Verbrechen und Wahrheit (eBook). Alex Marzano-Lesnevich
Zigaretten und einen Kaffee reichte, sagte er: »Das wird ne lange Nacht für mich.«
»Ja?«, fragte Lanelle freundlich nach.
Und der Mann erzählte, ja, drüben in der Watson Road in Iowa werde ein kleiner Junge vermisst, und sein Feuerwehrtrupp und noch ein anderer seien im Einsatz. Eltern aus der ganzen Gemeinde seien zum Helfen aufgetaucht, nachdem sie es in den Abendnachrichten gehört hätten. »Große Suche«, sagte der Mann. »Richtig groß. Sie wollen Suchhunde einsetzen.«
Lanelle musste sofort an Pearls Sohn Joey denken. Joey spielte immer draußen in den Wäldern, und manchmal kam Pearl zu ihrer Schicht und klagte darüber, dass Joey sich verletzt oder verlaufen hatte. Oder noch Schlimmeres. Als es Zeit für ihre Zigarettenpause wurde, rief Lanelle den Besitzer der Tankstelle an und fragte ihn, ob sie den Helfern ein paar Thermoskannen Kaffee und Plastikbecher bringen durfte. »Ja, das geht schon klar«, hatte er gesagt. »Aber erst nach Schichtende.«
Und so war es zehn Uhr und vollständig dunkel, als Lanelle es schließlich zu Pearl hinausschaffte. Mehrere Polizeiautos versperrten die Straße, ihre Scheinwerfer waren wie Leuchtfeuer. Aber sie rollte näher heran, kurbelte ihr Fenster herunter, durch das die Luft dieser Februarnacht beunruhigend kühl hereinstrich, und erzählte dem Officer im Wagen, der mit seinem Bürstenhaarschnitt selbst fast noch wie ein Junge aussah, von dem Kaffee. Er ließ sie durch.
Im Licht der Scheinwerfer wirkte der weiße Putz des Hauses gespenstisch, und da, wo die Farbe abgeblättert und schmuddelig war, verlieh das Licht ihm eine seltsame Gestalt, als sei das Haus in Wirklichkeit nur die Haut einer Kreatur, die dahinter lauerte. Ihr Rücken verschwamm mit dem Schwarz des Waldes.
Die Tür war nicht verschlossen. Lanelle schlüpfte ins Haus. Ricky war gerade dabei, die Küche auszufegen. »Hi, Ricky«, sagte sie, aber er kehrte weiter, mit raschen, kurzen Bewegungen. Die beiden waren noch nie gut miteinander ausgekommen. Als sie die Thermoskannen auf dem Küchentisch abstellte, hörte sie aus dem Wohnzimmer den Fernseher plärren. Dort hockte Pearl zusammengesunken auf der abgewetzten braunen Couch und sah fern. Das weiße Haus war auf dem Bildschirm zu sehen, hell erleuchtet. Der Anblick machte Lanelle nervös, es schien, als ob sie von weit oben auf sich selbst herabblickte. Sie setzte sich neben Pearl. »Pearl«, sagte sie sanft. »Haben sie Joey mittlerweile gefunden?«
»Joey wird nicht vermisst«, sagte Pearl. »Er ist oben. Ricky hat sich um die Kinder gekümmert. Es ist ein kleiner Junge aus der Straße. Joeys Freund.«
Sie starrte wieder auf den Bildschirm. Lanelle wartete einen langen Moment, aber es schien nicht so, als hätte Pearl noch mehr zu sagen. Wenn Lanelles Straße von Scheinwerfern erleuchtet gewesen wäre, dann wäre Lanelle ganz sicher zu den anderen nach draußen gegangen. Aber Pearl benahm sich, als ob nichts Besonderes los wäre. Lanelle sagte: »Ich habe Kaffee für die Helfer mitgebracht. Der Boss sagt, das geht in Ordnung.«
»Danke.«
»Hm«, meinte Lanelle. »Also, ich denke, ich werfe mal einen Blick die Treppe rauf? Mal sehen, ob mit Joey und June alles okay ist?« Vielleicht, dachte sie sich, versteckte sich der vermisste Junge bloß da oben. Kinder in dem Alter – wenn sie erst mal ein gutes Versteck gefunden hatten, bekam man sie da manchmal gar nicht mehr raus.
»Ist gut«, sagte Pearl.
Also stand Lanelle auf, um genau das zu tun. Sie wusste, dass das Haus etwas komisch aufgebaut war. Um zur Treppe zu kommen, musste man erst einmal durch das Bad neben der Küche.
Aus dem Verhandlungsprotokoll, 2003
Frage: Was passierte dann?
Antwort: Ich ging zur Treppe, aber Ricky steuerte auf mich zu.
Frage: Okay.
Antwort: Lief direkt an mir vorbei und wollte mich nicht rauflassen. Er hat gesagt, dass ich nicht die Treppe hochkann. Er wollte mich nicht da oben haben. Und er wurde wütend. Wenn Ricky wütend wurde, wurde er richtig wütend. Ich hatte ihn vorher schon mal wütend gesehen. Er wurde knallrot, und Dolche schossen aus seinen Augen.
Halten wir an dieser Stelle einen Moment inne. Ricky steht auf der Treppe, seine Augen blitzen, eine Ader an seiner Stirn pulsiert, und sein Gesicht ist puterrot. Er breitet die Arme aus, damit sie nicht an ihm vorbeikommt, blockiert die Stufen mit dem Besen, seine Hand eine feste Faust um den Besenstiel. Lanelle steht auf der Stufe unter ihm, immer noch in ihrem grünen Poloshirt mit dem Tankstellenlogo, ihr Make-up sitzt nicht mehr, und ihr Haar riecht nach Abgasen und Zigarettenrauch.
Es war ein langer Tag. Sie hat eine anstrengende Schicht hinter sich. Sie sollte längst zu Hause sein und die Füße hochlegen, nicht hier im Haus der armen Pearl sein.
Das ist der Moment, in dem sie es wusste, wird Lanelle später sagen. In dem sie wusste, dass etwas nicht mit Ricky stimmte. Dass schon die ganze Zeit etwas nicht mit ihm gestimmt hatte, auch wenn niemand sich getraut hatte, es auszusprechen.
Lanelle machte kehrt und erzählte Pearl, dass Ricky sie nicht hinauflassen wollte.
»Ach, so ist Ricky halt«, sagte Pearl. »Er hat oben schon geguckt. Das hat nichts zu bedeuten. Ricky ist einfach so.«
Lanelle wusste, was sie meinte. Wenn jemand sein Leben lang für seltsam gehalten wird, kann es passieren, dass er dadurch seltsam wird. Aber sie hatte ein ungutes Gefühl.
Also trat Lanelle auf die Straße hinaus und klopfte an das Fenster des ersten Polizeiautos, das sie sah. Noch gab es keine Kommandozentrale; die Polizisten organisierten alles von den Fahrersitzen ihrer Wagen aus. »Haben Sie Pearls Haus auch durchsucht?«, fragte sie.
»Ma’am?«
»Das weiße Haus«, sagte sie. »Genau hier. Haben Sie dort gesucht?«
Der Officer warf einen Blick auf sein Klemmbrett. »Die Besitzerin sagt, ein gewisser Ricky hätte im Haus gesucht.«
»Und damit geben Sie sich zufrieden?«
»Ja, Ma’am.«
Sie konnte es sich später selbst nie wirklich erklären, warum sie nicht wieder umgekehrt war und Ricky einfach zur Seite geschoben hatte, um nach oben zu gehen und dort zu suchen. Gewiss, später sagte man ihr, dass es ohnehin zu spät gewesen wäre, dass der Junge längst tot war, dass das Einzige, was sie in dem Schrank hätte finden können und was Ricky vor ihrem Blick verteidigte, ein lebloser Körper war.
Aber sie sollte noch lange darüber nachdenken. Über Jahre hinweg würde die Sache sie beschäftigen.
Sie versicherte den Polizisten, dass sie bereit wäre, alles zu tun, um sich nützlich zu machen. Sie schickten sie mit den Feuerwehrleuten aus LeBleu in die Wälder, wo sie bis spät in die Nacht mit einer Taschenlampe auf das schmutzigbraune Laub leuchtete, in der Hoffnung, in dem Widerschein eine Farbe zu entdecken, die da nicht hingehörte. Sie lief am Rand der Schlucht entlang und beugte sich weit vor, ohne wirklich zu erwarten, den Jungen dort unten zu entdecken, aber sie suchte, suchte immer weiter.
Am nächsten Morgen war sie zurück in der Tankstelle, wo sie die geliehenen Thermoskannen auswusch. Ricky war ebenfalls da. Den ganzen Tag, während sie den Fernfahrern Wechselgeld aushändigte und ihnen zunickte, ertappte sie sich immer wieder dabei, wie sie durch die Glasfenster an der Front des Gebäudes starrte, wie sie Ricky beobachtete, der über das Gelände lief. Sie versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. Sah er normal aus? Normal für seine Verhältnisse? Oder sah er aus wie ein Mann, der etwas zu verbergen hatte? Und diese Hände – sahen sie aus wie die Hände von jemandem, der einem Kind etwas antun würde? Was sie dachte und fühlte war nichts, das sie irgendjemandem hätte mitteilen können. Aber etwas stimmte einfach nicht.
Aus dem Verhandlungsprotokoll, 2003
Antwort: Ich für meinen Teil, wenn ich Leute zu Besuch habe, denen ich nicht über den Weg traue, dann versteck ich meinen Schmuck in meinem Zimmer. Ich schließ die Zimmertür ab, damit niemand reinkann.
Frage: Sie meinen, Sie sind misstrauisch?
Antwort: Richtig. Weil ich nicht will, dass jemand da reingeht, verstehen Sie, warum auch