Verbrechen und Wahrheit (eBook). Alex Marzano-Lesnevich
Deshalb kam es mir verdächtig vor, dass Ricky mich nicht rauflassen wollte.
Sie wusste, was das bedeutete. Ricky hatte etwas zu verbergen.
Niemand kann zu diesem Zeitpunkt – als Lanelle den Lastwagenfahrern ihre Kassenzettel aushändigt und Pearl die Oberflächen im Tankstellenshop abwischt und Ricky seinen Wäschesack über die Schulter hievt, um ihn zu seiner Familie mitzunehmen – wissen, was in drei Monaten passieren wird. Nachdem Jeremys Leiche im Schrank gefunden worden ist, nachdem Ricky in Handschellen abgeführt und im örtlichen Gefängnis eingesperrt worden ist, nachdem die Titelseiten aller Zeitungen im ganzen Land dasselbe Schwarz-Weiß-Foto von dem monströsen Sextäter abgedruckt haben, der einen kleinen Jungen ermordet hat. Nachdem das Haus der Lawsons zum Hauptquartier für die Polizeibeamten geworden ist, die gelbes Absperrband am Schrank und Rickys Schlafzimmertür angebracht haben, nachdem alle Habseligkeiten von Ricky aus dem Raum in Plastiktüten verstaut wurden, versiegelt und mit der Aufschrift »Beweismittel« versehen, und man auch Jeremys Leiche versiegelt und zur Leichenhalle gebracht hat. Niemand kann jetzt schon wissen, dass in drei Monaten, nach alledem, Terry Lawson, Pearls Ehemann und Vater von Joey und June, seinen Sohn eines Nachmittags zu einem Ausflug auf seinem Motorrad mitnehmen wird.
Es existiert kein Bericht darüber, was Terry Lawson an diesem Nachmittag sagt. Vielleicht sagt er: »Komm, wir fahren zum See, mein Sohn.« Oder vielleicht: »Warum kommst du nicht mit zum Laden, ich nehme dich auf dem Motorrad mit.« Oder: »Magst du Eis essen gehen?« Er reicht dem Jungen seine Hand und hilft ihm auf die Maschine, zeigt ihm, wie er mit seinen kleinen Beinen die Seiten des Motorrads umklammern kann.
Und dann rast ebendieses Motorrad exakt in den zweiten Waggon eines herankommenden Amtrak-Zuges, und beide sterben.
Den zweiten Waggon.
Terry Lawson steuert die Maschine. Sein Sohn sitzt hinter ihm, hält sich an ihm fest. Zeugen berichten, das Gelände sei übersichtlich gewesen; dass man den Zug aus einer Meile Entfernung habe sehen können und dass er unmittelbar vor dem Aufprall einen lauten Pfiff habe ertönen lassen. Wie stößt man mit dem zweiten Waggon eines Zuges zusammen? Den ersten Waggon könnte man vielleicht übersehen und von ihm erfasst werden. Aber wie wird man vom zweiten Waggon eines Zugs erfasst?
Es gibt so vieles, was die Menschen in dieser Geschichte zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen können. Durch die Seiten der Verhandlungsprotokolle hindurch sehe ich zu, wie Lanelle den Zapfhahn für einen weiteren Lkw freischaltet und Ricky durch die Scheiben hindurch anstarrt. Ich sehe zu, wie Pearl sich daranmacht, die Milchkännchen aufzufüllen. Ich sehe zu, wie Ricky versucht, ein vorbeifahrendes Auto anzuhalten.
Noch drei weitere Tage wird Jeremys Leiche im Schrank eingekeilt bleiben, während nebenan im Korridor Joey und June spielen. Noch drei Tage lang werden Pearl und Terry Lawson ihre Kinder abends ins Bett bringen und morgens wecken, um sie für die Schule fertig zu machen, und diese ganze Zeit hindurch wird Jeremys Leiche da sein, jenseits der Tür, eingewickelt in die blaue Decke mit dem Dick-Tracy-Motiv, seine Stiefel und sein Luftgewehr säuberlich zu seinen Füßen platziert.
Die Erwachsenen trinken am Küchentisch ihren Kaffee, die Kinder ihre Frühstücksmilch, und drei Monate später wird der Vater, Terry, tot sein. Der Junge, Joey, ebenfalls.
Später werden Anschuldigungen laut werden, Terry habe seine Tochter June missbraucht. Sie werden nie bewiesen werden.
Ich versuche die Vergangenheit zu studieren, zwischen den Zeilen zu lesen – Terry zuzusehen, wie er sich Kaffee nachschenkt und sich setzt, daneben die Müslischalen, die Ricky für die Kinder hingestellt hat. Wo waren Terrys Hände vergangene Nacht? Er und Pearl haben ihr Schlafzimmer aufgegeben.
Und Pearl, wenn man sie jetzt sieht, wie sie die Kühlschranktür öffnet und Joey ermahnt, mit dem Frühstück fertig zu werden: Was sieht sie? Was ist sie in der Lage zu sehen? Wovor verschließt sie die Augen? Hat sie wirklich nicht gewusst, dass Jeremys Leiche dort oben war? Drei Tage lang?
Dann sterben Terry und Joey. Und Pearl verschwindet mit June.
8
New Jersey, 1985
Wochen vergehen, Monate, ein Jahr. Die Erinnerung an diesen seltsam falschen Nachmittag, an dem meine Mutter schreiend über den Rasen lief, und die an das Geräusch meines Großvaters auf den Treppenstufen in der Nacht – sie sitzen beide in meinem Inneren wie in einem Kokon, der sie vor der Hitze des Sommers schützt. Ich halte von innen her den Atem an, damit das, was darin ist, nicht in Flammen aufgehen kann.
Kurz bevor wir an Ostern zum Haus meiner Großeltern fahren, wo wir um ihren großen Holztisch herum sitzen, um von meinem Großvater zubereitete Manicotti zu essen, die er in dünne Scheiben Rindfleisch eingeschlagen hat wie in Geschenkpapier, geben meine Eltern uns jedes Jahr Körbe mit jeweils einem Ei darin. Die Schalen der Eier sind aus weißem Zucker, der an den Rändern gefärbt und glasiert ist. In ihrem Inneren verbergen sich winzige Szenen aus Zuckerwerk: ein Küken im Nest oder ein Osterhase mit einem Korb. Jede dieser kleinen Szenerien ist ein delikates Kunstwerk. Aber die Schale ist, obwohl aus Zucker gemacht, nicht zerbrechlich. Sie ist hart und fest.
Das Schweigen ist genauso. Es beschützt die leuchtenden Momente ebenso wie die verwirrenden. Zum Beispiel die Nächte, in denen mein Mund ganz trocken ist vor Durst und ich meinen Mut zusammennehme und die dunkle Treppe hinuntersteige, um mir in der Küche ein Glas Wasser zu holen. Dort sitzt mein Vater mit einer großen Glasschüssel voller Kartoffelchips am weißen Küchentisch. Vor ihm steht eine leere Weinflasche und daneben eine zweite, angebrochene. Auf dem Boden zu seinen Füßen liegen leere Eisverpackungen herum. Der Fernseher kündigt lauthals ein neues Programm an. Mein Vater lächelt schief, als ich den Raum betrete.
»Alles in Ordnung, Schatz?«, fragt er dann.
So milde ist er sonst nie, und deshalb erzähle ich es ihm manchmal. »Ich habe schlecht geträumt«, sage ich. Ich habe von Hexen geträumt, die mich im Schlaf holen kommen.
»Geh wieder ins Bett. Ich hab dich lieb. Komm her«, sagt er, und ich gehe zu ihm und küsse ihn auf die Wange.
So ist er mir am liebsten, er ist sanfter als zu irgendeinem Zeitpunkt tagsüber. Aber ich weiß, dass er sich am Morgen an nichts davon erinnern wird. Am Morgen werden diese Augenblicke schon verwischt, nichts anderes als ein ferner, unwirklicher Traum sein.
Der Morgen, voll Licht und greifbarer Wirklichkeit, ist die Zeit des Handelns. Er kauft ein neues Lautsprecherset und installiert es im Haus, mit einer gesonderten Fernbedienung für Küche und Wohnzimmer. Er putzt oben seine Schuhe, weigert sich, die Anrufe von Gläubigern entgegenzunehmen, und lässt seine Opernmusik durchs ganze Haus schallen, manchmal so laut, dass mir die Ohren wehtun. Er und meine Mutter sitzen am Küchentisch und planen Feiern, mit denen sich mein Vater bei den Menschen in dieser Stadt einen Namen machen will, und meine Mutter bringt mir bei, wie man Brie in die Mitte eines Endivienblattes schmiert, Sauerrahm auf einem Cracker anrichtet und ein perfektes Nest aus Kaviar in die Mitte setzt. Auf diesen Partys grinsen die Leute übertrieben breit, zeigen ihre Zähne, und jedermanns Atem riecht nach Wein.
In diesem Sommer beschließt mein Vater, für den Stadtrat zu kandidieren. Sie haben uns passende T-Shirts für die Parade am 4. Juli machen lassen: Sie sind rot, und die daraufgebügelten, flauschigen weißen Buchstaben formen die Worte »Mein Daddy für den Stadtrat«. Das T-Shirt meiner Mutter passt ebenfalls dazu, aber auf ihrem steht nur »Drew«. Auf dem Bild von uns, das während der Parade aufgenommen wurde, blinzeln wir in unseren roten T-Shirts, die in den Bund unserer Shorts gesteckt sind, in die Sonne. Meine Schwester Nicola schwenkt eine winzige amerikanische Flagge. Ich stehe ein bisschen abseits vom Rest der Familie, die reflektierende Sonne auf meinen Brillengläsern verbirgt meine Augen. Meine Locken sind zu kurz geschnitten und ringeln sich um meinen Kopf. Einen Arm habe ich um meinen Oberkörper geschlungen; ich lächle nicht. Ich halte meinen Ellbogen mit der anderen Hand, versuche, mich selbst zusammenzuhalten.
Ich bin in jenem Sommer steif und unbewegt wie eine Schmetterlingslarve im Kokon. Wie verpuppt. Spüre ich, dass das Schweigen nicht ewig dauern kann? Ist es das, worauf ich warte? An den Nachmittagen, an denen mein Vater den Rasen mäht, ist die Luft plötzlich