die über die Suche nach ihrem Sohn erzählt werden, handelt von dem, was als Nächstes geschieht. Die Straße ist vollkommen dunkel – es gibt