Verbrechen und Wahrheit (eBook). Alex Marzano-Lesnevich

Verbrechen und Wahrheit (eBook) - Alex Marzano-Lesnevich


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Jahre, in denen Cole Porters Stimme durch das Haus swingt und plötzlich ein weißes Dinnerjackett auftaucht. Aber in diesem Augenblick dröhnen Gitarrenklänge aus einer Musikbox auf dem Rasen. Mein Bruder Andy klettert auf den Autoreifen, der an einem Seil von einem Ast der großen Eiche baumelt. Obwohl wir Zwillinge sind, ist er einen Kopf kleiner und zwanzig Pfund leichter als ich, so dürr, dass fremde Leute ihn im Supermarkt angaffen. Gerade jetzt will er durch die Reifenschaukel springen und landet mit dem Bauch auf dem Reifen.

      Meine Mutter kommt schreiend aus dem Haus gelaufen.

      Sie muss genau in dem Moment aus ihrem Schlafzimmerfenster geblickt haben, in dem mein Bruder auf dem Reifen aufgekommen ist, und gesehen haben, wie seine Arme und Beine schlaff herunterfielen. Sie eilt über die Wiese, barfuß und hysterisch, und der Gürtel ihres pinkfarbenen Bademantels flattert hinter ihr her. Sie rennt auf meinen Bruder zu, der gerade dabei ist, sich aufzurichten, und noch nicht begriffen hat, was das Problem ist, aber erkennt, dass er sich in Bewegung bringen muss. Mein Vater erreicht sie zuerst; er packt sie, stoppt den Aufruhr ihres Körpers und hält ihre Arme fest. Seine Lippen bewegen sich, er wischt ihr die Tränen ab, aber ich bin zu weit entfernt, um zu hören, was er sagt.

      Ich starre sie nur an.

      Dann lege ich mein Buch beiseite und setze mich aufrecht auf das Schaukelgerüst. Mein Bruder befreit seinen kleinen Körper aus dem Autoreifen und steht stocksteif unter dem Baum. Er starrt ebenfalls.

      Etwas stimmt nicht an dieser Szene.

      Wir haben unsere Mutter noch nie weinen sehen. Mein Vater ist derjenige, der uns manchmal zu sich ins Schlafzimmer ruft, wo wir ihn bäuchlings auf dem riesigen Bett meiner Eltern liegen sehen. Er ist derjenige, der uns dann sagt, dass wir ihn nicht lieben, dass wir uns wünschen, er wäre gar nicht da. Dass es besser für uns wäre, er wäre tot.

      Sie hält ihn dann fest – und hält uns alle zusammen. Aber jetzt schluchzt sie sich die Seele aus dem Leib.

      Endlich blickt sie auf und bemerkt, wie wir dastehen und sie ansehen. Sie wischt sich über die Augen. »Mir geht es gut«, ruft sie uns zu. »Ich dachte bloß …«

      Mein Vater unterbricht sie: »Es geht ihr gut.«

      Er hat seinen Arm um ihre Schultern gelegt, sie ihren Arm um seine Taille. So gehen sie zusammen zum Haus zurück.

      5

      Louisiana, 1992

      Als am Morgen des 8. Februar die Dämmerung hereinbricht, steht ein einzelner Streifenwagen vor dem heruntergekommenen weißen Haus in Iowa. Das Auto gehört Officer Calton Pitre. Er arbeitet schon fünfzehn Jahre in der Polizeidienststelle des Calcasieu Parish und wird noch weitere zehn Jahre dort bleiben; alles in allem wird seine Dienstzeit als Hilfssheriff in diesem Cluster von Kleinstädten im Südwesten des Bundesstaats ein Vierteljahrhundert umfassen. Pitre saß in seinem Büro in Lake Charles, als die Vermisstenmeldung für den Jungen einging. Selbst zehn Jahre später kann er nicht sagen, warum der Anruf ihm so viel Angst gemacht hat. Aber er hat selbst einen kleinen Sohn in Jeremys Alter. Und zehn Jahre später, als sein Junge bereits ein Teenager ist, werden die Anwälte ihn in den Zeugenstand rufen, damit er noch einmal aussagt, und er wird sich ohne Hilfe an Jeremys Namen erinnern. Als sie das Kind fanden, trug es ein kleines weißes T-Shirt von Fruit of the Loom, wird er den Anwälten sagen. Sie schnitten das Shirt in Streifen, um es auf Spermaspuren zu überprüfen. Auch sein Sohn trug T-Shirts von Fruit of the Loom.

      Er nahm den Anruf an, obwohl seine Schicht fast zu Ende war; er erreichte Iowa, als eben die Sonne unterging. Dutzende von Leuten waren auf der Straße unterwegs, Eltern aus dem Ort, aber auch die Feuerwehr aus dem benachbarten LeBleu. Fünfzig oder sechzig Menschen, und Pitre erkannte auf einen Blick, dass niemand die Aktion leitete. Sie hatten nicht viel Zeit. Jede wie auch immer geartete Suche, die sie auf die Beine stellen konnten, würde ihr Ende finden müssen, sobald es ganz dunkel geworden war. Die Männer der Feuerwehr betraten das Wäldchen. Pitre betrat das weiße Haus, aus dem die Notrufe gekommen waren. Es waren zwei gewesen: von der Mutter des Jungen, die weinte, und dann, wenige Minuten später, von einem jungen Mann, einem Untermieter in dem Haus, der noch einmal anrief, um sicherzustellen, dass die Polizisten die richtige Straße fanden. Pitre fragte, ob er das Telefon benutzen dürfe.

      Eine Frau ließ ihn hinein. Es sei ihr Haus, erklärte sie. Sie zeigte ihm, wo das Telefon war, und ging sofort wieder ins Wohnzimmer zurück, wo der Fernseher lief. Etliche Kinder saßen dort im Schneidersitz auf dem Boden, während ein junger Mann mit braunen Haaren und Brille im Sessel kurz den Kopf wandte und ihm zunickte. Sie schauten irgendeine Krimiserie; Pitre wusste nicht, welche. Er erklärte seinem Vorgesetzten, dass jemand die Suche koordinieren müsse, dass eine zentrale Meldestelle nötig sei und jemand, der die Verantwortung trug. Sie brauchten mehr Leute. Aber der Vorgesetzte wollte sich auf nichts dergleichen einlassen – überhaupt, war da draußen nicht LeBleu zuständig? Oder doch Iowa? Frustriert kehrte Pitre wieder auf die Straße zurück.

      Wenig später kam er wieder, um einen zweiten Anruf zu tätigen. Das Wäldchen war ein schwieriges Terrain. In seinem nördlichen Teil gab es eine Schlucht und so etwas wie einen Kanal. Sie benötigten Geländefahrzeuge, vielleicht auch ein Boot.

      Als Calton Pitre zum dritten Mal das weiß gestrichene Haus betrat, um seinen Vorgesetzten anzurufen, sah er, dass der braunhaarige Mann immer noch auf der Couch saß und fernsah, und er hatte eine Idee. »Sie kennen die Gegend hier?«, fragte er.

      »Ja, klar«, antwortete der Mann.

      »Können Sie mir eine Karte zeichnen?«

      Der Mann nahm den Spiralblock, den Pitre ihm reichte, und skizzierte sorgfältig die Umgebung um das Haus, zeichnete den Wald ein. Er ließ ein Netz kleiner Nebenstraßen entstehen und markierte die Route zum Highway 90. »Sagen Sie mir, wenn Sie damit nicht klarkommen«, meinte der Mann.

      »Danke«, sagte Pitre.

      Aus dem Verhandlungsprotokoll, 2003

      Frage: Und wie wirkte der junge Mann auf Sie?

      Antwort: Er war ruhig, er war sehr ruhig.

      Frage: Sehen Sie ihn hier im Gerichtssaal?

      Antwort: Ja.

      Frage: Können Sie auf ihn zeigen und beschreiben, was er trägt?

      Antwort: Er trägt eine Brille und ein hellblaues Hemd mit Krawatte.

      Frage: Euer Ehren, bitte lassen Sie zu Protokoll nehmen, dass der Zeuge den Angeklagten identifiziert hat.

      Die Suchmannschaften und die Polizisten in den Geländewagen und die Feuerwehrleute fanden nichts. Sie würden ein Bergungsboot für den Kanal brauchen, aber das musste bis zum Morgen warten. Die Eltern hatten ihre Kinder abgeholt und waren heimgegangen. Die Taschenlampen, die sie zuvor in den Wäldern benutzt hatten, waren jetzt auf die dunkle Straße vor ihren Füßen gerichtet. Und obwohl sie nicht mehr durch die Wildnis, sondern durch Vorgärten liefen, hielten sie einander fester als sonst.

      Pitre blieb vor Ort. Er konnte nicht aufhören, an den kleinen Jungen zu denken. Er hatte ein Schulfoto des Kindes an sein Klemmbrett geheftet – blonde Haare, blaue Augen, ein zahnlückiges Grinsen. Der Onkel, ein Mann namens Richard, hatte es ihm gegeben. Pitre saß am Steuer seines Wagens und sandte Licht­signale zwischen die Baumstämme. Einmal, zweimal, dreimal. Dann hielt er inne und wartete. Einmal, zweimal, dreimal. Warten. Der Wald war finster, das Rauschen der schwarzen Blätter die einzige Bewegung. Er ließ die Lampe erneut aufleuchten. Und wieder. Immer wenn er dachte, es sei an der Zeit, nach Hause zu gehen und etwas zu schlafen, stellte er sich das blonde Haupt des Kindes von dem Foto auf einem Blätterhaufen vor. Der Junge wachte vielleicht gerade jetzt auf, öffnete langsam die Augen, so wie Pitres Sohn es immer tat. Dann, genau dann, würde er das blinkende Licht bemerken. Dann würde er wissen, dass er auf das Licht zulaufen musste. Wie konnte Pitre aufhören, ehe der Junge aufwachte?

      Aber zu guter Letzt drohte er selbst einzunicken. Der nächste Tag würde lang werden. Pitre fuhr nach Hause, küsste seinen schlafenden Sohn, küsste seine schlafende Frau und ging selbst schlafen.

      Jetzt, im Morgengrauen, ist er zurück.


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