Verbrechen und Wahrheit (eBook). Alex Marzano-Lesnevich

Verbrechen und Wahrheit (eBook) - Alex Marzano-Lesnevich


Скачать книгу
haben die improvisierte Suchzentrale vor dem Haus gesehen. Sie haben einen Reporter berichten hören, dass ein kleiner Junge vermisst werde, haben die Schule des Jungen auf dem Bildschirm gesehen. Die Kamera zeigte die weinende Mutter des Kindes.

      Bessie weiß, dass Alcide nichts über das sagen wird, was sie gesehen haben. Er ist kein großer Redner, schon gar nicht, wenn es um seinen ältesten Sohn geht. Also muss Bessie das übernehmen. Sie reicht über den Tisch und ergreift die Hand ihres Sohnes, die kühl und schlaff ist. Er erwidert ihren Händedruck nicht. »Ricky«, sagt sie, und dann hält sie inne.

      Ricky wartet.

      »Du hattest doch nichts mit diesem kleinen Jungen zu tun, der vermisst wird, oder?«

      Was geht in einer Mutter in dem Augenblick vor, bevor sie so eine Frage stellt? Ihr Sohn ist an der Tür des Wohnwagens aufgetaucht, ihr Sohn, den sie jetzt, da er erwachsen und von zu Hause ausgezogen ist, kaum mehr sieht. Sie liebt ihren Sohn. Hat ihn geliebt, noch bevor er geboren wurde, als sie um ihn kämpfen musste gegen die Ärzte, die nicht wollten, dass er geboren wird, dieses Kind, das so viele Probleme hatte. Dieser Junge, der öfter versucht hat, sich umzubringen, als sie zählen kann, und der bereits zweimal wegen Kindesmissbrauchs im Gefängnis saß. Einmal hat Bessie einer Sozial­arbeiterin erzählt, dass sie ihn keine fünf Minuten aus den Augen lassen konnte, ohne dass er loszog und irgendwen belästigte.

      Jetzt ist Ricky erwachsen. Er lebt jenseits ihres Einflussbereichs. Ein Junge aus der Straße, in der er lebt, wird vermisst.

      Sie stellt die Frage.

      »Nein«, antwortet er.

      Dieses Schweigen, in das sie daraufhin verfällt – ist es das süße, dankbare Schweigen von jemandem, der glaubt, was er hört? Oder ist es so schwarz und trügerisch wie die Nacht, die sich gerade über das Ende des zweiten Tages einer erfolglosen Suche legt und die dunklen, feuchten Wälder verbirgt, in denen keine Kinderleiche zu finden ist. Verbirgt dieses Schweigen ebenso viel wie die Dunkelheit?

      »Wetten, der Junge ist da draußen im Wald?«, fügt Ricky hinzu. »Sie werden ihn finden«, sagt er, während die drei, der Mann und die Frau und das Kind, das sie gezeugt haben, beieinandersitzen und die zweite Nacht hereinbricht.

      6

      New Jersey, 1984

      Das pinkfarbene Hauskleid, das ich Bessie in dieser Szene tragen lasse – pink mit kleinen weißen Blumen und einem Spitzenkragen aus Polyester, das Kleid, das sich über ihrem Schoß aufbläht, als sie sich schwer auf ihren Stuhl fallen lässt und sich ihrem Sohn zuwendet –, dieses Kleid kommt in keiner Gerichtsakte und in keinem Protokoll vor. Es ist das Kleid meiner Großmutter. Wenn ich mir Bessie vorstelle, sehe ich meine Großmutter, denn diese beiden Frauen verbindet vieles. In meiner Erinnerung trägt meine Großmutter dieses Kleid, als sie auf dem weißen Korbsofa auf der Veranda unseres viktorianischen Hauses neben meinem Großvater sitzt. Es ist später Nachmittag an einem Samstag im Frühling. Die Sonne denkt gerade erst darüber nach, demnächst unterzugehen, es ist nur eine Schattierung dunkler als bei hellem Tageslicht. Die graue Terrasse liegt im sanften Schimmer des leicht bewölkten Himmels.

      Wir spielen Dame, und ich bin dran. Ich sitze meinen Groß­eltern in einem Korbsessel gegenüber, zwischen uns der Tisch mit dem Brettspiel. Ich bin Rot, sie Schwarz, und neben mir stapeln sich die schwarzen Spielsteine, die ich gewonnen habe. Immer wenn mein Großvater einen Stein bewegt, schnalzt meine Großmutter leise mit der Zunge, ehe er auch nur die Hand von dem Plastikstein nehmen kann, und sagt: »Jimmy.« Mein Großvater seufzt und platziert den Stein so, dass ich ihn mir holen kann. Ich wünschte, sie würde damit aufhören, aber ich bin auch stolz, dass ich gewinne.

      Immer häufiger fährt mein Vater in die Stadt und holt meine Großeltern ab, damit sie auf uns aufpassen. Seine Kanzlei beginnt richtig gut zu laufen. Auf einmal hängt im Schlafzimmer meiner Eltern ein Kalender an der Wand, auf dem mit schwarzem Marker Termine umrandet sind, und sie haben eine Pinnwand, an der Operntickets und Eintrittskarten für Tanzveranstaltungen hängen. Während meine Großeltern mit mir Dame spielen, macht sich meine Mutter oben fertig. Heute Abend werden sie Tosca sehen, und aus den Lautsprechern, die mein Vater überall im Haus aufgestellt hat, dringen Baritonstimmen.

      Als die Sonne untergeht, mag ich nicht länger bei meinen Großeltern sitzen, also gehe ich ins Haus und steige die alte Treppe zum Schlafzimmer meiner Mutter hinauf. Mein Brustkorb ist zugeschnürt; ich will nicht, dass sie geht, will nicht die ganze Nacht mit meinen Großeltern alleine bleiben. Meine Eltern sind spät dran – es ist immer knapp bei ihnen –, und mein Vater steht in seinen weißen Unterhosen im Flur vor dem Schlafzimmer und wählt eine Krawatte von der Kleiderstange aus. Im Schlafzimmer liegt Nicola, meine mittlere Schwester, auf dem Bett meiner Eltern und sieht zu, wie meine Mutter sich ankleidet. Sie zieht eine figurformende Strumpfhose an. Keinen Büstenhalter – meine Mutter, die ebenso flachbrüstig ist, wie ich es später sein werde, hasst BHs. Sie hat noch immer die Lockenwickler aus der weißen Plastikschachtel auf dem Ankleidetisch im Haar. Obwohl meine Mutter im Teenageralter ständig mit dem Zug nach Coney Island gefahren ist, um dort Babyöl auf ihre Haut zu schmieren und sich stundenlang hinter einen aus Alufolie gebastelten Sonnenreflektor zu setzen, und obwohl sie und Andy beide tiefbraun werden, sobald der Sommer beginnt, ist das Gesicht meiner Mutter nach wie vor vollkommen glatt. Im Alter von fünfundzwanzig Jahren werde ich mehr Falten haben als sie in ihren Fünfzigern. Es ist das Geschenk ihrer italienischen Gene, sagt sie. Ein Geschenk, meint sie, das mit einem Fluch einhergeht, der auf ihren Haaren liegt.

      Während meiner gesamten Kindheit stylt sie ihre Haare jeden Morgen mit heißen Rollen zu einer Toupierfrisur à la Jackie O. – eine Frisur, die sie als junges Mädchen für sich entdeckt hat, und der einzige Stil, der, wie sie beteuert, zu ihrer Haarstruktur passt. Vor jeder Reise muss mein Vater die Lockenwickler einpacken. Meine Mutter behauptet, sie habe sich die Haare als Teenager mit diversen Laugen ruiniert, mit denen sie versuchte, sie zu glätten. Später einmal, während eines Familienausflugs nach Jamaika, werde ich mit ihr zusammen in einem Schönheitssalon sitzen. Zwei Frauen unter Fönhauben schauen zu uns herüber und lachen. Eine von ihnen kommt her. »Ihre Mama muss mit einem Schwarzen geschlafen haben«, sagt sie zu meiner Mutter und nickt, um ihrer Bemerkung Nachdruck zu verleihen.

      Meine Mutter lacht. »Mein Vater ist Italiener«, antwortet sie. »Vincent Jimmy Marzano aus Astoria in Queens.« Kann irgendwas italienischer sein als das?

      Die Frau zieht ihre Brauen hoch und fasst meine dunklen Locken ins Auge. »Nun, dann müssen Sie wohl mit einem Schwarzen geschlafen haben!« Und wieder lacht meine Mutter.

      Jetzt gerade steht sie vor der Kommode, die mein Vater extra für sie hat schreinern lassen und deren Schubladen noch fast leer sind, aber voller Versprechen für die Zukunft, und sie wählt eine Kette aus, die er ihr geschenkt hat, ebenholzschwarze und roséfarbene Perlen, die in der Mitte eine große Blüte bilden. Sie winkt mich herbei, und ich stelle mich hinter sie. Sie hält ihre Haare zusammen, damit ich den Verschluss in ihrem Nacken zumachen kann. Ich bin schon beinahe so groß wie sie. Ich habe ihre Haare, ihre Liebe zu Büchern, ihr Lächeln geerbt. Mit der Zeit werde ich in die Form ihrer Hüften, in ihre Entschlossenheit und ihre Körpergröße hineinwachsen. Sobald ich den Kettenverschluss gesichert habe, dreht sie sich mit glänzenden Augen zu mir um.

      Dies ist eine außergewöhnliche Nacht, eine magische Nacht. An anderen Abenden zieht sie sich alleine an, ohne dass mein Vater im Flur steht, weil er noch irgendwo in der Dunkelheit unterwegs ist, nachdem er das Auto genommen hat und mit quietschenden Reifen aus der geschotterten Einfahrt geschossen ist. An einem solchen Abend wird mein Bruder einst in den Raum kommen und sie schweigend betrachten, während meine Schwester und ich auf dem Bett liegen. »Wen liebst du mehr?«, wird er plötzlich fragen. »Daddy oder uns?« Seine Worte werden einem Eingeständnis gefährlich nahe kommen, das es eigentlich nicht geben dürfte: dass es eine Wahl geben könnte zwischen uns und ihm.

      Aber nicht heute. Dieser Abend ist wunderbar. Meine Mutter trägt Lippenstift auf. Mein Vater bindet seine Krawatte und streicht das Jackett über seinen Schultern glatt, ehe er ihre Hand nimmt. Die beiden sind fort in einem Atemzug, einer Wolke aus Parfum und Aftershave, die hinter ihnen herschwebt wie eine Erinnerung.

      Später


Скачать книгу