Verbrechen und Wahrheit (eBook). Alex Marzano-Lesnevich

Verbrechen und Wahrheit (eBook) - Alex Marzano-Lesnevich


Скачать книгу
um bei der Suche zu helfen.

      Die Mütter sehen erschöpft aus; einige sind noch im Morgenmantel. Eine Frau trägt einen zugeknöpften Wintermantel über Pyjama und Hausschuhen. Die Nachricht verbreitet sich schnell: Keine Neuigkeiten, der Guillory-Junge wird immer noch vermisst. So unmittelbar wie ein Echo folgt die Antwort: Er hat sich nur verlaufen. Ganz sicher hat er sich nur verlaufen. Sie werden ihn finden. Eine Frau steht an der Grenze zwischen Straße und Wiese – dort, wo in anderen Gegenden der Stadt, in denen die Straßen Namen haben, ein Gehsteig wäre – und gibt mit lauter Stimme Anweisungen, um die Mütter in Suchtrupps zu organisieren. Jemand anderes kommt auf die Idee, an die Tür des weiß gestrichenen Hauses zu klopfen, um herauszufinden, ob noch etwas von dem Kaffee da ist, den die Mitarbeiter der Tankstelle am Highway am vergangenen Abend gebracht haben.

      Die Tür des weißen Hauses bleibt geschlossen. Ricky und seine Vermieterin Pearl Lawson sind bereits in Pearls Auto gestiegen. Er muss zu seiner Schicht in der Tankstelle, und an den Tagen, an denen sie morgens ebenfalls eingeteilt ist, nimmt sie ihn mit. Pearl hat einen verantwortungsvollen Posten dort, manchmal übernimmt sie die Kasse für die Truckfahrer. Man kann ihr in Geldsachen vertrauen. Ricky räumt auf und hält die Tankstelle in Ordnung. Normalerweise unterhalten sie sich miteinander, aber heute früh schweigen beide. Die Morgenluft ist kühl, ein leichter Nebel liegt über allem, und Ricky rieb sich die Hände, um sie warm zu halten, während er wartete, dass sie das Auto aufschloss. Er warf die Tasche mit Schmutzwäsche, die er dabeihatte, auf den Rücksitz, und jetzt starrt er auf seinen Schoß hinunter. Pearl sieht nicht zu ihm hinüber. An diesem Morgen verhalten sich die beiden, als wären sie ein streitendes Ehepaar.

      Als sich am Abend zuvor die Nachricht von dem verschwundenen Kind in der Nachbarschaft verbreitete und die Mütter zum ersten Mal zusammenkamen, standen sie alle auf der Straße vor dem Haus der Lawsons. Sie beschlossen, dass Ricky, der Untermieter, sich um die Kinder kümmern sollte, zumal er ja oft auf die beiden Kleinen der Lawsons aufpasste. Die Kinder hatten mit Ricky zusammen im Wohnzimmer ferngesehen, und später waren sie in sein Schlafzimmer hinaufgegangen, um dort zu spielen.

      Aber spät am Abend, nachdem das letzte Kind von seiner Mutter abgeholt worden war und sich sogar die Polizisten auf den Heimweg gemacht hatten, als nur noch ein Streifenwagen vor dem Haus parkte und den Himmel in regelmäßigen Abständen mit den Scheinwerfern erhellte, kam Ricky nach unten und fand Pearl am Küchentisch sitzend vor. Er trug einen Plastikkorb mit Schmutzwäsche in der Hand. Die Waschmaschine befand sich draußen im Vorgarten, war über einen Schlauch mit dem Haus verbunden. Aber Pearl schaute ihn so ernst an, dass er den Korb abstellte. Sie war schon im Nachthemd; vor ihr stand ein Becher mit Tee. Sie und Terry schliefen auf einer Matratze im Wohnzimmer, seit Ricky im Haus wohnte. Sie hatten ihm das Schlafzimmer vermietet.

      »Weißt du, Ricky«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme und studierte ihren Tee, anstatt Ricky anzusehen, als versuchte sie, ihre Worte nebensächlich klingen zu lassen. »Vielleicht solltest du die Stadt für ein paar Tage verlassen, bis sich wieder alles beruhigt hat.«

      Pearl wusste – das wird Ricky später schwören –, sie wusste, dass er wegen Kindesmissbrauchs im Gefängnis gewesen war. Sie nahm ihn auf, als er nach seiner Haft in Georgia auf Bewährung frei war. Sie hatten sich kennengelernt, als sie beide noch in einem heruntergekommenen Motel in der Nähe der Tankstelle hausten, wo die Miete wöchentlich zu zahlen war. Pearl, Terry und ihre beiden Kinder schliefen dort alle zusammen in einem Raum. Ricky kannte damals niemanden und versuchte, alleine das Geld für sein Einzelzimmer aufzubringen. Pearl und Ricky sahen einander während ihrer Pausen an der Tankstelle, im Wäscheraum oder an der Eismaschine im Motel – und wenn sie beim Mann an der Rezeption bezahlten. Eines Abends, als Pearl und Ricky auf dem Parkplatz vor dem Motel he­rumstanden, hatte sie eine Idee. Sie und ihr Mann wollten ein Haus in Iowa mieten. Aber um sich das leisten zu können, würde sie mehr arbeiten müssen, und es wäre niemand da, der sich um June und Joey kümmern konnte. Vielleicht könnten sie sich zusammentun?

      Das war vor zwei Monaten gewesen. Und Ricky vergriff sich nie an den Lawson-Kindern. Das Versprechen hatte er sich selbst gegeben. Ein Versprechen, das er hielt.

      Jetzt hat sie ihn aufgefordert zu gehen.

      Und deshalb hat Ricky an diesem Morgen eine Reisetasche mit sauberen Sachen dabei sowie einen Sack mit der Kleidung, die er am Vortag getragen hat und die er eigentlich in der Nacht hatte waschen wollen. Pearl lenkt das Auto auf die Straße hinaus und nickt Pitre zu, ehe sie an der Polizeiabsperrung vorbeifahren.

      Pitre nickt zurück. Er erkennt Pearl wieder. Vergangene Nacht hat sie ihm das Telefon gezeigt und sich um die Verteilung des Kaffees gekümmert, den die Betreiber der Tankstelle gespendet hatten. Er erkennt in Ricky den jungen Mann, der ihm die Karte gezeichnet hat, die jetzt an seinem Klemmbrett befestigt ist. Die Sonne steigt über dem Horizont auf in den Himmel, und übermüdete Eltern kommen immer noch in kleinen Grüppchen vor Ort an. Wenn genügend von ihnen eingetroffen sind, wird Pitre die Karte nutzen, um die Teams zu koordinieren. Er wird die Sektoren der Karte abhaken, während die Suche läuft. Sie werden das Kind finden, da ist er sich sicher.

      Als Ricky am Abend seine Schicht in der Tankstelle beendet hat, kehrt er zum ersten Mal, seit er dort eingezogen ist, nicht in das weiße Haus der Lawsons zurück, in dem zu wohnen ihn so stolz gemacht hat. Es war das erste Zimmer, das er jemals wirklich sein Eigen nennen konnte. Das Zimmer, in dem in diesem Moment die Leiche von Jeremy Guillory steif im Schrank steht, von allen Seiten eingekeilt, eingewickelt in die blaue Decke von Rickys Bett, mit einem Müllsack über Kopf und Schultern. Die Wanderschuhe, die ihm von den Füßen gefallen waren, als Ricky ihn würgte, stehen fein säuberlich daneben. Auch das Luftgewehr ist an seiner Seite. Ricky hatte ihn dort versteckt und die Schranktür geschlossen, bevor die anderen Kinder ins Zimmer kamen. Er hatte dem Jungen eine Socke in den Mund gestopft und um seinen Hals ein Stück Angelschnur festgezogen. Das Kind hatte die ganze Zeit gurgelnde Laute von sich gegeben.

      Statt zu den Lawsons zurückzukehren, fährt Ricky also per Anhalter zu dem Wohnwagen seiner Eltern in einem anderen Stadtteil von Iowa. Die Wohnwagensiedlung ist ein weitläufiges, flaches Gelände mit niedergetrampeltem Gras zwischen den einzelnen Parzellen. Seine Eltern lebten früher in einem Haus in der nahe gelegenen Stadt Hecker, das sein Vater Alcide gebaut hatte, aber in den vergangenen Jahren machten es ihnen die Krankenhaus- und Arztkosten seiner Mutter Bessie unmöglich, das Stück Land weiterhin zu behalten. Sie zogen in diesen weißen Wohnwagen, als Ricky und sein jüngerer Bruder noch zu Hause lebten. Er klopft an die elfenbeinfarbene Tür.

      Es dauert, bis Bessie ihm öffnet. Zwanzig Jahre sind vergangen, seit die Ärzte ihr Bein amputiert haben, und noch immer läuft sie mithilfe einer einzelnen uralten Krücke. Es ist schwer, sich damit in dem engen Raum zu bewegen. Er nickt ihr zu, nicht mehr als ein kurzes, steifes Zur-Kenntnis-Nehmen ihrer Person, dann geht er direkt zu der Waschmaschine und dem Trockner, die ganz hinten im Wohnwagen übereinander stehen. Öffnet den Wäschesack. Schaltet die Maschine ein und stopft seine Khakihose hinein. Die Hose, die er gestern trug, als er Jeremy erwürgte. Schüttet das Waschmittel direkt darauf. Vielleicht befinden sich auf der Hose Spermaspuren, vielleicht auch nicht. Das Wasser wäscht die Wahrheit mit fort.

      Erst danach wendet sich Ricky um und begrüßt Bessie.

      Es ist Abend. Bessie trinkt schon seit Stunden. Sie wuchtet ihren Körper durch den engen Raum zum Esstisch hinüber. Sie lässt sich schwer auf den Stuhl fallen, und ihr pinkfarbenes Hauskleid bläht sich dabei über ihrem ausladenden Schoß ein wenig auf. Alcide räumt die Rechnungen vom Tisch, ehe er sich ebenfalls setzt.

      Ricky blickt sich in dem düsteren, schäbigen Raum um. Er registriert die Rechnungen, den Schmutz, der die Oberflächen im Küchenbereich verkrustet, das dreckige Geschirr im Waschbecken. Die Glühbirne über dem Ofen ist kaputt und nicht ausgetauscht worden. Die Luft riecht schal und scharf; ein säuerlicher Hauch von Bessies Alkohol hängt über allem. Er hasst es. Er hasst das alles. Hasste es, als er noch hier lebte, und hasst es noch mehr, als er jetzt sieht, was er hinter sich gelassen hat.

      In der Ecke steht ein kleiner Fernseher, der so platziert ist, dass man ihn sowohl vom Küchentisch als auch von dem braunen Sofa an der Wand aus sehen kann. Das Gerät ist abgeschaltet, aber noch warm. Bessie und Alcide haben den ganzen Tag daraufgestarrt.


Скачать книгу